Formel E São Paulo 2023
Kurioser Dreifachsieg für Jaguar

Nach einem schmerzhaften ersten Saisonviertel hat sich Jaguar in Brasilien eindrucksvoll zurückgemeldet. Der Werksfahrer Mitch Evans siegte vor dem Kundenpiloten Nick Cassidy und seinem Teamkollegen Sam Bird. Für Porsche war der Ritt durch das Sambódromo häufig frustrierend, aber final versöhnlich.

Formel E - São Paulo 2023 - Mitch Evans - Jaguar
Foto: Motorsport Images

Die Formel E wird von einem Fluch heimgesucht. Seit dem ersten London-Lauf im Jahr 2022 konnte kein Pole-Setter mehr den besten Startplatz in einen Sieg ummünzen. Einige scheiterten bei dem Versuch gar dramatisch, nur recht wenige reisten schlussendlich zufrieden ab. Trotz dieser Umstände reagierte der Vorjahresmeister Stoffel Vandoorne (DS Penske) recht angetan auf seinen Erfolg im finalen Quali-Duell von São Paulo. Angesichts seines katastrophalen Saisonstarts resümierte er glücklich: "Das fühlt sich extrem gut an."

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Vandoorne verwies für die drei Extra-Punkte den Kapstadt-Triumphator António Félix da Costa (Porsche) auf den zweiten Platz. Mitch Evans (Jaguar), Edoardo Mortara (Maserati-DS) und Nick Cassidy (Envision-Jaguar) rundeten die Top 5 ab. Wegen einer Fünf-Platz-Strafe aus Südafrika belegte der spätere Dritte, Sam Bird (Jaguar), nur den zehnten Rang.

Abseits von da Costa erlebte Porsche ein Debakel. Der WM-Führende Pascal Wehrlein qualifizierte sich ebenfalls mit einer Strafe auf Rang 18. Die Andretti-Kunden Jake Dennis und André Lotterer konnten mit den Plätzen 14 und 21 ebenso wenig glücklich sein. Bester Deutscher war – auch samt einer Strafe im Gepäck – Maserati-Mann Maximilian Günther auf Position 9.

Formel E - São Paulo 2023 - Stoffel Vandoorne - DS Penske
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Der amtierende Meister Stoffel Vandoorne haderte bislang mit der Gen3-Ära. Dank intensiver Simulator-Arbeit konnte er in der Form der Brasilien-Pole einen ersten Erfolg feiern.

Oval-Racing mit Bremsschikanen

Der 2,933 Kilometer lange Kurs im Norden von São Paulo sorgte noch vor der ersten Runde für strategisches Kopfzerbrechen. Seine längeren Vollgas-Passagen erzwangen nicht nur ein smartes Energiesparen. Darüber hinaus forderten mehrere harte Bremspunkte eine gute Abstimmung der in der Formel E komplexen Verzögerung. Vor dem Rennen wurde so gewitzelt, dass die Strecke ein Oval mit Bremsschikanen sei und so "Pack-Racing" wie beim Daytona 500 der NASCAR provoziere. Schlussendlich war die Realität nicht weit davon entfernt.

Direkt ab der Rennfreigabe brach Chaos über das legendäre Sambódromo herein. Überall im Feld wurde erbittert um eine gute Ausgangslage für die Windschatten-Schlachten gekämpft. Unter anderem stieg der auf P8 gestartete Nissan-Fahrer Norman Nato im engen ersten Kurvenkomplex in die Luft auf. Auch Mortara verspielte früh durch einen Frontkontakt seine Chancen. Stoffel Vandoorne verblieb derweil an der Spitze und wurde so unfreiwillig zum Windschattenspender.

Aus dieser misslichen Lage entkam er zwar nach wenigen Runden dank seiner ersten Attack-Mode-Aktivierung. Doch kurz danach sprang er wieder an die Spitze zurück. Da Costa und Co. schienen dem Pech-geplagten Belgier die Spitzenarbeit fast übereifrig zu gönnen. Eine erste Safety-Car-Phase nach acht von ursprünglich 31 geplanten Runden beruhigte das hektische Geschehen der Startphase. Der Nissan-Pilot Sacha Fenestraz war mit Technik-Ärger gestrandet und stürzte die Japaner vollkommen in den Frust.

Formel E - São Paulo 2023
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Im Sambódromo do Anhembi tanzten diesmal die Heckpartien der Formel E. Vor zehn Jahren nutzte die IndyCar bereits die Tribünenstraße für Stadtrennen.

Porsche-WM-Anwärter im ungewollten Clinch

Pascal Wehrlein konnte dank des Chaos bis zu diesem Zeitpunkt auf den zehnten Rang vorfahren. Mit Günther und René Rast (McLaren-Nissan) lagen zwei weitere Deutsche vor ihm. Hinter dem WM-Führenden hatte sich Dennis für den Restart positioniert – Wehrleins bis dahin größter Titel-Rivale. Während Cassidy dank Attack-Mode die Führung übernahm, entstand in diesem engen Paket der Grund für die zweite Neutralisierung: In der 15. Runde hatte Dan Ticktum (NIO 333) Dennis in Wehrlein geschoben, wodurch der Andretti-Pilot abstellen musste. Die Rennleitung um Scot Elkins nutzte die Gelegenheit zur Bergung unzähliger Trümmer.

Im Anschluss an den sechsten Saisonlauf schimpfte der ausgefallene Dennis: "Ich bin von Ticktum sehr genervt. Er muss endlich lernen, auch nach vorne und nicht immer nur in die Rückspiegel zu schauen." Der angezählte Rivale gab sich demütig, aber schob seinen Fauxpas auf die rutschige Bremszone. "Sowas hatte ich in meiner ganzen Karriere noch nicht!"

In den ersten Umläufen nach der zweiten Wiederfreigabe (19. Runde) wählten viele Piloten aus der Spitze den Weg in die Attack-Mode-Schleifen. Unter anderem zog der portugiesische Energiesparer António Félix da Costa somit das Tempo im Kampf um den Sieg wieder an. Seine Rolle im wilden Positionsgetausche musste wegen eines Verbremsers in Kurve 1 allerdings vorerst neu vergeben werden. Nach 27 von 35 Runden – vier zusätzliche durch die beiden SC-Phasen – bildeten Cassidy, Evans, Vandoorne, Jean-Éric Vergne (DS Penske) und Bird die Top 5.

Formel E - São Paulo 2023 - António Félix da Costa - Porsche
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António Félix da Costa erlebte ein hektisches Gastspiel in Brasilien und musste erneut nach einem Schnitzer zur Rettungstat schreiten.

Jaguar will Comeback im Titelkampf

Als die letzten Zusatz-kW-Minuten abgerufen wurden, lagen Cassidy und Evans in einer soliden, von Jaguar elektrifizierten Doppelführung. Dahinter fuhr Vandoorne aber noch auf Rang 3. Der Belgier musste sich allerdings schnell Bird, da Costa und Vergne beugen. Die Jaguar-Dreifachführung war so perfekt. Wie sich diese final formte, sollte bis in die letzten Kurven offen bleiben. Denn erst war Evans zu Beginn der Overtime auf Platz 1 gesprungen und dann wenige Meter vor Schluss fast wieder von Cassidy eingefangen worden. Der Envision-Kunde ließ dem Werksmann schließlich den Vortritt.

Cassidy erzählte: "Das war die Formel E in ihrer besten Form! Ich bin glücklich mit meinem dritten Podium in Folge. Ich hätte etwas Herausragendes auspacken müssen, um Evans noch zu schlagen. In Anbetracht der Umstände habe ich alles für ein bestmögliches Ergebnis gezeigt."

Sein siegreicher Landsmann resümierte: "Es ist das perfekte Timing gewesen und hat dem Team solide Punkte eingebracht. Alle in der Mannschaft waren heute brillant. Die viele Vorbereitung und Simulation hat sich ausgezahlt." Ebenfalls freudig zeigte sich Teamkollege Bird, der Evans nach etwas Wartezeit im Parc fermé herzte. Evans musste nach dem Zieleinlauf sein Auto neu starten.

Formel E - São Paulo 2023 - Mitch Evans - Jaguar
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Rein zufällig fand Mitch Evans die perfekte Feierkulisse vor – sehr zur Freude des Party-Tiers.

Europa-Rennen als Gamechanger?

In rund einem Monat stehen die nächsten zwei Läufe in Berlin (22./23. April) an. Für die Hauptstadt planen gleich mehrere Teams größere Soft- und Setup-Updates. Unter anderem erhoffen sich die Rückkehrer von Abt, die in Brasilien ebenfalls in allerlei Pech verwickelt waren, so einen Neustart der Saison. Pascal Wehrlein, der mit 86 Zählern weiterhin deutlich die WM anführt, kündigte ebenfalls an, die Pause für eine tiefere Analyse zu nutzen.

Obwohl der Deutsche durch einen hart erkämpften siebten Rang und den Dennis-Ausfall etwas Puffer aufbauen konnte, formte sich ein dichtes Verfolgerfeld. Jake Dennis (62), Nick Cassidy (61), Jean-Éric Vergne (60) und António Félix da Costa (58) werden bei einem weiteren Fehler schnell in Schlagdistanz sein. Und auch die beiden Jaguar-Werkspiloten haben nun gezeigt, dass das Material für eine größere Aufholjagd passt. Etwas Glück braucht hingegen bereits der zweitbeste Deutsche René Rast, der nach P9 in São Paulo 40 Punkte bilanziert.

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