LMP1-Porsche 919 Hybrid in der Langstrecken-WM
Die Rückkehr in die Königsklasse

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Nach 16 Jahren kehrt Porsche in diesem Jahr mit dem LMP1-Wagen 919 Hybrid in den Spitzensport zurück. Und mit 16 Siegen hält Porsche den ewigen Rekord in Le Mans. Die Erwartungen sind hoch. Wo stehen die Schwaben beim großen Langstrecken-Comeback?

LMP1-Porsche 919 Hybrid, Boxenstopp, Tankstopp
Foto: Porsche

Die historischen Bande zwischen Le Mans und Deutschland sind älter, als die motorsportliche Kurzsichtigkeit glauben machen will: Seit der Synode von Aachen im Jahr 836 - an die wir uns natürlich alle bestens erinnern - sind die Bistümer von Le Mans und Paderborn urkundlich aufs Engste miteinander verbandelt.

Auf der weltlichen Schiene ist Le Mans erst seit 1970 ein echter Außenposten deutscher Wirkungsgeschichte: 30 Gesamtsiege holten Porsche, Audi, Mercedes und BMW beim wichtigsten und berühmtesten Autorennen der Welt, dem 24h-Rennen von Le Mans - eine Siegquote von fast 70 Prozent.

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Und 2014 kommt es noch besser: Die beiden siegreichsten Marken, Porsche und Audi, treffen im direkten LMP1-Duell aufeinander, mit Toyota als Kirsche auf der Torte. Es ist pikant, dass der VW-Konzern gleich zwei Marken ins große Rennen jagt, im klaren Wissen, dass im Sport immer nur einer siegen kann. Denn der zweite Sieger wird automatisch der erste Verlierer sein - egal wie gut er sich auch schlug.

Le Mans: Porsche mit dem LMP1 919 Hybrid gegen Audi und Toyota

Und so setzt Porsche bei der großen Rückkehr nach Le Mans ganz auf Demut. "Wir sind die Neueinsteiger. Es wäre ziemlich vermessen, wenn wir uns hinstellen und sagen: Jetzt putzen wir die Gegner in Le Mans einfach mal so vom Tisch."Andreas Seidl, der Chef des neuen Porsche-Werksteams, macht dazu ein ernstes Gesicht - als wolle er seinen Worten zusätzliches Gewicht verleihen.

Porsche und Bescheidenheit ist eine neue Kombination, doch desto länger man Seidl zuhört, umso verständlicher wird die Halbgas-Rhetorik: "Porsche ist seit 1998 nicht mehr im Spitzensport vertreten, daher haben wir keine hausinternen Referenzpunkte für unsere Arbeit. Audi fährt seit 15 Jahren erfolgreich in Le Mans, und Toyota kehrte nach sieben Jahren Formel 1 vor zwei Jahren in den LMP1-Sport zurück - diesen riesigen Erfahrungsvorsprung kann man nicht wegdiskutieren."

Markante Sprüche wie "Die anderen kochen auch nur mit Wasser" wird man von Seidl also nicht zu hören bekommen, und das hat weniger mit gespielter Bescheidenheit als mit Respekt vor der Aufgabe und den Gegnern zu tun. "Wenn Audi in Le Mans zum Beispiel einen Unfall hat und die Aufhängung beschädigt wurde, dann kommen sie in die Box, reparieren ein paar Minuten, und dann fährt das LMP1-Auto in der ersten Runde gleich wieder mit 330 km/h über die Mulsanne-Geraden. Als Ingenieur kann ich dazu nur sagen: Respekt, das ist brutal schwierig, und man braucht viel Erfahrung und Qualität, um das so präzise zu steuern."

Porsche-Masterplan für Le Mans 2014

Wo stehen die Schwaben nun bei ihrer im Juni 2011 offiziell angekündigten Rückkehr nach Le Mans? Solange die LMP1-Projektile von Porsche, Audi und Toyota nicht alle zur gleichen Zeit auf der gleichen Rennstrecke unterwegs sind, kann die Frage nicht ernsthaft beantwortet werden. "Das energiebasierte Reglement ist neu, die Autos sind ebenso neu wie die Antriebstechnik mit zwei Hybridsystemen, und momentan testet jeder Hersteller noch für sich allein", hält Seidl fest. Eine erste Standortbestimmung gibt es frühestens Ende März beim ersten gemeinsamen Test der Sportwagen-WM auf dem Kurs Paul Ricard.

"Wir haben einen ambitionierten Masterplan für die Entwicklungsphase", sagt Seidl, "und klar mussten wir in der Testerprobung auch immer wieder Rückschläge verkraften. Aber das ist völlig normal bei so einem Großprojekt. Wichtig ist, dass man sich kontinuierlich weiterentwickelt und die beiden großen Zielsetzungen - Dauerhaltbarkeit und Performance - im Auge behält und weiter verbessert."

LMP1 Porsche 919 mit V4-Vierzylinder und Mono-Turbo

Die großen Grundsatzentscheidungen für die zentralen technischen Baugruppen des 919 Hybrid wurden natürlich schon vor langer Zeit getroffen, wenngleich vieles noch nicht offiziell kommuniziert wurde - das übliche Versteckspiel auf der höchsten Motorsportebene. Beim Motor setzt Porsche im LMP1 919er auf einen Zwei-Liter-Vierzylinder, aber nicht in Reihe angeordnet, sondern als kompaktes und steifes V4-Triebwerk. In der weit geöffneten Zylinderbank sitzt der Mono-Turbolader. Biturbo-Konzepte stehen im Motorsport übrigens offenbar nicht mehr auf der Agenda, da der Wirkungsgrad des Mono-Turbos besser ausfällt, dazu bringt diese Anordnung Vorteile bei Packaging und Gewicht.

An Downsizing und Hochaufladung führte kein Weg vorbei, erklärt Technikchef Hitzinger: "Das Thema Effizienz hat beim LMP1 die Wahl des Motorkonzepts maßgeblich beeinflusst, da geht es um Gewicht, Packaging und Leistung. Aber auch die Energierückgewinnungssysteme spielten bei der Entscheidung eine wichtige Rolle, denn je leichter das Fahrzeug, umso mehr kann man die Effizienzsysteme wie KERS und Abgasenergierückgewinnung einsetzen." Daraus ergab sich das gewählte Antriebs-Layout mit Downsizing und Zwei-Liter-Turbo, Hochaufladung und Direkteinspritzung.

Der Motor erhielt für den letzten großen Test des Jahres 2013 im portugiesischen Portimão ein deutliches Upgrade, in das die Erfahrungen aus den insgesamt neun Testläufen seit Beginn der Fahrerprobung im Juni 2013 einflossen. Die Modifikationen haben dem kompakten Triebwerk übrigens auch einen aggressiveren und sonor basslastigen Auspuffton verliehen - die Tonlage im LMP1 919 Hybrid tendiert nun deutlich in Richtung Motorsport-Rockmusik.

Zwei Hybridsysteme pro LMP1-Fahrzeug

Details über das verwendete Abgasenergierückgewinnungssystem rückt Porsche derzeit noch nicht heraus. Prinzipiell gibt es hier zwei Möglichkeiten: mechanische oder elektrische Systeme mit unterschiedlichen Arbeitsweisen. Eine Möglichkeit könnte zum Beispiel darin bestehen, dass die Turbine an einen Generator angeschlossen wird und dann auf diese Weise elektrische Energie erzeugt.

Das LMP1-Reglement für 2014 erlaubt die Verwendung von zwei Hybridsystemen pro Fahrzeug, und hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten und Kombinationen bei der Rückgewinnungsart, der Speicherung der Energie und der Frage, an welcher Achse man die elektrische Zusatzenergie wieder einspeist.

Eine Gemeinsamkeit beim LMP1 scheint klar: Die drei Hersteller Porsche, Audi und Toyota rekuperieren Bremsenergie an der Vorderachse, einfach weil dort beim Bremsvorgang die höchste Energiemenge anfällt. Beim zweiten Energierückgewinnungssystem (ERS) gibt es aber Unterschiede: Audi und Porsche nutzen die Abgasenergie, was deswegen leicht möglich ist, da sie Turbomotoren verwenden. Toyota fährt jedoch mit einem V8-Saugmotor - daher setzen die Japaner beim zweiten ERS-System abermals auf die Bremsenergie, diesmal von der Hinterachse, was jedoch nicht unbedingt die leichteste Lösung darstellen dürfte.

Hohe Komplexität des Gesamtsystems

"Unsere Simulationen haben ergeben, dass eine Kombination aus KERS und Abgasenergierückgewinnung (AER) die leichteste Lösung darstellt", so Porsche-Technikchef Alexander Hitzinger. Wenn die Effizienzsysteme identifiziert sind, lautet die nächste Frage im Protokoll: Welche Achse soll mit der Zusatzenergie angetrieben werden? Hierbei ist zunächst zu beachten, dass die Bestimmung, wonach das Boosten an der Vorderachse erst ab Geschwindigkeiten oberhalb von 120 km/h erlaubt ist, beim LMP1 in diesem Jahr entfällt. Somit unterliegt der Allradantrieb keinen Beschränkungen mehr.

"Unter diesen Voraussetzungen haben wir uns dazu entschieden, eine Traktionsmaschine an der Vorderachse zu verwenden, was Vorteile bei der Gewichtsverteilung des Fahrzeugs bringt", erklärt Alexander Hitzinger. Gleichzeitig kann mit dem Allradantrieb natürlich auch das Fahrverhalten beeinflusst werden.

Die größte Herausforderung für die Hersteller liegt so in der vernetzten Nutzung der elektrischen Zusatzenergie in Verbindung mit dem Verbrennungsmotor und dem Allradantrieb. "Die Einspeisung der Energie steuert ein zentraler Energiemanager, der die Boost-Strategie der jeweiligen Fahrsituation anpasst", erklärt Hitzinger. Die Anforderungen an die elektronische Steuerung sind kolossal: Weil der LMP1-Verbrennungsmotor pro Runde in Le Mans nur eine bestimmte Menge Energie verbrauchen darf (im Fall von Porsche 134,8 Megajoule), muss die Steuerung der Zusatzenergie über den Boost situativ angepasst werden.

Steckt der Fahrer zum Beispiel im dichten Verkehr und verwendet bei den Überrundungen mehr Energie als ursprünglich eingeplant, muss die Steuerung für den Rest der Runde logischerweise sicherstellen, dass diese Energie wieder eingespart wird. "Wir reden hier sicherlich von einer der komplexesten Herausforderungen, vor der Ingenieure im Rennsport jemals gestanden sind", so Porsche-Teamchef Andreas Seidl.

Effizienz muss trotz Performance sein

Insider diskutieren schon heute angeregt über innovative Kunstgriffe des Spritsparens wie die sogenannte Segel-Funktion, bei der das Auto zum Beispiel auf langen Geraden bis zu einer vorgegebenen Topspeed beschleunigt wird, die das Erreichen einer angestrebten Rundenzeit sicherstellt, und das LMP1-Auto dann mit reduziertem Energieeinsatz nur noch auf Tempo gehalten wird.

Gleichzeitig nimmt der Energiemanager beim Einsatz der Zusatzenergie an der Vorderachse auch noch Einfluss auf das Fahrverhalten - über Zuschalten des Allradantriebs. Hier fließen in die Regelstrategie weitere Aspekte ein, wie Außen- und Reifentemperaturen oder trockene und nasse Fahrbahnverhältnisse. Der temporäre Allradantrieb stellt auch die Fahrwerksingenieure vor große Herausforderungen, denn sie müssen bei Konstruktion, Auslegung und Setup antizipieren, wie sich die Phasen des Allrad-Boosts im LMP1-Auto auf das Fahrverhalten auswirken. Eine Frage könnte zum Beispiel lauten: Geht man bei der Abstimmung prinzipiell mehr auf Untersteuern - und kompensiert das dann über den Allradantrieb?

Porsche setzt im LMP1-919er auf Lithium-Ionen-Batterien

Bei der Wahl der Speichertechnologie werden die Fans 2014 mit drei unterschiedlichen Lösungen konfrontiert: Toyota setzt wie bisher auf Superkondensatoren, Audi auf den bewährten Schwungmassenspeicher - und Porsche auf Lithium-Ionen-Batterien des amerikanischen Zulieferers A123.

Hier galt es laut Alexander Hitzinger die Vor- und Nachteile abzuwägen: "Aus Porsche-Sicht stellen Lithium-Ionen-Batterien den besten Kompromiss bei den entscheidenden Parametern dar, nämlich bei Leistungsdichte und Energiedichte." Zwar liefern auch Superkondensatoren und Schwungmassenspeicher eine gute Leistungsdichte, aber bei der Energiedichte wähnt sich Porsche mit der aktuellen Batterietechnik im Vorteil. Auch beim Thema Gewicht stellt die Wahl von Porsche eine gute Lösung dar.

Apropos Gewicht: Das Reglement bietet den Herstellern die Wahl, wie viel elektrische Zusatzenergie sie einspeisen wollen: bis zu 2, 4, 6 oder gar 8 Megajoule. Prinzipiell kann man sagen, dass das Reglement eine Entscheidung für die maximale Energieklasse bis 8 MJ unterstützt - oder genauer: bevorteilt. Doch je mehr Energie man speichert, umso mehr Gewicht muss man bei der Speichertechnologie zuladen. Prinzipiell streben alle LMP1-Hersteller an, unter dem neuen Gewichtslimit von 870 Kilo zu bleiben - und gleichzeitig wollen sie den maximalen Benefit der höchsten Energieklasse bis 8 MJ ausnutzen. Das neue LMP1-Reglement ist also reich an spannenden Zielkonflikten. "Es ist ja schon eine große Herausforderung, die Basisfunktionalität eines modernen LMP1-Autos perfekt darzustellen", erörtert Teamchef Seidl. „Dazu muss man aber auch noch die Herausforderungen des energiebasierten Reglements mit seinen großen Freiheitsgraden abarbeiten.“

Le Mans-Programm bedingt hohen Aufwand

Doch die Challenge war für Porsche noch härter, weil die Schwaben neu sind, während die Gegner Audi und Toyota auf eingespielte Strukturen und Prozesse vertrauen können. Porsche hat das Programm für Le Mans komplett neu aufgesetzt, was zusätzliche Handlungsstränge in Spiel brachte: Organisation und Infrastruktur neu aufbauen, Mitarbeiter rekrutieren, Techniklayout definieren und das Fahrzeug entwerfen, aufbauen und testen - und zwar alles zeitgleich. "Es war nicht leicht, das alles parallel hochzufahren und zu integrieren", gibt LMP1-Leiter Fritz Enzinger zu.

Mittlerweile werkeln über 200 Mitarbeiter in der LMP1-Abteilung von Porsche, aufgeteilt in zwei Abteilungen: Andreas Seidl verantwortet den operativen Einsatzbereich, also die Teamseite, mit gut 80 Mitarbeitern. Und Alexander Hitzinger leitet die Technikabteilung, wo unter anderem Motor und Hybridsysteme, Getriebe, Chassis und Aerodynamik entwickelt wurden. "Unser Ziel besteht darin, ein wettbewerbsfähiges Auto auf die Räder zu stellen und die Rennen zu beenden", so Fritz Enzinger zur Porsche-Marschroute für die erste volle Sportwagensaison im Jahr 2014.

Noch 5 große Tests bis Le Mans

Ab Januar stehen bis zum Saisonstart noch fünf große Tests des Werksteams auf dem Programm, und die Herausforderung besteht jetzt darin, Dauerhaltbarkeit und Performance unter einen Hut zu bekommen: "Die Entwicklungs-Zeitfenster schließen sich jetzt rasend schnell, weil auch die Teileproduktion ihren Vorlauf benötigt", erläutert Teamchef Andreas Seidl. Und die Porschianer wissen ganz genau: Es ist das eine, ein Sechs-Stunden-Rennen zu bestreiten - aber der ganz große Lackmustest kommt in Le Mans, wenn 24 Stunden Dauerfeuer gegen zwei bockstarke LMP1-Gegner auf dem Programm stehen.

Fritz Enzinger macht das nicht kirre: "Wir haben alle Voraussetzungen, um ein wettbewerbsfähiges Fahrzeug zu entwickeln und in Zukunft erfolgreich zu sein, das heißt, wir haben hoch motivierte Mitarbeiter, eine neue Infrastruktur und vollste Unterstützung von unserem Vorstand." So werden beim 24h-Rennen in Le Mans 2014 gar nicht so sehr die uralten deutsch-französischen Beziehungen auf dem Prüfstand stehen als vielmehr die innerdeutschen - nämlich die zwischen Bayern und Schwaben.

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Sport Auto 03 / 2022
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Erscheinungsdatum 04.02.2022

132 Seiten