Die größten Dramen seit 1999
Quelle douleur – welch Schmerz

24h Le Mans 2023

Fliegende Mercedes, in Rauch aufgehende Peugeot und Tränen in der Toyota-Garage. Die letzten 25 Jahre in Le Mans waren voller Dramen und prägten einen maßgeblichen Teil der Neuzeit des 24-Stunden-Klassikers an der Sarthe.

Toyota TS050 Hybrid - Le Mans 2016
Foto: xpb

Drama an sich ist nichts Grausames. Griechisch steht es für "Handlung". Aufgeführt auf Theaterbühnen, fand es seinen Weg in unsere Gesellschaft. Erst Protagonisten füllen es mit Gefühlen wie Schmerz oder Trauer – und prägen unsere heutige Wahrnehmung. Dementsprechend passt es nur allzu gut, dass sich in Le Mans – der prestigeträchtigsten Bühne des Rennsports – mit seinen (tragischen) Helden zahlreiche Dramen abspielten. Emotionen gehören zu diesem Rennen wie die Trikolore zur Grande Nation.

Unsere Highlights

Während die Dramen der Vergangenheit häufig nur über das Radio oder lediglich über Erzählungen den Weg zu den Enthusiasten fanden, werden sie heute durch das Fernsehen und das Internet in Echtzeit zu den Fans getragen. Es heißt: Mittendrin statt nur dabei. Den Startpunkt des modernen Le-Mans-Gefühlschaos markiert das bis heute wahrscheinlich spektakulärste Drama.

Toyota GT-One - Mercedes-Benz CLR - Le Mans 1999
Motorsport Images
Toyota und Mercedes starteten 1999 mit Siegeshoffnungen in Le Mans – am Ende erlitten beide schmerzhafte Niederlagen.

Die Mercedes-Misere

Im Jahr 1999 füllte sich die Theaterbühne mit gleich fünf Werken. Audi, BMW, Mercedes, Nissan und Toyota träumten vom Coup an der Sarthe. Letztere stellten mit dem legendären GT-One das schnellste Paket. Aber auch Mercedes hatte einen siegfähigen Renner aus Stuttgart nach Le Mans geschickt. Doch der CLR hatte ein signifikantes Problem. Die Konstruktion der Silberpfeile war anfällig.

Mercedes trimmte den Unterboden stärker auf Abtrieb als die Konkurrenz. Der schwäbische Rennwagen konnte kleinere Flügel fahren und hatte einen hohen Topspeed. Doch die buckelige und teils hügelige Piste in Le Mans sorgte für schlagartig veränderte Abtriebsverhältnisse. Gerade das Aus- und Einfahren bei Windschatten war für die Fahrzeuge gefährlich. Das führte zu mehreren Horrorunfällen auf der Highspeed-Strecke. Aus Chronistenpflicht sei gesagt: Die Sportwagen-Ära Ende der 90er- und Anfang der 00er-Jahre sah mehrmals abhebende Rennautos. Yannick Dalmas legte 1998 in Road Atlanta mit seinem Porsche 911 GT1 den Blow-over hin, als dem Auto auf einem Hügel Flügel wuchsen und er in die Luft aufstieg. 2000 schaffte Bill Auberlen im BMW V12 LMR an derselben Stelle den Rückwärtssalto.

Sie gingen alle fliegen – aber keiner so hoch und weit wie der Stern in Le Mans 1999. Im Qualifying am Donnerstag hob Mark Webbers CLR vor der Indianapolis-Kurve ab. Dank Ausnahmeregelung durfte Mercedes den Wagen wieder aufbauen. Zusätzliche Windleitbleche an der Frontpartie sollten für mehr Abtrieb sorgen. Es nützte aber nichts. Der Australier nahm am Samstag im Warm-up die nächste unfreiwillige Flugstunde, als er auf der Kuppe der Hunaudières-Geraden aufstieg und sich überschlug. Erneut ohne Verletzte.

Dennoch schickte Sportchef Norbert Haug die verbliebenen Sternenjäger ins Rennen. Für die Fahrer galt, auf den Bodenwellen den vorherfahrenden Autos nicht zu dicht zu folgen. Vier Stunden ging das gut. Dann kam es zum finalen Flug. Peter Dumbreck verschwand mit dem Mercedes im Wald, nachdem er in der Anfahrt zu Indianapolis in die Luftverwirbelungen eines Toyota geraten war. Wie durch ein Wunder entstieg Dumbreck dem Wrack nahezu unverletzt. Haug beugte sich der Realität: Er zog den letzten Mercedes-Benz CLR zurück. Es war bis heute der letzte Auftritt der Stuttgarter in Le Mans.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogenen Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzbestimmungen.

Die Toyota-Trauer

Auch sonst traf 1999 die "deutschen" Hersteller mit voller Wucht. Der in Köln gebaute Toyota GT-One hatte den besten Speed. Doch Reifenschäden vereitelten den Triumph. Pole-Setter Martin Brundle musste nach 90 Rennminuten wegen eines Reifenplatzers an der Nummer 1 alle Sieghoffnungen begraben. Noch dramatischer schlug das Reifenpech bei der Nummer 3 zu. Der Michelin-Pneu an Ukyo Katayamas Toyota ging in der letzten Rennstunde ein. Etwas überraschend kämpften der Japaner sowie seine beiden Landsmänner Keiichi Tsuchiya und Toshio Suzuki mit dem BMW V12 LMR (#15) um den Sieg. Am Ende rettete das Nippon-Trio immerhin Rang zwei. Zu dieser Zeit war der GT-One mit der Nummer 2 schon lange ausgeschieden. Thierry Boutsen flog in der 173. Runde ausgangs Tertre Rouge ab. Der Belgier verunglückte schwer und knackste sich einen Rückenwirbel an.

Aber auch BMW musste leiden. Zwar gewannen die Münchner mit der #15 das Rennen, doch der führende 17er-Wagen mit JJ Lehto am Steuer crashte am Sonntagvormittag. Mit dem zerschellten BMW V12 LMR in der Leitplanke waren die Hoffnungen auf einen Doppelsieg von BMW perdu. Die letzte Ausgabe im vergangenen Jahrtausend setzte den Maßstab für die Dramen der Neuzeit.

Die Peugeot-Pein

Die nächsten Jahre fanden sich nur wenige Akteure für das Theaterstück an der Sarthe. Audi dominierte den Klassiker als Solo-Protagonist. Lediglich Nebendarsteller Pescarolo wollte eine Hauptrolle, doch Audi verteilte keine Almosen für einen erhofften Heimsieg. Erst mit der Ankunft Peugeots 2007 nahm das 24h-Rennen wieder Fahrt auf. Der Autoriese hatte einen geschlossenen Prototyp in den Kampf geschickt. Auf Anhieb war der 908 HDi FAP konkurrenzfähig und entschied das Qualifying für sich. Im ersten Anlauf musste sich die Truppe um Technikdirektor Bruno Famin aber dem Audi R10 TDI beugen.

Im zweiten Jahr sollte der Triumph her. Wieder dominierte Peugeot die Qualifikation, doch dann kam das Drama. Die Antagonisten aus Peugeots Sicht waren das Trio Allan McNish, Tom Kristensen, Rinaldo Capello und der Regen. Der Rennbericht skizzierte damals passend einen Terrier McNish, der sich in die 908-Waden verbiss. So blieb die Nummer 2 stets in Schlagdistanz.

Als am Sonntagmorgen um 4.12 Uhr der Himmel seine Schleusen öffnete, blies Kristensen zur Attacke. Große Fleischstücke riss er aus dem Vorsprung des führenden 7er-Peugeot. Der Däne brachte den R10 TDI komfortabel in Führung. Die kürzere Standzeit an den Boxen trug ihr Übriges dazu bei, dass Peugeot 2008 ein Rennen verlor, das sie vom Speed her hätten gewinnen müssen. Ein Jahr später erlöste Peugeot sich selbst. Der dominante Doppelsieg über Audi war ganz nach dem Gusto der lange geduldigen französischen Fans.

Doch auf den glückstrunkenen Höhenflug folgte 2010 der technische Tiefschlag. Drei der vier eingesetzten 908 verrauchten an einer Motoren-Epidemie. Zwar zauberte Peugeot wieder einen überlegenen Speed auf den historischen Asphalt, doch die schwächelnde Zuverlässigkeit streckte die Franzosen nieder.

Nach 16 Stunden ging der führende 908 mit der Nummer 2 ein – Motorschaden. Die #1 und der privat eingesetzte Peugeot des Oreca-Teams erlitten dasselbe Schicksal. Kolbenschäden zwangen die 908 in die Knie. Den Wagen mit der #3 verlor Peugeot bereits nach wenigen Stunden wegen eines Aufhängungsschadens. Sportchef Olivier Quesnel tröstete in der Oreca-Box nach dem letzten Motorschaden den gebrochenen Teamchef Hugues de Chaunac und zog nach dem dramatischen Verlauf wie ein geprügelter Hund von dannen. Ein tiefer Fall für die Löwen. Somit war der Weg zum Audi-Dreifachsieg frei.

Peugeot 908 - Le Mans 2010
Motorsport Images
Peugeot verlor 2010 ein Rennen, das sie von der Pace her hätten gewinnen müssen. Doch drei der vier gestarteten 908 schieden mit Motorschäden aus.

Die Audi-Agonie

2011 kam es zum letzten Akt im Drama Audi vs. Peugeot. Die Deutschen wollten zeigen, dass sie nicht nur abstauben können, und schickten mit dem R18 das erste Mal seit 1999 einen geschlossenen Prototyp. Peugeot modifizierte seinen Renner nochmals und wollte den Rivalen entthronen.

Audi war erstmals seit Beginn des Diesel-Duells 2007 flotter als Peugeot. Doch im Rennen schien das Pendel Richtung Frankreich auszuschlagen. Nach nur 50 Minuten zerstörte Allan McNish seinen Rennwagen. In einem aggressiven Überrundungsmanöver kurz hinter dem Dunlop-Bogen berührte die #3 einen GT-Ferrari. Der Audi zerschellte im Reifenstapel, der ihn knapp abwehrte. Allen voran die Fotografen und Zuschauer hatten Glück, dass die Trümmer des Geschosses sie nicht erschlugen. Drei Meter hinter dem Aufprall saßen die Fans hinter einem Zaun. McNish blieb unverletzt. Audis Armada schrumpfte auf zwei Autos. Ihre Trumpfkarte war der Speed, doch die 908er waren sparsamer.

Audi R18 - Le Mans 2011
xpb
Allan McNish zerstörte 2011 seinen R18 bereits zu Rennbeginn. Der Schotte kollidierte mit einem GT-Ferrari – McNish entstieg dem Wrack unverletzt.

In der Nacht ereignete sich der nächste Horrorunfall. Ein langsamer GT-Ferrari übersah in der Anfahrt zu Indianapolis Mike Rockenfeller im 1er-Audi. Der Deutsche schlug bei 300 km/h brutal in die Leitplanken ein. Der Aufprall atomisierte den R18 bis auf das Monocoque. Wie durch ein Wunder überlebte Rockenfeller den Crash. Die Moral bei Audi war am Boden – Peugeot hatte das Momentum. Doch sie nutzten es nicht.

Unglückliche Reifenwahlen und das stumpfe Weiterfahren auf derselben Strategie spielte dem Audi-Einzelkämpfer in die Karten. Den 24-stündigen Sprint entschieden vor allem Benoît Tréluyer und André Lotterer zugunsten der vier Ringe. Nach 355 Runden überquerte die Nummer 2 mit 13,854 Sekunden Vorsprung als Sieger die Ziellinie. Umgerechnet sind das lächerliche 0,016 Prozent – was für eine Dramatik.

Der Porsche-Pokal

Das Jahr 2012 sollte die Topklasse mit Hybrid-Power revolutionieren. Politischer Druck und miese Zahlen führten zum Ausstieg von Peugeot, Platzhirsch Audi blieb trotzdem nicht allein – Toyota kehrte nach einer zähen Formel-1-Episode zurück. Die Japaner erbten so die mangels Erfahrung undankbare Rolle des medial gepushten Jägers. Der Speed überraschte am Samstag, doch dann betrat das alte Toyota-Drama die Bühne: Anthony Davidson kollidierte vor der Mulsanne-Kurve mit einem GT-Ferrari, überschlug sich und brach sich die Rückenwirbel T11 und T12. Der 7er-Toyota hatte selbst ein Tête-à-Tête und erlitt nach zehneinhalb Stunden einen Motorschaden.

Ein Jahr später stand die Zeit plötzlich still. Der Däne Allan Simonsen prallte mit seinem Aston Martin Vantage GTE ausgangs Tertre Rouge in die Leitplanke. Der dahinter stehende Baum leitete die Energie kaum ab. Simonsen war der erste Tote bei den 24h von Le Mans seit Jo Gartner 1986. Über Audis zwölftem Gesamtsieg lag ein dunkler Schatten.

Allan Simonsen - Aston Martin - Le Mans 2013
xpb
Allan Simonsen starb 2013 während des 24h-Rennens. Der Däne verletzte sich bei einem Unfall tödlich. Er war der erste Tote seit Jo Gartner 1986.

Die Hybrid-Ära lockte auch Porsche 2014 zurück nach Le Mans. Das Wettrüsten in den folgenden Jahren führte zu mehreren Dramen. Vor allem Toyota schien verflucht zu sein. Die Pace des TS040 Hybrid war stark, doch ein Kurzschluss sorgte um 4.59 Uhr am Sonntagmorgen bei der Nummer sieben für einen Brand in der Motor-ECU. Das Schwesterauto eliminierte sich bereits in der zweiten Rennstunde durch einen Leitplankenkuss. Audi war zur Stelle und konnte trotz eigener Probleme den 13. und bis heute letzten Sieg einfahren – und das bei nur 16 Starts. Chapeau!

Gilt 1999 als Urdrama der Moderne, markiert 2016 den grotesken Klimax. Lange schien das Schicksal des ewigen Zweiten ein Ende zu finden. Toyota hatte mit dem TS050 Hybrid ein Siegerfahrzeug entworfen. Anthony Davidson, Sébastien Buemi und Kazuki Nakajima setzten den Speed im Rennen um. Porsche kämpfte zwar verbissen, doch die Nummer fünf lag in den letzten Minuten auf Siegkurs. Porsche hatte nach einem Reifenschaden der #2 die Niederlage akzeptiert, als Nakajima 7.30 Minuten vor Ablauf der Zeit in die Box funkte: "Ich verliere Leistung!"

Der nächste Funkspruch lief über den Äther in die Wohnzimmer: "Ich kann nicht beschleunigen, ich habe keine Leistung!" Neel Jani im 2er-Porsche prügelte den 919 hoffnungsvoll über den Kurs. 206 Sekunden vor dem Ende das Unglaubliche: Der TS050 rollte auf der Start- und Zielgeraden aus – eine Runde vor Schluss.

Toyota TS050 Hybrid - Le Mans 2016
xpb
Kazuki Nakajima rollte 2016 in Führung liegend aus. 206 Sekunden fehlten dem Japaner und Toyota zum ersten Le-Mans-Sieg. Neel Jani überholte Nakajima in seinem Porsche auf der Start- und Zielgeraden.

Jani zog cineastisch vorbei und gewann. Während in der Porsche-Box kindlicher Jubel ausbrach, flossen bei Toyota Tränen. Ein Haarriss in der Verbindung zwischen Turbolader und Ladeluftkühler zerstörte den Traum. Selbst Hollywood wäre ob des Drehbuchs neidisch. Porsches Epilog 2017 wiederholte die Geschichte. In der Nacht schieden zwei Toyota innerhalb von acht Minuten aus. Ein Kupplungsschaden an der #7 und ein Unfall mit einem LMP2-Rennwagen bei der #9 zerstörten den Traum vom ersten Toyota-Sieg im 19. Versuch. Porsche gewann nach einem frühen Reparaturstopp und wendete gerade noch die Blamage eines LMP2-Gesamtsiegs ab. Der dritte Toyota war wegen eines Hybridproblems früh raus aus dem Kampf um den Sieg.

2023 treten wie im modernen Urdrama 1999 fünf Werke an. Die Zeit für neue Handlungen ist gekommen.