Die Welt der virtuellen Rennen
Was bleibt übrig vom Boom?

Rennserien, Autohersteller und Sponsoren wollen uns in der Coronakrise mit E-Racing bei Laune halten. Ist das nur Lückenfüllerei und Ersatzshow – oder gibt es eine langfristige Perspektive?

IMSA - E-Racing
Foto: IMSA

Rennsportfans haben es in der Coronakrise nicht leicht: Seit März 2020 schweigen die Motoren nahezu weltweit. Vorsichtig – manche sagen: zu vorsichtig – bahnt sich der reale Rennsport gerade den Weg zurück in seine Arenen: NASCAR hat Mitte Mai den Rennbetrieb aufgenommen, quasi unter Quarantänebedingungen, andere Topserien wie Formel 1 oder MotoGP planen im Juli ihren Neustart.

Weil der weltweite Motorsport mit einem Schlag auf null heruntergefahren wurde, behelfen sich die Träger des Sports, also Hersteller, Rennserienbetreiber und Sponsoren, mit einem Hallo-wach-Mittel: Virtual Racing, E-Racing, Simracing. Das Ziel ist immer das gleiche: Man will das Grundrauschen aufrechterhalten, damit das Steckenpferd Motorsport nicht komplett absäuft. Das ist zu einem guten Teil nachvollziehbar.

Unsere Highlights
Porsche - E-Racing
Porsche
Im digitalen Porsche durch die Corkscrew: Grafisch haben manche Rennspiele noch Luft nach oben.

Kein Ersatz für echten Motorsport

Doch nahezu alle Motorsport-Insider, egal ob Ingenieure, Fahrer, Medien oder Fans, tun sich mit der virtuellen Seite des Motorsports schwer. All jene, die für Hersteller arbeiten, halten sich gerne bedeckt, denn die Hersteller pushen das Thema wie blöd. Warum? Weil ihre Motorsportabteilungen mit E-Racing öffentlich und intern abbilden können, dass sie existieren und einen Daseinszweck haben. "Wir kämpfen ums Überleben, und E-Sports ist ein Element, wie wir den Kopf über Wasser halten können", erklärt ein Herstellervertreter, dessen Name uns gerade entfallen ist.

Er kann auch noch eine schöne Analogie bieten, die bedenkenswert ist: "Mit E-Racing verhält es sich ganz ähnlich wie mit der Formel E: Wir erreichen die klassischen Rennfans und die breite Öffentlichkeit mit diesem Ansatz nur sehr eingeschränkt." Womit immerhin schon mal die Einsicht formuliert wäre, dass E-Racing keinesfalls ein gleichwertiger Ersatz für den realen Motorsport zu sein scheint.

Wir haben festgehalten, dass die zentralen Träger im Rennsport, also Hersteller, Serienbetreiber und Sponsoren, das Thema pushen. Aber welche Strategie steckt dahinter? Ist das primär kurzfristig auf Eigennutz gepolt? Oder soll Simracing langfristig als Ergänzung oder sogar Ersatz für den echten Rennsport aufgebaut werden?

Denn eines ist mal klar: Mit der Coronakrise kommt die Wirtschaftsrezession, parallel werden die Zulassungsbedingungen für Rennveranstaltungen aus umweltpolitischen Gründen permanent verschärft. Will sagen: Der Motorsport steht eben nicht nur temporär wegen Corona unter Rechtfertigungsdruck.

IndyCar - E-Racing
IndyCar
Fast alle großen Rennserien haben die Coronakrise mit digitalen Ablegern überbrückt.

Reale Welt, digitale Kopie

Einige Hersteller wie Porsche kauen schon länger auf dem Knochen E-Racing herum. Marco Ujhasi, der früher als Projektleiter die echten 911 RSR für die Rennstrecke entwickelte, leitet heute die E-Sports-Abteilung bei Porsche Motorsport und ist in dieser Position in der Lage, die Szenarien aus der Herstellersicht eloquent aufzudröseln.

Der Grundsatz von Ujhasi lautet: "Die reale Welt ist die Voraussetzung für die digitale Welt." Ohne den realen Motorsport gäbe es keine digitale Kopie. Ujhasi plädiert dafür, den aktuellen Hype nicht überzubewerten: "Durch die Coronakrise feiert E-Sports gerade eine große Party, doch schon 2021 könnte der Kater folgen, wenn der reale Motorsport mit Wucht zurückkommt."

Will sagen, man muss den kurzfristigen Hype von langfristigen Trends unterscheiden. Es ist sogar theoretisch nicht ausgeschlossen, dass die Simracing-Gemeinde am Ende der Coronakrise nicht besser dasteht als vorher – trotz Hype.

Kurzfristige Überlegungen spielen beim Porsche-Engagement im Sektor E-Sports keine Rolle, wie Marco Ujhasi erklärt: "Wir unterscheiden zwei Handlungsstränge: Wir unterstützen virtuelle Rennen, weil dort unsere Produkte aus der realen Welt als digitale Kopien mitfahren, wie zum Beispiel beim Porsche Esports Supercup. Für diesen Ansatz braucht man einen langen Atem, wir setzen hier auf Planbarkeit, auf die Unterstützung der Community und auf kontinuierliches Wachstum."

E-Racing - Motorsport
Porsche
E-Racing ist für Rennserien, Autohersteller und Sponsoren eine gute Werbeplattform - auch, um im Gespräch und in den Köpfen zu bleiben.

Digitalbruder als Servicetool

Der zweite Handlungsstrang besteht darin, einen digitalen Bruder des realen Rennsports zu "bauen", besonders für die Teams und für deren Piloten. "Auf diese Weise können sich Teams und ihre Piloten auf reale Renneinsätze oder neue Rennstrecken gezielt vorbereiten und einen zusätzlichen Mehrwert für ihre Kunden und Partner anbieten", hält Ujhasi fest.

Der eigentliche sportliche Wettbewerb im digitalen Umfeld steht dabei nur auf Platz vier der Porsche-internen Prioritätenliste: "Uns geht es erstens darum, dass wir als Porsche mit unseren Autos fahren, zweitens, dass wir langfristige Partnerschaften in dem Segment etablieren. Drittens ist E-Sports hervorragend für besondere Anlässe geeignet, wie ein Charity-Rennen für einen guten Zweck. Erst danach geht es bei uns auch um das klassische Thema Wettbewerb."

Die Coronakrise fällt nach dieser Lesart zum Beispiel in die Kategorie "besondere Anlässe": "Wir können durch dieses Tool als Hersteller zurzeit zum Beispiel Rennserien unterstützen, die sonst keinerlei öffentliche Plattform hätten", so Ujhasi. Neben den digitalen Markenpokalen bespielt Porsche aktuell deshalb auch die iRacing-Formate der amerikanischen IMSA-Serie, der Langstrecken-Serie Nürburgring (VLN) oder das virtuelle 24h-Rennen in Le Mans, das als Ersatz des verschobenen realen Rennens am 13./14. Juni stattfindet.

IndyCar - E-Racing
IndyCar
In der digitalen Welt sind viele professionelle Zocker schneller als die echten Rennfahrer.

Simracing eine Spezialdisziplin

In der Praxis tut sich übrigens ein interessanter Graben zwischen spezialisierten Simracern auf der einen Seite und realen Werksfahrern auf der anderen Seite auf, zumindest dort, wo sie im gleichen Rennen direkt aufeinandertreffen: Denn in aller Regel schlagen die erfahrenen Simracer die hoch bezahlten Profis um Länge mal Breite – natürlich auch ein Grund, warum die Werksfahrer den direkten Vergleich gerne scheuen.

Porsche-Werksfahrer Laurens Vanthoor bringt das offen auf den Punkt: "Bisher habe ich meinen Heimsimulator nur zum Spaß genutzt, das war ein Spielzeug." Vanthoor musste aber lernen, dass reale und digitale Autorennen Spezialdisziplinen sind: "Wir kommen relativ schnell nah ran an die Simracer, aber die letzte halbe Sekunde zu finden, ist eine echte Wissenschaft und erfordert viel Einsatz und viel Zeit", sagt Vanthoor. "Simracing ist eine Spezialdisziplin, die eigentlich nichts mit meiner Spezialdisziplin zu tun hat. Es ist so, als würde ich eine völlig andere Sportart betreiben, die ich zum ersten Mal praktiziere – obwohl man in beiden Disziplinen Autorennen fährt!"

Es sei hinzugefügt, dass der Leidenschaft beim Simracing keine Grenzen gesetzt sind: Weder sind die Kosten limitiert noch die Testarbeit. Wer also gewillt ist, über Jahre 12 bis 14 Stunden am Tag virtuell zu racen, der wird hier am Ende auch vorne liegen. Und natürlich ist das auch eine Altersfrage: "Vielleicht bin ich mit meinen 29 Jahren zu alt", so Vanthoor. "Der Porsche-Junior Ayhancan Güven ist jünger und im Simracing ein superschneller Fahrer. Ich glaube aber, dass er schon lange wie ein Verrückter trainiert, das sieht man dann an seinen Resultaten."

Formel E - Race at Home Challenge
Formula E
Ohne den realen Motorsport gäbe es keine digitale Kopie

Die Reichweite bei Simracing

Dieses Konfliktpotenzial ließe sich leicht entschärfen, indem man Profis und Simracer trennt: "Simracing wäre ein cooles Tool, wenn es eine Show bleibt und alle mit dem gleichen Auto, dem gleichen Setup und dem gleichen Reifendruck fahren", sagt Vanthoor. Die Simracer würden hier vermutlich die Nase rümpfen. Umgekehrt gilt: Welcher Profi-Rennfahrer lässt sich gerne öffentlich von Simracern abkochen? Andererseits wollen die Hersteller große Namen ins E-Racing schleusen, um so mehr Aufmerksamkeit für diese Spielart des Rennsports zu generieren.

Aber zurück zu den großen Zusammenhängen und der oft diskutierten Frage: Wie steht es eigentlich um die Zahlen beim Simracing, also Zugriffe oder altdeutsch "Einschaltquoten"? Nicht so gut. "Es bringt nicht viel, das ist Fakt", hält Ujhasi fest. "Die Reichweite im Internet ist extrem verästelt, daher ist der zentrale Faktor, wie viel Medienwert ich pro eingesetztem Euro wirklich erhalte, kaum seriös zu beantworten."

Zwei Fakten im Nachsatz: Abgesehen von Ausnahmen ist diese Relation zwischen Euro und Medienwert auch im realen Motorsport nicht immer gravierend toll. Zweitens sind digitale Reichweiten auch bei wohlwollender Betrachtung immer deutlich geringer als jene im Fernsehen.

Marco Ujhasi plädiert dafür, die Füße auf dem Boden zu lassen: "Für uns als Porsche geht es darum, unsere eigenen Rennen zu fahren und darüber hinaus für die Marke Porsche eine Community und Credibility zu erzeugen. Denn Motorsport ist sehr nah an der Marke Porsche dran – egal ob real oder virtuell."

Porsche Esports Supercup
Porsche
Die große Frage lautet: Was passiert mit eSports und Simracing nach der Coronakrise?

Kurzer Hype dank Stillstand?

Schwenken wir in der Betrachtung von E-Sports auf die Fanperspektive um. Das Publikum ist im Motorsport tendenziell älter, womit die Akzeptanz von Online-Gaming oder Simracing in vielen Fällen eher gering ausgeprägt ist. Aber selbst jüngere Altersgruppen dürften sich die Sinnfrage stellen: Warum soll ich anderen Menschen beim Spielen zuschauen? Selbst an der Playstation-Konsole zu zocken – das mag für jüngere Fans als nette Freizeitbeschäftigung taugen, doch das ist eher das Spieleniveau.

Simracing ist hoch spezialisiert und aufwendiger, die entsprechende Community ist eher klein. Immerhin bieten die digitalen Versionen und Plattformen eine Möglichkeit der Teilhabe: Wer sich realen Rennsport oder das Fahren auf der Rennstrecke nicht leisten kann, kann über Spiele in eine täuschend echte, virtuelle Welt abtauchen – und womöglich in der realen Welt wieder als Motorsportfan auftauchen.

Doch die grundsätzliche Frage bleibt: Warum soll man sich ein Spiel ansehen? Zumal die grafischen Umsetzungen oft sehr enttäuschend ausfallen, ob als Bewegtbild im TV oder auch in der fotografischen Vermittlung, wie an den Bildern zu dieser Geschichte unschwer zu erkennen ist.

Und es bleiben noch mehr Fragezeichen: Die echten Athleten würden darauf verweisen wollen, dass Simracing kein Sport ist, und damit haben sie recht. Zweitens fehlt dem virtuellen Rennsport natürlich jede Dimension der Gefahr, die aber essenziell zum realen Sport dazugehört. Auf Spiele- oder Digitalniveau gibt es keine Konsequenzen für Fahrfehler oder leichtfertig ausgelöste Massencrashs – in der realen Welt zahlt man womöglich mit dem Verlust der körperlichen Versehrtheit, auf jeden Fall aber mit seinem Geldbeutel.

Doch neben der Ferne und der Unterschiedlichkeit gibt es auch wieder eine Nähe: Aus der Spiele-Idee und den Heimsimulatoren entstanden auch die sündteuren "echten" Simulatoren, die heute von allen Herstellern genutzt werden – auch um Rennautos zu entwickeln. Für den Motorsport scheint es so zu sein, dass der reale Sport wirklich die Voraussetzung für die digitale Kopie ist. Im Moment erfährt die Kopie einen großen Hype, weil die Realität stillsteht. Läuft sie wieder an, wird sich das Verhältnis sehr schnell wieder drehen.