Michael Schumacher erklärt F1-Rücktritt
Wechselbad der Gefühle

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Erst unterschreibt F1-Pilot Lewis Hamilton bei Mercedes. Dann hört Michael Schumacher zum zweiten Mal auf. Beides unter merkwürdigen Umständen. Im Tollhaus Mercedes ist der Teufel los. Aufklärung gefällig?

Michael Schumacher GP Japan 2012
Foto: xpb

Es war kein nettes Einstandsgeschenk, das Lewis Hamilton seinem künftigen Arbeitgeber Mercedes mitbrachte. Angesichts der schwachen Leistung der Silberpfeile in Suzuka erklärte Hamilton der Fleetstreet-Presse aus London: „Ich werde nächstes Jahr keine Rennen gewinnen und auch nicht Weltmeister werden.“ Worauf die Engländer sich die Frage stellten: Hat unser Superstar seinen Wechsel zu Mercedes schon wieder bereut? Keinesfalls, entgegnete der abtrünnige McLaren-Pilot. Er sehe Mercedes als langfristiges Projekt - wie es Michael Schumacher damals bei Ferrari auch getan hat. Hoffentlich ist Hamilton mit genügend Geduld ausgestattet.

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Transfer des Jahres hat Spuren hinterlassen

Schumacher musste von 1996 bis 2000 warten, bis er endlich wieder Weltmeister wurde. Ex-Pilot Johnny Herbert mutmaßt: „Lewis wird vielleicht nie mehr Weltmeister.“ Der Transfer des Jahres hat überall Spuren hinterlassen. Bei Red Bull, weil durch die Rochade zwei Gegner geschwächt wurden. Bei McLaren, weil sie in Woking wissen, dass Sergio Perez unmöglich die Lücke Hamilton füllen kann. Bei Mercedes, weil Hamilton sportlich ein Gewinn ist, medienpolitisch aber zum Eigentor wurde. Die Verantwortlichen haben die Strahlkraft unterschätzt, die Michael Schumacher immer noch besitzt. Es hieß nicht: „Hamilton unterschreibt bei Mercedes“. Sondern: „Mercedes trennt sich von Schumi.“ Aus einer positiven Meldung wurde eine Negativschlagzeile. Es sah so aus, als hätte man Schumacher für Hamilton geopfert. „Das hat Michael nicht verdient“, bemängelt sein Kumpel Jean Alesi. Zuerst hätte Mercedes Schumacher die Möglichkeit geben müssen abzudanken und dann den neuen Mann verkünden.

Die Frage ist nur, ob das so überhaupt möglich gewesen wäre. Der Vertrag mit Hamilton wurde mit der heißen Nadel gestrickt. Er stand erst am Mittwoch nach dem GP Singapur fest. Und er hing am seidenen Faden, wie Niki Lauda, der Architekt der Hamilton-Verpflichtung, zugibt: „Hätte Lewis in Singapur gewonnen, wäre er bei McLaren geblieben.“ Nach Aussage von Lauda wurde Schumacher die Verpflichtung seines Nachfolgers am Mittwoch, also zwei Tage vor der Bekanntgabe, mitgeteilt. Angeblich von Ross Brawn. Schumachers Management bestreitet das. Andererseits sagt Schumacher: „Ich war in die Entscheidungsfindung involviert. Als Hamilton da war, spürte ich eine Befreiung, weil sie meinen eigenen Zweifel beantwortet hat.“ Da fragt man sich, was jetzt stimmt. Aus dem Schumacher-Lager heißt es, Michael habe seinen Arbeitgeber öffentlich nicht bloßstellen wollen. Deshalb die kleine Notlüge, man habe intern immer offen kommuniziert. Irgendwann muss man es ihm aber gesagt haben, denn in der Pressemitteilung steht ein Statement von Schumacher.

Fahrerwechsel sind nicht lange geheim zu halten

In einer geschwätzigen Welt wie der Formel 1 sind Fahrerwechsel dieser Brisanz nicht lange unter der Decke zu halten. Schumacher hätte sich also mit der Pistole auf der Brust innerhalb von zwei Tagen darauf festlegen müssen, wie er ohne Gesichtsverlust aus der Nummer rauskommt, bevor die Nachricht über Hamilton an die Öffentlichkeit geht. Und was hätte er bekanntmachen sollen? Gleich den Rücktritt oder nur eine Trennung? Beides hätte umgehend zur Schlussfolgerung geführt, dass Hamilton im Boot sitzt, und es hätte den Überraschungseffekt gekillt.
 
Tatsache ist: Schumacher wusste, dass sein Team mit Hamilton flirtet. Dazu musste er nur die Zeitungen lesen. Er wusste vielleicht nicht, wie ernst es seinen Chefs mit der Verpflichtung des McLaren-Piloten war. Und dass für den Plan B nicht er, sondern Sergio Perez auf der Liste stand. „Was sollten wir denn machen?“, fragt der neue Oberaufpasser Niki Lauda. „Michael konnte uns keine Antwort geben. Das Team kann nicht bis Oktober warten, ohne sich nach Alternativen umzuschauen.“ Da die Chancen auf Hamilton intern selbst von den Optimisten als gering eingeschätzt wurden, war die Absicherung mit Perez pure Notwendigkeit. Das sieht auch Schumacher ein: „Ich konnte Mercedes keine langfristige Perspektive bieten. Selbst wenn ich mich für ein Weitermachen entschieden hätte, wäre das nur von kurzfristiger Dauer gewesen.“ Außerdem brauchte Mercedes ein Signal für die Zukunft. 2014 beginnt eine neue Ära in der Formel 1 mit anderen Autos, anderen Motoren, anderen Regeln. Eine Verbrauchsformel löst die Haudrauf-Fahrerei ab. Da will man wenigstens im Cockpit Konstanz. Michael Schumacher konnte aus verständlichen Gründen keine Zusage über drei Jahre abgeben, selbst wenn er sich rechtzeitig dazu entschlossen hätte, weiterzufahren. Ende 2015 wäre er 46 Jahre alt.

Alle haben sich verspekuliert

Das Schlimme war, sinniert Niki Lauda, dass es bei Mercedes lange keinen Plan B gab. Man ging in Brackley und Stuttgart offenbar davon aus, dass Schumacher weiterfährt. Deshalb gestattete man ihm zunächst auch bis Oktober Bedenkzeit. Schumacher mag gedacht haben, dass er unersetzlich ist. Und er hat die Möglichkeit unterschätzt, dass Hamilton vielleicht doch zusagen sagen könnte. Da haben sich alle verspekuliert. Sogar McLaren. In der augenblicklichen Lage geht kein Fahrer vom Kaliber eines Hamilton, der einigermaßen bei Trost ist, von McLaren weg. Auch dann nicht, wenn man ihn dort wie ein Kleinkind behandelt und in ein Korsett aus Regeln wie in einem Internat schickt.
 
Fernando Alonso bringt es auf den Punkt: „Schaut euch an, wie viele Fahrer McLaren freiwillig verlassen haben - Prost, Senna, Räikkönen, ich und jetzt Lewis. Und alle waren danach glücklicher.“ Martin Brundle bestätigt: „Ron Dennis wollte mich noch kontrollieren, da war ich schon gar nicht mehr im Team.“ Hamilton ist trotzdem selbst schuld, dass er sich von diesem System so hat vereinnahmen lassen. Er hätte sich mit der Drohung, das Team zu verlassen, mehr Freiheit erstreiten können. Was McLaren in Torschlusspanik auch getan hat, nur viel zu spät.

Hat sich Michael Schumacher verzockt?

Ja und nein. Man muss ihm abnehmen, dass die Batterien wieder im roten Bereich sind, nachdem das Team auch im dritten Jahr in Folge die Ziele verfehlen wird. Das steckt einer mit 303 GP-Starts weniger gut weg wie ein Nico Rosberg, der die Karriere noch vor sich hat. Schumachers Abwartetaktik macht aber nur bis zu einem gewissen Grad Sinn. Ein Grund für seine Zweifel lag darin, dass keine Ausbaustufe am Mercedes AMGW03 so funktionierte, wie sie sollte. Warum also sollte es sich 2013 ändern?
 
Doch welchen weiteren Beweis für diese Schwäche hat Schumacher noch gesucht? Er wusste im August so viel, wie er jetzt weiß. Hätte er sich in der Sommerpause festgelegt, egal in welche Richtung, wäre er den Ereignissen zuvorgekommen, denn die ernsthaften Verhandlungen mit Hamilton begannen erst beim GP Belgien. So sieht es zum zweiten Mal in seiner Karriere so aus, als wäre der 91-fache GP-Sieger vor vollendete Tatsachen gestellt worden. 2006 hatte ihm Ferrari gebeichtet, dass man für 2007 Kimi Räikkönen verpflichtet habe. Diesmal stand Hamilton vor der Tür.


Schumachers Abgang bei Mercedes erinnert an die Situation von Ayrton Senna 1993, als dieser von McLaren zu Williams wollte, aber nicht konnte. Die Superstars sind selten gut vernetzt in der Szene. Weil sie sich für politische Winkelzügen zu schade sind. Sie überzeugen durch Leistung und Erfolg. Und den Marktwert ihres Namens. Sie glauben, dass sie überall mit offenen Armen empfangen werden, sobald sie nur den Finger heben. Hin und wieder wird diese Regel außer Kraft gesetzt. Auch Senna hatte damals die Situation falsch eingeschätzt. Er merkte zu spät, dass Frank Williams sich zwischen Alain Prost und ihm entscheiden musste, dass der Rollstuhlgeneral gar nicht anders konnte, als Prost zu nehmen - weil er sonst Renault und elf an McLaren verloren hätte, die Ersatz für Honda suchten. Williams war nicht auf Senna angewiesen.
 
Im besten Auto konnten auch andere Weltmeister werden. Nigel Mansell hatte es 1992 bewiesen. Erst als Senna die Wahrheit dämmerte, bot er sich für einen Nuller an. Manche sprachen von einer Verzweiflungstat. Kritiker behaupten, es wäre das Gleiche gewesen, wenn Schumacher zu Teams wie Sauber oder Williams gegangen wäre. Gerhard Berger bestätigt: „Ein Schumacher muss für Ferrari, Red Bull, McLaren oder Mercedes fahren. Alles andere ist für ihn keine Alternative.“ Von allen Optionen, die an der Gerüchtebörse gehandelt wurden, kam tatsächlich nur Ferrari in Frage. Und auch da höchstens für ein Jahr. Alonso als Teamkollege wäre für Schumacher noch einmal ein Leistungstest gewesen - der ihm die Motivation zurückbringen hätte können, die verloren gegangen war.

Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende

Am Ende sagte sich der Halter aller Rekorde: Genug ist genug. Besser jetzt einen Schnitt machen als zu spät. Martin Brundle ist froh darum. „Es hätte ein wenig traurig ausgesehen, wenn er zu einem kleineren Privatteam gegangen wäre - als ob er nicht loslassen kann. Man hätte sich unwillkürlich gefragt: Was kommt als Nächstes? HRT vielleicht?“ Die Entscheidung dazu fiel im Flugzeug nach Japan. Schumacher hielt sie auch vor seinem Team bis fünf Minuten vor der Bekanntgabe geheim. Manche sehen darin eine Retourkutsche dafür, dass man ihn selbst so im Regen stehen ließ. Mercedes wirkte auf seinem Asien-Ausflug nicht wie eine glückliche Familie. Da liefen einige Herren aneinander vorbei, die sonst wie die dicksten Kumpel aufgetreten sind. Die Tatsache, dass Niki Lauda dieses Tollhaus kontrolliert, wird die Stimmung nicht entschärfen. Eher im Gegenteil. Die leitenden Personen werden ihr eigenes Revier schützen, jeder hat Angst um seinen Kopf. Das kann zu blindem Aktionismus oder lähmendem Stillstand führen. Ferrari hat es zwischen 1980 und 1996 vorexerziert. Hamilton tut gut daran, die Erwartungen niedrig zu schrauben.

In unserer großen Bildergalerie zeigen wir noch einmal die besten Momente in der Karriere von Michael Schumacher.

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Erscheinungsdatum 04.02.2022

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