Marcus Schurig zur Frage: Wer braucht Abtrieb?
Kommentar: Downforce als Irrweg?

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Meinung von Marcus Schurig: Abtrieb ist der beste Kumpel des Rennfahrers und das liebste Kind des Rennsport-Ingenieurs. Aber Abtrieb ist wertlose Faszination, weil sie in ihrer gegenwärtigen Darbietung ineffizient ist und die Rennsportunterhaltung killt. Obendrein ist Abtrieb eine irrelevante Fehlentwicklung, weil die Rückkoppelung zur automobilen Serienentwicklung fehlt. Es ist Zeit für eine Neubesinnung.

Chaparral 2E, spa0912, Abtrieb
Foto: LAT

Abtrieb ist der feuchte Traum des Rennsport-Ingenieurs. Die Koordinaten seiner Entstehung sind exakt überliefert. Das Jahr: 1966. Das Auto: Chaparral 2E. Die Serie: Can-Am. Der Erfinder: Jim Hall. Der gute Mann stellte fest, dass er bei 200 km/h das Lenkrad drehen konnte, ohne dass sein Auto die Richtung änderte - Auftrieb. Sodann applizierte er Bauteile an der Front, die entfernt an Schneeschaufeln erinnerten. Nun lenkte der Wagen präzise ein, doch er übersteuerte ganz grässlich. Hall korrigierte die Aero-Balance mit einem monströs hohen Heckflügel. Dabei drehte er das Flügelprofil aus der Aeronautik einfach um, aus Auftrieb wurde Abtrieb - Heureka!

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Abtrieb ist gleich Performance

Seit einem halben Jahrhundert wird dieser Design-Pfad im Motorsport nicht hinterfragt. Abtrieb, sagen die Ingenieure, ist gleich Rundenzeit ist gleich Performance. Die Gleichung ist heilig, in der Formel 1, der DTM, aber auch im Langstrecken- und Prototypensport. Die Ingenieure können nicht mehr anders oder ohne. So baut man Le-Mans-Prototypen, die 600 PS und 1000 Nm benötigen, um den Flügelkram gegen die Luftströmung zu schieben. Im Jahrhundert der Effizienz ist das ungefähr so, als wolle man einen Stealth Bomber mit einer Steinschleuder vom Himmel holen.

Konzepte, die an diesem überkommenen Glaubensbekenntnis rütteln, werden madig geredet. Der Delta Wing in Le Mans hatte auch Abtrieb, aber er holte ihn nicht wie gewohnt durch klassische Überströmung und Flügel, sondern fast ausschließlich über den Unterboden, was viel effizienter ist. Welche Auswirkungen das haben wird? Gar keine. Das nächste Prototypenreglement ist längst unter Dach und Fach, die Windkanäle der Motorsportabteilungen sind gebaut, die arbeitslosen Aeronautiker eingestellt. Reformwilligkeit sieht anders aus. Man wundert sich bloß, dass die Hersteller nicht aufwachen - denn letztlich ist es ihr schönes Geld, das dort verballert wird.
 
Bis in die 1960er Jahre war das Streben im Motorsport darauf gerichtet, den Luftwiderstand zu verringern. Stromlinienkarosserien hatten eine direkte Rückkoppelung auf die Straße: weniger Widerstand gleich geringerer Verbrauch und niedrigere Geräuschentwicklung. Es finden sich genügend Beispiele in der Geschichte, als Automobilhersteller vom Motorsport lernten und die Kunden auf der Straße profitierten - von der Scheibenbremse bis zum Doppelkupplungsgetriebe.

Transfer vom Motorsport in die Serienfahrzeuge

Die schöne Tradition, den Mehrwert des Motorsports für die Straßenentwicklung wortreich zu kommunizieren, ist immer noch da - allein der Mehrwert scheint abhanden gekommen zu sein. Die Presse-Brigaden der Automobilhersteller loben die Synergie-Effekte mit schwülstigem Pathos, doch wer kritisch hinschaut, muss feststellen, dass die beiden Handlungsstränge weitgehend entkoppelt sind. Motorsport als Antrieb für automobilen Fortschritt - das scheint lange passé.
 
Das Gegenteil ist vielmehr richtig: Die Innovationen kommen heute erst auf die Straße und plätschern peu á peu auf die Rennstrecke. ABS und ESP wurden als Sicherheits-Features für den Alltagsfahrer entwickelt, heute sind sie Performance-Tools im Motorsport. Ähnliches gilt für Hybridantrieb oder Turbolader mit variabler Geometrie. Es gibt kein überzeugendes Gegenbeispiel für diesen Trend. Die Synergie-Kette hat sich umgedreht - und der Motorsport fährt in die Sackgasse.

Mit dieser Feststellung ist nebenbei bemerkt auch die aktuelle Sinnkrise im Motorsport beschrieben: Wenn man im Rennsport nichts lernt, verkommt er zum hohlen Marketing-Tool - ein bisschen Brumm-Brumm, versüßt mit Spätburgunder und hipper Häppchenkultur in klimatisierten Hospitality-Burgen.

Abtrieb erfüllt keinen Zweck an sich

Der Kauz Abtrieb ist Spiegelbild dieser Entwicklung. Abtrieb blieb bis heute ohne Rückkoppelung auf die Straße. Abtrieb erfüllt keinen Zweck an sich, denn er wird außerhalb der Spezialanwendung Motorsport nicht benötigt. Manchmal ist Abtrieb sogar gefährlich: Wenn unterschiedliche Fahrzeugklassen im selben Rennen an den Start gehen, wie in Le Mans, sind die Differenzen beim Kurvenspeed wegen der unterschiedlichen Downforce-Level dermaßen hoch, dass es häufig scheppert.
 
Abtrieb verbessert die Rundenzeit - und verschlechtert die Show. Abtriebautos erzeugen Turbulenzen, die Aerodynamik der nachfolgenden Fahrzeuge wird beeinträchtigt. Diese verlieren Abtrieb, woraufhin ihre Vorderreifen so lange gargekocht werden, bis jede Chance auf ein Überholmanöver verglüht. Die Fans könnten gut ohne Abtrieb leben, denn Rundenzeiten sind für sie kein messbarer Vergnügungsparameter. Sie wollen Rennsport sehen - doch Abtrieb unterbindet Zweikämpfe und führt zu peinlichen Prozessionen.
 
Dann bedarf es künstlicher Mittel, um das Problem aufzubrechen, wie in der Formel 1. Es begann damit, dass Bernie Ecclestone ernsthaft künstlichen Regen als Lösungsansatz vorschlug, letztlich behalf man sich mit weniger skurrilen Mitteln: Reifen mit unterschiedlichem Griplevel, Drag Reduction System (DRS) und Hybrid-Power als Überholhilfe. Das DRS-System ist besonders absurd, weil es nicht allen Teilnehmern zu jeder Zeit zur Verfügung steht, sondern nur den benachteiligten. In immer kürzeren Abständen erfinden Ingenieure also neue Krücken, um den Abtrieb zu retten.

Zeit für eine Neubesinnung

Es ist Zeit für eine Neubesinnung. Die müsste eigentlich von der Weltmotorsportbehörde FIA ausgehen, doch das kann man getrost vergessen. Der Motorsport benötigt Innovation mit Effizienz, sonst stellt sich die Überlebensfrage. Der Fortschritt könnte im Rückschritt liegen: Indem man jene feuchten Träume des Motorsports trockenlegt, die einzig dem Selbstzweck dienen.

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