Mercedes-Maybach S 600 Guard im Handlingstest
Überleben wo andere sterben

Er wiegt 4,6 Tonnen und muss seine Insassen unter Beschuss sicher aus der Gefahrenzone bringen: Der neue Mercedes-Maybach S 600 Guard ist jetzt mit einer Panzerung nach VR10 unterwegs. Wir haben den Sicherheits-Brocken auf glitschigem Geläuf ausprobiert.

Mercedes S 600 Guard
Foto: Daimler AG - Global Communications Mercedes-Benz Cars

Sich hinter einem umgeworfenen Tisch zu verstecken, um dem Kugelhagel seiner Angreifer zu entgehen, funktioniert nur im Film: Ein Revolver-Geschoss vom Typ .44 Magnum rast beispielsweise durch acht herkömmliche Autotüren. Nach der achten Tür ist es kaum langsamer als vor der ersten, erklärt uns Markus Nast vom Mercedes Driver Training. Die maximale Geschossenergie einer .44 Magnum beträgt 1.500 Joule - nichts gegen die mehr als doppelt so hohe Energie eines Geschosses vom Typ 7,62 × 54 mm R, welches beispielsweise mit dem russischen Scharfschützen-Gewehr Dragunow verschossen wird. Gegen diesen Scharfschützen-Beschuss ist jetzt der Mercedes-Maybach S 600 Guard mit der Zertifizierung gemäß der Schutzklasse VR10 nach der Richtlinie BRV 2009 Fassung 2 (BRV: Bullet Resistant Vehicles) gerüstet.

Unsere Highlights

Aktuell gibt es kein weiteres Serienmodell auf dem Markt, welches die Voraussetzungen für VR10 erfüllt. Die Konstrukteure der S-Klasse müssen die Panzer-Versionen ihrer Fahrzeuge von vornherein berücksichtigen, damit beim späteren Panzern beispielsweise keine Platzverluste im Innenraum hinzunehmen sind. Und die Panzerung muss zwei gegensätzliche Schutzmechanismen erfüllen: Unflexible Materialien helfen gegen Geschosse, flexible Materialien gegen Explosionen. Den Schutz vor Sprengangriffen dokumentiert die Erfüllung der Norm ERV 2010 (ERV: Explosive Resistant Vehicles, gegen Explosion widerstandsfähige Fahrzeuge), deren Prüfkriterien teilweise nicht frei zugänglich sind. Der Unterboden der gepanzerten S-Klasse besteht aus einer Stahl-Aramid-Keramik-Mischung. Was die Panzerungen im Maximum aushalten, darüber herrscht Stillschweigen - schließlich soll es potenziellen Angreifern nicht leicht gemacht werden.

Mercedes S 600 Guard
Daimler AG - Global Communications Mercedes-Benz Cars
Mit ein bisschen Übung, funktionieren Ausweichmanöver auf rutschigem Untergrund mit dem gutmütigen 4,6-Tonner sicher.

Mercedes S-Guard: Gerade noch ein Zivilfahrzeug

Klar ist auch, dass der Schutz vorrangig gegen Angriffe im zivilen Leben gedacht ist. Waffen, die beispielsweise gegen den Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 erfolgreich wären, hätten natürlich gegen ein gepanzertes Zivilfahrzeug leichtes Spiel. So erklärt auch Markus Nast, dass die S-Klasse Guard das Maximum an Panzerung darstellt, was bei einem Fahrzeug möglich ist, ohne dass es wie ein militärischer Panzer aussieht. Und in der Tat muss man schon genau hinschauen, um die gepanzerten S-Klassen von ihren herkömmlichen Modellgeschwistern zu unterscheiden: Die schwarzen Ränder von Front und Heckscheibe sind dicker, die Scheiben schimmern bei bestimmten Lichtverhältnissen bläulich. Eine Hochgeschwindikeits-Kamera filmt, wie im Beschussamt Ulm Gewehr-Munition an definierten Punkten in den Wagen einschlägt. Die Glas-Krümel-Fontainen spritzen meterweit aus den Seitenscheiben der gepanzerten Mercedes S- Klasse. Dabei darf kein einziges Glassplitterchen im Inneren des Wagens landen. Außerdem wird der Innenraum der S-Klasse mit weißen Tüchern abgehängt - wenn auf diesen Tüchern Schmauchspuren zu sehen sind, gilt der Test als nicht bestanden. Am schwierigsten ist es, die Scheiben zu panzern - und diese machen den Wagen nicht nur schwer, sie verlegen seinen Schwerpunkt auch nach oben.

Die Michelin-Räder (PAX 225-720 R490 117H) gehen wulstig in die Felge über, da zusätzliche Stahlringe dafür sorgen, dass die Reifen auch im platten Zustand nicht von der Felge rutschen. Vom Reifen verdeckt: Mitten auf der Felge sitzt ein Hartgummi-Ring, der das Weiterfahren bei zerfetzten Reifen ermöglicht - mit einem herkömmlichen Runflat-System ist diese Technik nicht vergleichbar.

Das Öffnen der jeweils 160 Kilogramm schweren Türen verlangt Kraft. Wenn der Wagen dann noch so schräg steht, dass eine Tür etwas nach oben aufgezogen werden muss, ist ein trainierter Arm gefragt. Die Sicherheits-Instruktoren warnen: Diese Türen niemals während der Fahrt öffnen. Beim Anhalten würden sie mit ihren 160 Kilogramm der Trägheit folgen und könnten die verstärkten Scharniere beschädigen. Und gleich noch eine Warnung: Wer die zirka sieben Zentimeter dicken Seitenscheiben schließt, sollte nicht seine Finger zwischen Scheibe und Rahmen stecken - einen Sicherheitsstopp gibt es nicht, die Scheiben fahren einfach bis zum Anschlag nach oben. Allerdings ist ein gepanzertes Fahrzeug mit offenen Seitenscheiben kein gepanzertes Fahrzeug mehr, womit die Fenster meistens geschlossen bleiben dürften. Der Blick durch die dicke Frontscheibe, deren Gewicht sich von 13 Kilogramm im Serienzustand auf 130 Kilogramm verzehnfacht, ist aufschlussreich: Draußen wirkt alles ein bisschen trüber und dunkler - für mehrere Schichten Spezialglas und Folie ist die Sicht aber immer noch gut. An den Rändern unten rechts und links bekommt der Fahrer ein stark verzerrtes Bild der Umgebung. Lange Nachtfahrten werden mit so einer Sicht ein bisschen anstrengend sein. Und: So robust die Scheiben nach außen auch sind, so empfindlich sind sie auf ihrer Innenseite: Die letzte innere Schutzfolie darf nicht mit chemischen Reinigungsmitteln in Kontakt kommen oder zerkratzt werden, wenn der Fahrer beispielsweise seinen Arm auf die Fensterbrüstung legt und mit seiner Uhr das Fenster berührt - dann verliert der Wagen seine Schutzklasse.

James-Bond-Gerät

Unter einer Klappe im Becherhalter wartet dann cooles James-Bond-Equipment darauf, nie eingesetzt zu werden: Per Knopfdruck lässt sich die Löschanlage aktivieren, die per Aerosol-Ausstoß effektiv Feuer unter dem Wagen löscht. Außerdem kann der Innenraum mit Frischluft aus der Flasche unter Überdruck gesetzt werden, um einem möglichen Gasangriff zu entkommen. Das optional verfügbare Frischluftsystem (9.282 Euro) sitzt unter dem Kofferraumboden, wo auch der verstärkte Wagenheber und die weißen Handschuhe für den Radwechsel untergebracht sind. Der Tank des S-Klasse Guard ist nicht gepanzert, sondern von innen mit einem Spezialmaterial beschichtet. Bekommt der Tank einen Treffer ab, verschließt dieses Material das Loch sofort automatisch. Dieser selbstabdichtende Werkstoff wird unter anderem auch bei den Tanks des Kampfhubschraubers Boeing AH-64 Apache eingesetzt.

Mercedes S 600 Guard
Daimler AG - Global Communications Mercedes-Benz Cars
Im Becherhalter versteckt: Die Bedienknöpfe für Feuerlösch-, Frischluft- und Gegensprechanlage.

Der Mercedes S 600 lang wird in seiner Guard-Variante vom gleichen Aggregat befeuert wie das ungepanzerte Modell: Der V12 leistet 530 PS und wirft ein maximales Drehmoment von 830 Newtonmetern Richtung Hinterachse. Lenkung, Achsen, Lager: Sämtliche tragenden Teile werden verstärkt, Alu-Teile werden durch Stahl ersetzt. Mit anderen Worten: Um dem durch die Panzerung massiv gestiegenem Gewicht Herr zu werden, muss noch mehr Gewicht in den Wagen. Damit liegt die S-Klasse Guard auf der Straße wie sonst kein Pkw – und wird zu einem eher behäbigen Fahrzeug. Die Beschleunigung für den Referenzsprint verschlechtert sich von 4,6 auf 6,8 Sekunden, die Vmax sinkt um 40 auf 210 km/h und der Verbrauch schnellt im Schnitt von 11,5 auf 12,9 Liter hoch.

Aber auch wenn sich das Seriengewicht von 2.185 auf 4.660 Kilogramm mehr als verdoppelt (ein Lkw vom Typ Mercedes Atego 818 wiegt zirka 5.000 Kilogramm) - doppelt so unhandlich fährt sich der dicke Panzer nicht. Dank seines Gewichts haftet er ohne Ende. Über- oder Untersteuern sollte natürlich möglichst vermieden werden, sonst folgen 4,6 Tonnen Glas und Eisen einfach der Physik. Aber ABS und ESP und die monströsen Bremsen sind auf das Gewicht des Wagens abgestimmt, so dass er sich recht gut abfangen lässt. Wie so oft, wird auch bei der gepanzerten S-Klasse das Problem nicht so sehr beim Fahrzeug, sondern eher beim Fahrer zu finden sein. Auch hier heißt es also: üben, üben, üben.

Auch wenn Ausweichmanöver mit den schweren Wagen gut funktionieren - die Sicherheitskräfte einiger Länder machen den Instruktoren gerne mal deutlich, dass sie für Menschen nicht ausweichen würden - da wird auf direktem Weg die Gefahrenzone verlassen. Willkommen in einer Welt, in der es schnell um Leben und Tod geht. In Russland und im Nahen Osten sitzt die Hauptkundschaft der überschweren Limousinen. Amerika ist auch gut dabei, schließlich bringt es die mexikanische Kidnapping-Industrie auf 290 Entführungen pro Tag. Laut den Sicherheits-Instruktoren ist es wichtig, die ersten drei bis vier Minuten nach einem Anschlag zu nutzen, um zu entkommen. Sollte der ungepanzerte Motor einen Schuss abbekommen, hält er diese Zeit noch durch. In Sachen Fahrbarkeit haben gepanzerte Limousinen übrigens einen Vorteil gegenüber gepanzerten Geländewagen oder SUV: Ihr Schwerpunkt liegt viel niedriger, was sie unanfälliger gegen Umkippen werden lässt.

Mercedes S-Guard: Schwarze Flotte

Gebaut werden die gepanzerten S-Klassen im Mercedes-Werk in Sindelfingen. Vom Auftragseingang bis zur Auslieferung dauert es neun Monate. Da die Kundschaft oft nicht so lange warten möchte, werden die Wagen vorproduziert und gelagert. Laut Markus Nast kann eine Guard-S-Klasse in jeder erdenklichen Farbe bestellt werden. Soviel zur Theorie. 99 Prozent der verkauften Panzer-Modelle werden in schwarz ausgeliefert - was die Vorproduktion vereinfacht. Zu den möglichen Extras gehört nicht nur die offizielle Aufpreisliste - viele Dinge tauchen in keinem offiziellen Katalog auf. Dinge wie eine Vorrichtung, die es ermöglicht, aus dem Wagen zu schießen, ohne dass sich die Panzerung verschlechtert. Ungewöhnlich im normalen Leben aber nicht geheim: Einen Waffen-Safe für den Kofferraum gibt es für 2.380 Euro. Für die Anschaffung von Insassen-Dummies, die potenzielle Angreifer bei der Wahl des Ziels verwirren sollen, verweist Mercedes auf Puppen- beziehungsweise Schaufensterpuppenhersteller.

Mercedes-Maybach S 600 Guard
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Ist die Seitenscheibe auch dick genug? Redakteur Gregor Hebermehl schaut sich das zirka sieben Zentimeter dicke Seitenfenster des Mercedes-Maybach S 600 Guard an.

Die Basisversion des Mercedes-Maybach S 600 Guard kostet knapp 560.000 Euro, die Käufer schaut sich Mercedes vorher genau an, um den Zugriff von Kirminellen auf die Neuwagen einzuschränken. Im Kaufpreis ist ein Fahrertraining enthalten. Allerdings: Ab Verkauf verliert Mercedes die Kontrolle über die Wagen, dann kann der Eigentümer weiterverkaufen, wie er will. Laut Mercedes hat aber die Guard-Abteilung gute Beziehungen zu ihren Kunden - viele Käufer geben ihre Wagen beim Kauf eines Neuen in Zahlung. Ebenfalls von Mercedes ab Werk als Panzer-Version erhältlich: Der G 500 Guard (Widerstandsklasse VR7 nach BRV 2009), der GLE 350 d 4Matic Guard und der GLE 500 4Matic Guard (Widerstandsklassen VR4 oder VR6 nach BRV 2009 und ERV 2010) sowie die S-Klasse als S 500 lang und S 600 lang. Konkurrenzmodelle gibt es von Audi und BMW sowie inzwischen auch von Jaguar und Bentley. Bei den gepanzerten SUVs ist Land Rover mit von der Partie. Mercedes ist aktuell der Marktführer bei gepanzerten Zivilfahrzeugen.

Eines der ersten gepanzerten Zivilfahrzeuge war der Mercedes Typ Nürburg 460. Im Februar 1931 entstand eine Pullman-Variante des Wagens mit Sonderschutzausführung: Die Seitenscheiben ließen sich durch verschiebbare Stahlplatten, die Frontscheibe durch eine herunterklappbare Stahlplatte mit Sehschlitz schützen und die Umgebung konnte zusätzlich durch ein Periskop betrachtet werden. Der Preis und der Kunde des Fahrzeugs sind nicht bekannt, die Tatsache, dass der Wagen das Steuer auf der rechten Seite hat, lässt die Vermutung zu, dass der gepanzerte Wagen nach Japan ging. Der japanische Kaiser bekam ein paar Jahre später mit einem gepanzerten Mercedes 770 K seinen ersten Zivil-Panzer. Seitdem schwören Staatsoberhäupter weltweit auf Panzerlimousinen von Mercedes.