Audi R15: Vorbereitungen auf die 24h von Le Mans 2010
Audis langer Weg nach Le Mans

Wer in Le Mans gewinnen will, darf nichts dem Zufall überlassen. Höhepunkt des umfangreichen Testprogramms für den Audi R15 TDI Plus ist der zweite der beiden 30-Stunden-Tests. Wir haben die Ingolstädter beim Dauerlauf begleitet.

Audi R15 TDI Plus
Foto: Audi

Qualität kommt von Qual. Das Motto vieler Marathonläufer könnte auch für die Langstrecken-Spezialisten des Motorsports gelten. Wobei hier eher das Material gequält wird als die handelnden Personen. Zur Vorbereitung auf das wichtigste Langstreckenrennen der Welt, die 24 Stunden von Le Mans, steht bei Audi ein wahres Mammut-Testprogramm auf dem Dienstplan. Zum Beispiel zehn dreitägige Aerodynamik-Tests. "Da wird den ganzen Tag im Kreis gefahren, mit genau definierter Geschwindigkeit, rund 220 km/h", sagt Sportchef Wolfgang Ullrich. "Ziemlich langweilig für die Fahrer."

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Die Königsdisziplin im Vorbereitungsprogramm sind die beiden Mammut-Tests über die Dauer von 30 Stunden, im März in Sebring/USA und im April im südfranzösischen Circuit Paul Ricard. "Da soll alles rennmäßig ablaufen", sagt Ullrich. "Die Fahrer sollen dabei richtig Gas geben und die Boxenstopps so schnell wie möglich erledigt werden."

Paul Ricard: Lange Gerade, wenig Hasen

Früher rückte Audi in Jerez aus, vor ein paar Jahren zog man um nach Paul Ricard. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend. Zum einen die Streckencharakteristik. "Die Mistral-Gerade hier ist mit 1.600 Metern praktisch genauso lang wie die längste Gerade in Le Mans, nämlich der Abschnitt von der Tertre-Rouge-Kurve bis zur ersten Schikane auf der Hunaudières-Geraden", erläutert Chefingenieur Jo Hausner. "Dort geht’s 1.800 Meter lang geradeaus. Und hier wie dort fahren wir einen Top-Speed von knapp 330 km/h."

Der zweite Grund für den Umzug: In Frankreich hoppeln des Nachts weitaus weniger Hasen über die Piste als in Andalusien. Dies freut nicht nur die Tierfreunde, sondern vor allem auch die Mechaniker. Das Herauspopeln von Kaninchen-Haschee aus den Kühlluftschächten gehört zu den eher unappetitlichen Aufgaben im Berufsleben eines Technikers.

Audi R15 TDI: Neue Aerodynamik an der Front

In diesem Jahr tritt Audi in Le Mans mit drei Sport-Prototypen namens R15 Plus an. Von seinem Vorgänger, dem R15, unterscheidet sich der Neue vor allem bei der Karosserie. Besonders auffällig ist die Frontpartie: Die Hai-Stupsnase wurde ausrangiert und durch eine spitze, doppelte Höckernase ersetzt. "Es gab Regeländerungen bei der Aerodynamik, die umgesetzt werden mussten, und zudem haben wir wegen der Verschmutzungsproblematik die Ladeluftkühler weiter hinten positioniert", erklärt Ullrich.

Die mechanische Basis des Autos, also Monocoque, V10-TDI-Motor und das semiautomatisch per Pneumatik betätigte Getriebe, ist größtenteils identisch mit dem Vorgänger. Back-to-back-Tests des Alten gegen den Neuen erbrachten ein erfreuliches Ergebnis: In Paul Ricard war der R15 Plus ganze 1,5 Sekunden pro Runde schneller als sein Vorgänger.

Audi-Piloten wie ein Uhrwerk - auch in der Nacht

Über der Strecke wird es langsam finster. Seit neun Stunden spult der karbonschwarze R15 Plus seine Runden ab. Akustisch dezent begleitet von einem bösen Zischen. Der 600 PS starke V10-TDI-Motor ist kaum lauter als ein Straßensportwagen - auch wegen des Partikelfilters, der wie ein zusätzlicher Schalldämpfer wirkt. Wenn das Auto am entgegengesetzten Ende des Kurses fährt, herrscht an der Box Stille. Drei, vier Mal pro Runde wird diese Ruhe unterbrochen von einem lauten Rattern, wenn die Fahrer über die quer geriffelten Randsteine räubern.

Mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks stanzen die Piloten Rundenzeiten um 1,42 Minuten in die Bahn, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 205 km/h entspricht. Die Zeiten variieren stets nur ein paar Zehntelsekündchen. "Sehr, sehr dunkel ist es da draußen", berichtet der achtfache Le Mans-Sieger Tom Kristensen. "Als Fahrer muss man sich unheimlich konzentrieren." Nach einer gewissen Eingewöhnungsphase, in der man den eigenen Willen und das Gefühl fürs Risiko justieren müsse, "kommst du dann aber in die Komfortzone".

Aufwändige Telemetrie unterstützt die Ingenieure

Die Fahrer mögen sich manchmal etwas einsam fühlen bei ihren nächtlichen Testritten, aber sie sind alles andere als allein gelassen. Zwei Dutzend Ingenieure, die eng zusammengepfercht in einem stickigen Raum mit niedriger Decke hocken, passen genauestens auf, was der Pilot gerade so treibt. Ihre Computer-Bildschirme lassen die Techniker selbst für einen Moment kaum aus den Augen. Rund 130 Werte werden per Datenfernübertragung vom Rennwagen an die Box gefunkt - von der Drehzahl des Motors über Ladedrücke der beiden Turbolader und den aktuellen Reifenluftdruck bis hin zur Temperatur der Stoßdämpfer - alles wird in Echtzeit überwacht. Sogar die aktuelle Stärke der Bremsbeläge lässt sich jederzeit exakt ablesen. "Wir haben sogar schon mal den Blutdruck der Fahrer übertragen", erzählt Motorenchef Ulrich Baretzky. Die Telemetrie-Bildschirme melden: alles im grünen Bereich. Das kann man wörtlich nehmen, denn bei abnormalen Werten wechselt die Farbe der Balkengrafik sofort von Grün auf Rot.

Die Stimmung im Team ist bestens. Die Mechaniker sind zwar mit vollem Ernst bei der Sache; trotzdem wird gelegentlich geflachst oder ein Witz gerissen. Während des Rennens ist das undenkbar. Sportchef Ullrich versteht sich offenbar auch als eine Art Gute-Laune-Minister. Selbst für die Felgenputzer, also jene Teammitglieder, die der niedrigsten Kaste im sehr hierarchisch aufgebauten Team angehören, hat der leutselige Österreicher stets ein freundliches Wort übrig, auch nachts um halb zwei.

Detailgenaue Rennsimulation

Ullrich kommt ins Plaudern. Zum Beispiel über einen der Erzfeinde seiner Techniker, den Pick-up. Gemeint ist damit der auf der Strecke herumliegende Reifenabrieb, der von den heißen Slicks aufgepickt wird und sich dann gerne in den Radkästen verteilt - oder schlimmer noch, in die Kühlluftschächte gerät und die Kühler verklebt, so dass sie ihrer Aufgabe nicht mehr korrekt nachkommen können. "Unglaublich, wo man die Gummiknödel überall findet", sagt Ullrich. "Manchmal wiegen sie ein dreiviertel Kilo und fliegen mit 100 km/h durch die Gegend." Audi simuliert auch dieses Problem: "Anfangs sind wir beim Test mit drei Autos gefahren - auch deswegen, um Pickup zu erzeugen."

Ebenfalls zum Standard-Programm beim 30-Stunden-Test gehören Pacecar-Phasen. Denn nicht zuletzt beim Hinterherzuckeln hinter dem Führungsfahrzeug kann man eine Menge falsch machen. "Bei einem Benziner zum Beispiel gehen die Temperaturen hoch, wenn man hinter dem Pacecar herschleichen muss", sagt Ullrich. "Bei unserem Diesel ist es genau umgekehrt." Beim Restart muss der Fahrer, per Boxenfunk angeleitet von seinem Renningenieur, allerlei tun, um Reifen, Motor und Bremsen wieder auf Betriebstemperatur zu bringen.

Audi-Piloten müssen R15-Handbuch büffeln

Seinen Fahrern empfiehlt Ullrich dringend ein genaues Studium der rund 20-seitigen Betriebsanleitung. Alle Knöpfe im Cockpit sind da genauestens erklärt. Und es gibt auch ein Kapitel "Troubleshooting." Zum Beispiel: "Was mache ich als Fahrer, wenn ich auf der Strecke stehen bleibe, und es lässt sich kein Gang mehr einlegen?" Das Booklet weiß Rat. "Früher haben die Ingenieure die Fahrer regelrecht abgefragt, so wie in der Schule", erzählt Ullrich. "Diejenigen, die weniger wussten als ihre Kollegen, haben sich dann geschämt und ganz schnell das Versäumte nachgeholt."

Mehr als 42.000 Testkilometer haben die R15 Plus abgespult, wenn sie Anfang Juni für die Reise nach Le Mans verladen werden. Genug, um alle Abstimmungsfeinheiten des Neuen bis ins letzte Detail ausgelotet zu haben. Und auch genug, um sicher zu sein, dass die Technik absolut zuverlässig ist. Was seinen Bereich angeht, hat Motorenchef Ulrich Baretzky eine Weste, die genauso porentief rein ist wie sein Diensthemd. "Seit 17 Jahren hatten wir keinen einzigen Motorschaden im Rennen", sagt der schnauzbärtige Bayer und zeigt dabei angriffslustig die Zähne, so als wolle er den Erzrivalen von Peugeot schon mal ein bisschen Angst einjagen. "Aufgepasst, mes amis, diesmal gewinnen wir wieder."

Erste Audi-Niederlage gegen Peugeot

Im letzten Jahr ging vieles schief für das erfolgsverwöhnte Audi-Team. Peugeot holte einen Doppelsieg, der beste R15 TDI kam als Dritter ins Ziel, mit sechs Runden Rückstand auf den Sieger. Wir waren abstimmungsmäßig nicht dort, wo wir in den Jahren zuvor immer gewesen sind", rekapituliert Ullrich. Reinhold Jöst, Chef des gleichnamigen Audi-Einsatzteams, erinnert sich mit Grausen an die Wetterkapriolen: "Fünf Mal sind wir ausgerückt, fünf Mal hat's eine Woche lang geregnet. Wir hatten wunderbare Regen-Setups für den R15. Nur - die haben wir nicht gebraucht." 18 Uhr. Der 30-Stunden-Test ist zu Ende. Ohne besondere Vorkommnisse. Die Ingenieure treffen sich zum De-Briefing. Die Mechaniker üben noch ein paar Mal schnelle Boxenstopps. Es wirkt nicht so, als müssten sie sich dabei quälen.

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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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