Porsche 919 Hybrid im Technik-Check
Das LMP1-Speed-Monster aus Weissach

Inhalt von

Wo stehen die vier LMP1-Autos von Toyota, Audi, Porsche und Nissan kurz vor dem 24h-Rennen in Le Mans? Porsche will nach der Rückkehr in den LMP1-Sport im letzten Jahr an alte Erfolge anknüpfen und den 17. Le-Mans-Sieg erringen. Zusammen mit Audi gehören die Schwaben 2015 zu den großen Favoriten. In unserem Technik-Check analysieren wir die Stärken und Schwächen des Porsche 919 Hybrid.

24h Le Mans 2015 - Scrutineering - Technische Abnahme - Porsche 919 Hybrid
Foto: Porsche

Wenn es so etwas wie eine Papierform wirklich geben sollte, dann müsste Porsche 2015 ganz oben auf der Favoritenliste für Le Mans stehen. Das Werksteam aus Weissach hat das radikalste Auto gebaut, weil man 2014 mit einem weißen Blatt Papier begann. Der kleinste und leichteste Motor wurde gepaart mit dem stärksten Hybridsystem.

Bei der Systemleistung ist Porsche die Benchmark. Beim Vortest holte Porsche die Bestzeit, bei den zwei WM-Rennen in Spa und Silverstone stand man auf der Pole-Position. Über eine Runde ist Porsche unschlagbar, aber im Rennen spielen noch andere Faktoren ein Rolle, so auch das Thema Reifenverschleiß. Hier war Audi in Spa und Silverstone stärker – und siegte vor Porsche. Dazu spielt das Thema Zuverlässigkeit beim 24h-Rennen in Le Mans eine entscheidende Rolle. Ist Porsche nach nur anderthalb Jahren im LMP1-Sport bereits standfest genug, um ohne Probleme über die Marathon-Distanz zu kommen?

Unsere Highlights

Antrieb / Motor Porsche 919 Hybrid

Porsche hat in der Gesamtbetrachtung beim Antrieb fraglos das beste und radikalste Konzept. Der Vierzylinder-Turbomotor mit zwei Litern Hubraum und 90-Grad Bankwinkel ist leicht, stark und effizient. Noch wichtiger: Weil der Motor im Vergleich mit dem Wettbewerb
so leicht ist, hatte Porsche für 2015 den Spielraum, auf 8 MJ aufzusatteln – und trotzdem das Gewichtsziel von 870 Kilo zu erreichen.

Bei den bisherigen Rennen war obendrein festzustellen, dass Porsche einen Vorteil beim Verbrauch hat. Theoretisch sollten die Schwaben es schaffen, in Le Mans eine Runde länger zu fahren als Hauptgegner Audi. Das könnte über die Renndistanz bis zu drei Stopps oder 180 Sekunden sparen, was bedeutet, dass die Gegner pro Runde gut eine halbe Sekunde schneller fahren müssen als Porsche, um deren Reichweitenvorteil auszugleichen.

Hybridsysteme

Porsche wechselte für 2015 in die höchste erlaubte Hybridklasse, was bedeutet, dass sie pro Runde in Le Mans maximal 8 MJ boosten dürfen. Laut Reglement wird eine hohe Hybridisierung über die Rundenzeit incentiviert, was im konkreten Fall von Le Mans bedeutet, dass man pro 1 MJ ungefähr 0,5 Sekunden bei der Rundenzeit gewinnt. Ein Aufstieg um 2 MJ wie bei Porsche ist also eine volle Sekunde bei der Rundenzeit wert.

Dazu kommt, dass Porsche die höchste Hybridklasse erreicht hat, und trotzdem das Mindestgewicht von 870 Kilo nicht überschreitet. Das Hybridsystem konnte insgesamt sogar leichter ausgeführt werden als 2014, trotz der Steigerung um 2 MJ. Der Hintergrund: Der Porsche 919 Hybrid wies im letzten Jahr ein Übergewicht von 30 Kilogramm auf, die mussten eingespart werden, gleichzeitig bewerkstelligte die Ingenieure rund um Technikchef Alex Hitzinger die Steigerung bei der Hybridpower.

Rechnet man die Systemleistung von Verbrennungsmotor und Hybridsystem zusammen, so hat Porsche den fraglos leistungsstärksten Antrieb. Man kommuniziert offiziell 1.000 PS, in Wahrheit dürfte der Wert deutliche darüber liegen. Laut Toyota-Simulationen basierend auf dem Vortest in Paul Ricard soll der Porsche-Antrieb sogar über 1.300 PS leisten.

Fahrzeugkonzept / Aerodynamik

Porsche war in den beiden WM-Rennen in Spa und Silverstone von der Pole Position gestartet, verlor die Rennen aber jeweils knapp gegen Audi. Was der spezielle Low-Drag-Kit von Porsche wirklich kann, werden wir erst am Rennwochenende sehen. Beim Vortest herrschten wettermäßig stark gemischte Verhältnisse, was eine Einschätzung erschwert. Zwar markierte Porsche die Bestzeit, aber Audi lag mit 1,3 Sekunden Rückstand dicht dahinter.

Bei den Topspeeds war Audi beim Vortest schneller als Porsche, was insofern verwirrt, als Porsche bei den bisherigen WM-Rennen auf den langen Geraden wie beispielsweise in Spa immer deutlich schneller war als Audi. In der Theorie sollte Porsche mit dem neuen Low Drag Kit den Topspeedvorteil aus den WEC-Rennen aufrecht erhalten können. Im Porsche-Camp verweist man darauf, dass die kurzen trockenen Phasen beim Vortest nicht ausgereicht hätten, um den Vorteil auch auf der Strecke umzusetzen.

Andere Vermutung im Fahrerlager lauten, dass der Low Drag Kit von Porsche eventuell mit mehr Abtrieb operiert als erwartet, um beim Thema Reifenverschleiß einen Schritt nach vorne zu machen. Doch das sind im Moment alles Spekulationen, solange die LMP1-Fahrzeuge nicht für eine gewisse Zeit auf trockener Strecke unterwegs gewesen sind und ihre Abstimmungen herausgefahren haben. Vermutlich sehen wir die korrekten Topspeedwerte erst im Qualifying, das am Mittwoch- und Donnerstagabend stattfindet.

Reifenverschleiß

Wie bereits erwähnt ist der Reifenverschleiß auch auf Grund der Limitierung der Anzahl der Reifen ein Schlüsselthema in Le Mans, denn wer länger mit einem Reifensatz fahren kann, spart Standzeit beim Boxenstopp – unter der Voraussetzung, dass die Rundenzeiten bei Mehrfachstints nicht in den Keller fallen.

Dabei darf man aber die Erkenntnisse von Spa und Silverstone nicht auf Le Mans übertragen. Die Strecke an der Sarthe ist weniger rau als auf den GP-Strecken, weshalb Doppel- und Triple-Stints in der LMP1-Klasse tendenziell immer machbar sein sollten. Trotzdem kann der Reifenverschleiß das Zünglein an der Waage sein, denn wer Vierfach- oder gar Fünffachstints schafft, hat bei einem engen Rennverlauf, wo es um Sekunden geht, einen nicht zu unterschätzenden Joker der Hinterhand. Hier werden wir erst im Rennen sehen, welcher LMP1-Hersteller was wie gut kann. In diesem Bereich könnte Audi durch die Verwendung eines FRIC-Fahrwerkes nach F1-Vorbild über die Distanz einen Vorteil gegenüber Porsche haben.

Fazit

Der Porsche 919 Hybrid ist fraglos über eine Runde das schnellste LMP1-Auto der Saison 2015. Noch offen ist, wie gut der Low Drag Kit für Le Mans Abtrieb und Luftwiderstand gegeneinander ausbalanciert und ob Porsche seinen Topspeedvorteil verteidigen kann. Die zweite entscheidende Frage lautet: Ist Porsche beim Thema Reifenverschleiß auf Augenhöhe mit Audi? Die bisherigen WM-Rennen legen nahe, dass Audi hier einen Vorteil hat. Der dritte Knackpunkt schließlich ist das Thema Zuverlässigkeit. Ist Porsche schon im zweiten Jahr des LMP1-Engagements in der Lage, den vermutlich brutalen Speed an der Spitze mitzugehen, ohne bei der Zuverlässigkeit in Probleme zu laufen? Einige sagen ja, andere vermuten nein. Die Antwort wird erst das Rennen geben.