VW Golf R im Test
Lässt VW den Golf von der Leine?

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Bislang stand bei Volkswagen eines fest, auch beim VW Golf R: Ohne den elektronischen Rettungsanker wird nicht gespielt. Wo „ESP off“ drauf stand, war noch lange nicht „ESP aus“ drin – nur die Eingriffsschwelle war eine andere. Bei den sportlichen R-Modellen der aktuellen Spezifikation ist dies anders – oder sollte es eigentlich sein. Der Test zeigt, wieviel Spielraum VW dem Golf R lässt.

VW Golf R, Frontansicht
Foto: FACT

„ESP ist gut, eine solide Basisarbeit besser.“ Diesem Grundsatz hängen wir bei sport auto aus Überzeugung an. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer seine Hausaufgaben bei der Fahrwerksentwicklung sorgfältig erledigt hat, sollte den Mut haben, hinter dem „ESP off“-Schalter auch tatsächlich ein komplett deaktivierbares Fahrstabilitätsprogramm zu hinterlegen.

Alles andere ist Volksverdummung und führt bei all jenen, die es mit der automobilen Spielerei ernst meinen, nur zu Verärgerung. Wer den entsprechenden Knopf lange gedrückt hält, will ohne Rettungsanker toben dürfen. „So ist das“, sagt der bekennende Sportfahrer, „Ja, aber ...“, kontert die Automobilindustrie. In Zeiten, in denen Menschen prinzipiell flächendeckend vor sich selbst geschützt werden können, mutet das freie Spiel der Kräfte vielerorts längst anachronistisch an.

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Sportliche R-Modelle ohne ESP sorgen für Fahrspaß

Dies galt bislang auch bei Volkswagen ohne Wenn und Aber. Erst als die Fachpresse nachdrücklich murrte und sport auto-Chef Horst von Saurma im Rahmen des VW Golf R Supertests mit dem immerhin 270 PS starken, allradgetriebenen Golf R befand, dass „die fraglos vorhandenen fahrdynamischen Talente zum Teil leider in einem sehr dominanten ESP-Programm untergehen“, dachten die Entwicklungsingenieure aktiv über Alternativen nach.

Vielleicht – so die Überlegung – könnte man sich ja beim VW Golf R zu einem Kompromiss durchringen: Bei den Brot-und-Butter-Autos des Konzerns würde man die bisherige Politik beibehalten, bei den sportlichen Modellen der R GmbH aber eine Ausnahme von der ein Maximum an Sicherheit versprechenden Regel machen.

Intelligentes ESP greift nur selten ein

Gesagt getan: Ende Februar stellten die Verantwortlichen im schwedischen Are eine neue ESP-Abstimmung vor. Das System sei nun tatsächlich abschaltbar, lautete die erste offizielle, streng genommen – wie der vorliegende Re-Test beweist – aber nicht korrekte und inzwischen auch wieder relativierte Meldung. Die Sprachregelung nun: Das ESP ist prinzipiell schon abschaltbar, bleibt jedoch im Hintergrund mit einer Restfunktion aktiv.

Da Unfallanalysen ergeben hätten, dass Fahrer, die in die Bredouille geraten, immer mit gleichzeitigem Bremsen und Lenken reagierten, habe man bei der Neukonfiguration einen Trigger implantiert, der das ESP in genau diesen Situationen – und nur dann – wieder auf den Plan rufe. Der Praxistest auf dem trockenen Kleinen Kurs in Hockenheim bei fast schon sommerlichen äußeren Bedingungen (19 Grad Luft- und 29 Grad Asphalttemperatur) unterstreicht die Theorie.

Gezügelte Freude im Golf R in Kurven

Tatsächlich galoppiert der dank Allradantrieb mit einer perfekten Traktion gesegnete VW Golf R erst einmal frei und ungezügelt los. Doch bereits beim ersten Anbremsen der Nordkurve am Ende der Start-/Ziel-Geraden geschieht, was nach Aussage der Entwickler geschehen soll: Das späte und harte Bremsmanöver mit zum Ende hin erfolgtem Einlenken versetzt das ESP in Alarmbereitschaft: „Achtung, Fahrer verliert die Kontrolle. Sofortiger Zugriff!“

Die selektiven Bremseingriffe verhindern beim VW Golf R das vermeintlich Schlimmste. Sobald die Radnaben- und Gierwinkel-Sensoren dem System bedeuten, dass alles wieder im grünen Bereich ist, dürfen Fahrer und vierrädriger Freund dann ungehindert weiter spielen – bis zur nächsten Kurve ...

Euro NCAP verhindert zügelloses R-Modell

Unterm Strich ist der so konfigurierte VW Golf R schlussendlich eine halbe Sekunde schneller als der für den Supertest gemessene VW Golf R. Grenzenlose Freiheit sieht dennoch anders aus. Aber was will man von einem internationalen Großkonzern, der von neutralen Klassifizierungen wie Euro NCAP abhängig ist, anderes erwarten? So lange laute Piepstöne bei nicht angelegtem Gurt und demnächst vermutlich auch nicht deaktivierbare ESP-Systeme die begehrten Sterne bringen, wird es an Bord der für den Alltagsgebrauch bestimmten Autos eben bimmeln und bremsen.

Letztendlich ist das nachvollziehbar. Nicht wirklich zu verstehen ist indes, warum das ABS beim VW Golf R noch immer so grobmotorisch ans Werk geht. Schon auf trockener Strecke fallen die Regelfrequenzen des sicherheitsrelevanten, weil die Lenkfunktion auch auf der Bremse garantierenden Systems alles andere als feinfühlig aus. Bei niedrigen Reibwerten, wie beispielsweise auf nassem Untergrund, verstärkt sich das Phänomen.

Wo das ABS gerade die Bremsbacken löst, bleibt dem Fahrer dabei nicht verborgen. Die Bewegungen des Vorderwagens geben Auskunft darüber. Die Funktionsweise und Standhaftigkeit der Bremse selbst ist hingegen ebenso wie das Gesamtkunstwerk VW Golf R über jeden Zweifel erhaben – dank der soliden Basisarbeit.

Technische Daten
VW Golf R R
Grundpreis38.160 €
Außenmaße4212 x 1786 x 1461 mm
Kofferraumvolumen275 bis 1230 l
Hubraum / Motor1984 cm³ / 4-Zylinder
Leistung199 kW / 270 PS bei 6000 U/min
Höchstgeschwindigkeit250 km/h
0-100 km/h6,1 s
Verbrauch8,5 l/100 km
Die aktuelle Ausgabe
Sport Auto 03 / 2022
Sport Auto 03 / 2022

Erscheinungsdatum 04.02.2022

132 Seiten