Nio EL7
Knapp 650 PS und Rattan-Innenraum

Mit Innenraumintarsien auf Basis der Rattan-Palme, Wechselbatterien und dem eigenwilligen Sprachassistenten Nomi geht Nio eigene Wege. Die verlaufen jetzt auch eine Etage höher im ersten in Deutschland angebotenen SUV der Marke.

Nio el7 Außenansicht
Foto: Nio

Jetzt zählt es für Nio. Zwar startete man das Europa-Unterfangen mit der Limousine ET7, aber das EL7 genannte SUV muss sitzen, denn das ist die Fahrzeugkategorie, die die Europäer mehrheitlich kaufen. Was die Bewohner des alten Kontinents erwartet? Ein 4,91 Meter mächtiges E-SUV im Format eines Audi Q8 e-tron oder eines BMW iX. Plattform und Antrieb stammen vom ET7, heißt: Allradantrieb mit Permanentmagnetsynchronmotor (180 kW) vorn und Asynchronmotor (300 kW) an der Hinterachse, die Auswahl zwischen einer 75- und einer 100-kWh-Stunden-Batterie, und die Möglichkeit, den Akku nicht nur zu laden, sondern ihn an einer der drei deutschen Swap-Stationen in Zusmarshausen, Hilden und Berlin zu tauschen.

Der große E-Ratgeber

Tauschen möchte man aber am allerliebsten die Lenkung, denn die arbeitet völlig gefühlstaub, indirekt und weckt mit inkonstanter Servounterstützung keinerlei Vertrauen in die Vorderachse des 2,3 Tonners. Dabei ist nur die Anbindung an das Fahrwerk so unmotiviert. Luftfedern und Adaptivdämpfer arbeiten hinter den 21-Zoll-Options-Rädern und das richtig ambitioniert. Die Aufbaukontrolle funktioniert, der Federungskomfort ist größtenteils auf hohem Niveau, abgesehen von der gelegentlich polterigen Hinterachse, und die Wankbewegungen sind zwar in flotten Kurven spürbar aber für so ein großes Auto noch im Rahmen. Am Grenzbereich untersteuert der EL7 brav und zeigt kein tückisches Fahrverhalten. In einem Bereich von 90 Millimetern wechseln die Luftfedern die Fahrhöhe von der tiefen Einstiegsposition bis hin zur Offroadstellung.

In drei Stufen lassen sich Fahrwerk und Lenkung anpassen, der Antrieb sogar in deren fünf. Dabei heißen die Einstellungen nicht wie sonst Sport, Performance, oder Turbosause-Rückwärtssalto, sondern zeigen die Sekunden, die es braucht, um in dem jeweiligen Modus von null auf 100 km/h zu beschleunigen. 12,9 Sekunden für sensible Mägen und 3,9 Sekunden für, tja, den angesprochenen Turbosause-Rückwärtssalto. Dabei lassen die 653 PS und 850 Newtonmeter die Winterreifen an allen vier Ecken beim Start durchdrehen. Die Beschleunigung ist ansatzlos, bombastisch, aber endlich. Schon bei 150 km/h verebbt der Vortrieb spürbar, bei 200 km/h ist Schluss. Windgeräusche sind vernehmbar aber auf akzeptablem Niveau und so nähert sich der EL7 einem schon recht oberklassigen Fahrerlebnis, wenn die Assistenz da nicht einen Strich durch das Wohlfühlprogramm machen würde.

Die Piepser-Philharmoniker

Mit seinem gesamten Sensorikapparat auf dem Dach über der Windschutzscheibe, wirkt der EL7 wie ein Versuchsträger für das autonome Fahren. Spur- und Abstandhalten gelingt ihm auf der Autobahn meist gut, nur manchmal wirkt er plötzlich völlig orientierungslos und anstatt die Kontrolle an den Fahrer abzugeben, pendelt er hektisch zwischen den Fahrbahnlinien hin und her. Deaktiviert man den "Pilot" genannten Assistenten, bleibt noch der Spurverlassenswarner. Der zupft, sofern die niedrigste Empfindlichkeit eingestellt ist, gelegentlich etwas im Lenkrad, regelt aber insgesamt sauber. Nur untermalt er jede Annäherung an die Linie mit einem Signalton, der sich auch nicht deaktivieren lässt, ohne den Spurhalter selbst auszuschalten. Aktiviert man den Piloten, piepst es, wird er automatisch deaktiviert wegen eines Spurwechsels, piepst es, übernimmt er danach wieder die Kontrolle, genau, piepst es ebenfalls. All diese Warntöne sind automatisch an die Systeme gekoppelt.

Abschalten oder Pieporchester: der Mittelweg fehlt. Und um akustisch auch das gesamte Spektrum abzudecken, mischt sich noch Nomi ein. Der emojihafte Sprachassistent auf dem Armaturenbrett, der, selbst wenn ihn im Menü stumm schaltet, stets die kleinste Geschwindigkeitsübertretung ermahnt und bittet, bei Bedienung des Touchscreens während der Fahrt, aufmerksam zu sein und nach vorn zu schauen. Hier kann der EL7 seinen chinesischen Ursprung nicht verbergen, schließlich redet dort jedes Gadget mit dem Nutzer.

Nomi weiß Bescheid

Dabei ist Nomi in erster Linie eines: eine fähige Sprachsteuerung, die weniger roboterhaft mit dir redet als manch ein Konkurrent. Dabei beeindruckt das rotierende Ding auf dem Armaturenbrett weit mehr mit der Tiefe an Fahrzeugfunktionen, die man über natürliche Sprachbefehle steuern kann, als die optische Untermalung des gerade gewählten Musikgenres durch kleine Animationen. Schiebedach öffnen, Fahrmodus ändern, Ladeklappe öffnen: kein Problem für das cloudbasierte System. Nur Witze erzählt das Armaturenbrett-Emoji nicht. Mit jedem Befehl soll Nomi dazu lernen. Wer seine Daten aber nicht ganz so hemmungslos preisgeben will, kann dies über einen Privatsphäre-Modus einschränken.

Die recht umfangreichen Fähigkeiten bei der Fahrzeugsteuerung sind notwendig, da man sich bei der weiteren Bedienung stark an Tesla orientiert hat. Ein zentraler Touchscreen, ein Minimum an haptischen Tasten und multifunktionale Bedienelemente auf dem Lenkrad. Spiegel- und Lenkradeinstellungen müssen in vier Schritten im Untermenü ausgewählt und dann mit den Lenkradtasten justiert werden. Immerhin lassen sich Profile anlegen, die die Position an den Nutzer koppelt. Der zentrale Touchscreen reagiert schnell, löst hervorragend auf, könnte aber manche Bedienflächen etwas größer darstellen. Die Menüführung ist zwar an sich logisch, Einstellungen sind aber mit viel Scrollerei verbunden, was zu hoher Ablenkung führt – und zu vielen ungefragten Kommentaren von Nomi. Auf Zieleingaben, die die Restreichweite übersteigen, schlägt der EL7 Ladestopps vor, die sich in die Route einbauen lassen. Die Ladeziele wirken allerdings oft relativ hoch, die Ladestopps damit recht lang. Mehr, dafür kürzere Stopps sind bei den meisten Fahrzeugen der schnellere Weg.

Einer zum Anfassen

Ein echtes Highlight ist der Innenraum trotz der etwas vertrackten Bedienung. Nio setzt auf einen vollständig tierfreien Innenraum mit einer künstlichen Lederalternative namens Haptex. Die Lederalternative wurde von BASF entwickelt und fühlt sich angenehm feinporig und weich an. Die Sitze sind bequem, bieten aber keinen ausgeprägten Seitenhalt, können dafür aber massieren. In den Türen und auf dem Armaturenbrett findet sich geschäumter Kunststoff, am Himmel und zum Teil in den Türen raulederartiges Mikrofasermaterial. Als Dekor wird Karuun verwendet, ein aus der unkrautartigen Rattanpflanze hergestelltes Furnier, das mit seiner besonderen Maserung sich von typischen Holzintarsien abhebt. Alle Materialien sind exzellent verarbeitet, weder auf üblen Straßen noch bei voller Dröhnung des toll klingenden Dolby-Atmos-Soundsystems vibriert oder klappert es. Die Türen ziehen sich die letzten Millimeter via Soft Close selbstständig in Schloss, die Teppiche in Fond und Kofferraum wirken hochwertig. Die Schiebeklappe vor dem Schminkspiegel klackt via Magnetsystem taktil in einem Rutsch nach rechts. Schönheitsfehler? Der Totwinkel-Warner fiel auf der Probefahrt aus. Auch ein Neustart erweckte ihn nicht wieder zum Leben. Und auch einige holprige Übersetzungen und vereinzelte Rechtschreibfehler im Infotainment wirken nicht ganz premium. Besonderen Luxus bietet der Beifahrersitz mit einer Liegefunktion, zu der sich eine Beinstütze gesellt, die nach oben klappt, und eine Fußstütze, die sich im Fußraum ausfährt. Ein Handschuhfach wäre vermutlich praktischer gewesen, aber zumindest dürften Freunde des Ladenickerchens so voll auf ihre Kosten kommen.

Im Fond geht es weiter. Feudales Platzangebot, weiche Lederalternative und sogar eine elektrische Lehnenverstellung und eine Lordosenstütze. Über einen kleinen Touchscreen können Klima- und Musikeinstellungen vorgenommen werden. Alternativ können auch die Fondpassagiere Nomi um Hilfe oder Einstellungsbeistand bitten. Der Kofferraum bietet praktische Unterflurfächer und ist mit 658 Litern Volumen üppig dimensioniert. Die Lehnen falten sich auf Hebelzug am Sitz – hier wäre eine Fernentriegelung noch besser – zu einem ebenen Ladeboden, der den Kofferraum über 1.500 Liter Volumen beherbergen lässt. Mit der serienmäßigen, ausklappbaren Anhängerkupplung gehört der EL7 zu den wenigen elektrischen Zugfahrzeugen. Bis zu 2.000 Kilogramm sind möglich.

Kein Stromverächter

Dann sind die 509 Kilometer WLTP-Reichweite aber im Nu Geschichte. Mit 75 kWh im Boden sind im WLTP-Zyklus nur noch 394 Kilometer drin. Beide Werte sind theoretischer Natur. Auf der Probefahrt pendelt der Verbrauch zwischen 25 und 30 Kilowattstunden bei einem sehr geringen Autobahnanteil und ein paar Zwischensprints. Warum das Tachodisplay neben dem Akkustand die verbleibende Restreichweite basierend auf dem WLTP-Wert anzeigt, weiß wahrscheinlich nicht mal Nomi. Immerhin berechnet der Bordcomputer auch eine Reichweite auf Basis der aktuellen Fahrweise. Weit über 350 Kilometer dürften trotz eines cw-Werts von 0,26 selbst mit dem großen Akku nicht drin sein. Die Ladeleistung lässt speziell bei der großen Batterie eher zu wünschen übrig. Die 75-kWh-Batterie lädt mit bis zu 140 kW in 30 Minuten von 10 auf 80 Prozent SOC, die größere 100 kWh-Batterie nur mit maximal 126 kW in 40 Minuten von 10 bis 80 Prozent. Grund hierfür ist das Packaging der beiden Batterievarianten im selben Gehäuse, damit auch große und kleine Batterien getauscht werden können. Daher besteht die kleine Variante mehrheitlich aus Lithium-Eisenphosphatzellen, vermischt mit ein paar NMC-Zellen. Bei der großen Variante ist es andersherum: die kompakteren NMC-Zellen machen die Mehrheit aus. Eine 150 kWh-Variante auf Halbfeststoff-Zellenbasis soll 2024 folgen.

Bis dahin kann der EL7 abonniert oder gekauft werden. Los geht es ab 73.900 Euro, wenn die Batterie für 169 (75 kWh) beziehungsweise 289 Euro (100 kWh) pro Monat gemietet wird. Im Kauf kosten die Batterien 12.000 beziehungsweise 21.000 Euro extra. Damit entfällt zudem die Möglichkeit, die Akkutausch-Stationen zu nutzen. Extras gibt es kaum: Lediglich ein paar Lacke, sowie die 21-Zoll-Optionsräder kosten extra. Alles Weitere an Luxusausstattung ist bereits inklusive, genau wie die regelmäßigen Over-the-air-Updates. Und wem der EL7 mit seinen riesigen Ausmaßen einfach zu viel ist: Im Frühjahr bringt Nio mit dem ET5 eine Fließhecklimousine als direkten Konkurrenten zum Tesla Model 3 auf den Markt. Ab da zählt es abermals umso mehr für Nio.

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Fazit

Eines muss man dem Nio EL7 lassen: Er fühlt sich teuer, hochwertig und bei den großen Premium-SUV absolut zuhause an. Die Leistung ist üppig, das Fahrwerk stimmig. Bedienung, Assistenzsysteme und die völlig gefühlstote Lenkung sind aber auch echte Nachteile. Trotzdem wächst mit Nio eine Premiummarke heran, die von den etablierten Herstellern sehr ernst genommen werden muss.

Technische Daten
Nio EL7 100 kWh Nio EL7 75 kWh
Grundpreis94.900 €85.900 €
Außenmaße4912 x 1987 x 1720 mm4912 x 1987 x 1720 mm
Kofferraumvolumen570 bis 1545 l570 bis 1545 l
Höchstgeschwindigkeit200 km/h200 km/h
Verbrauch23,0 kWh/100 km0,0 kWh/100 km