Vorschau 24h-Rennen Le Mans 2015
Audi, Porsche oder doch Toyota?

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Audi hat die Überholspur gepachtet: Beim WM-Lauf in Spa stand wieder ein R18 e-tron Quattro auf dem obersten Podestplatz. Was bedeutet das für den WM-Saisonhöhepunkt in Le Mans Mitte Juni? Und warum fährt Toyota jetzt plötzlich hinterher?

Nissan GT-R LM Nismo - Le Mans-Vortest 2015
Foto: xpb

2.419 Kilometer Renndistanz liegen in der LMP1-Saison 2015 hinter uns, zwei Audi-Siege stehen in den Resultatslisten. Kann man aus zwei Rennen eine statistische Prognose für das 24h-Rennen in Le Mans ableiten? Zu beachten wäre da noch, dass die bisherigen Rennen mit lächerlichen Vorsprüngen gewonnen wurden – mit 4 und 13 Sekunden. Und überhaupt: Ist das Streckenprofil von Le Mans mit seinen fünf bolzenlangen Geraden nicht völlig anders? Die Distanz nicht viermal so lang wie bei normalen WM-Läufen? Und fahren die LMP1-Projektile in Frankreich nicht mit einer ganz speziellen Aero-Spezifikation?

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Sprintrennen mit Langstreckenautos

"Alles, was ich bisher gelernt habe, deutet darauf hin, dass es höllisch eng wird" – weiter will sich auch Joest-Technikdirektor Ralf Jüttner nicht aus dem Fenster lehnen. Gewissheiten gibt es nach den ersten beiden WM-Rennen in Silverstone und Spa sicher nicht. Jedoch Trends: Audi schloss die Saison 2014 als bemitleideter Underdog ab – und drehte den Spieß in der viermonatigen Winterpause um.

Porsche galt vor der Saison als klarer Topfavorit in der LMP1-Klasse – doch die Bäume wachsen nicht in den Himmel, egal, wie gut man sie gießt. Toyota dominierte das LMP1-Geknödel in 2014 über weite Strecken, jetzt hängen die Japaner aus Köln plötzlich im Schacht und scheinen nicht recht zu wissen, wie sie da wieder rauskommen sollen. Den Fans kann das nur recht sein: das 24h-Rennen Le Mans 2015 wird wie die bisherigen WM-Rennen ein Thriller – komme, was da wolle.

Der scharfe Wettbewerb führt mittlerweile zu Zweikämpfen, die Sprintrennen alle Ehre machen würden. Beispiel Spa: Zweimal kreuzten sich die Strategien der beiden Sieganwärter Porsche und Audi direkt auf der Strecke. In Runde 114 wollte Porsche-Pilot Marc Lieb mit frischeren Reifen an Audi-Pilot André Lotterer vorbei, der gerade den zweiten Stint auf dem gleichen Reifensatz absolvierte. Lotterer verteidigte die Führung hart und abgebrüht, Lieb kam nicht vorbei.

17 Runden später schaffte Lieb nicht, was Lotterer zuvor gelang: Auf alten Reifen konnte er Audi-Pilot Benoît Tréluyer nicht in Schach halten, mehrfach wechselte die Führung, Tréluyer küsste sogar das Heck von Liebs Porsche und konnte später in der Fagnes-Kurve außenrum vorbeigehen – die Vorentscheidung zugunsten von Audi in einem Rennen, in dem es um Sekunden ging, nicht um Minuten – wie sonst üblich in einer Langstrecken-WM. Die fantastischen Duelle aus den Runden 114 und 131 zeigen, wie hart der Wettbewerb ist und welch große Rolle das Thema Reifenverschleiß spielt. Denn Liebs Doppelstint war nicht annähernd so gut wie der von Lotterer zuvor im Audi – das Reifenmanagement entschied wie schon in Silverstone das Rennen. Wird es nun in Le Mans ähnlich laufen?

Reifenverschleiß als Schlüssel beim 24h-Rennen Le Mans 2015

Audi hofft ja, Porsche und Toyota hoffen nein. Die Reifen allein werden in Le Mans nicht den Ausschlag geben – aber sie werden eine große Rolle spielen. Wir erinnern uns: Im letzten Jahr dominierte Toyota die WM, weil sie den kleinsten Reifenverschleiß hatten, und das machte über weite Strecken den Unterschied. Was viele vergessen: Mit Einführung des neuen LMP1-Reglements 2014 schrumpften die Reifenbreiten auf LMP2-Format, die Fahrer verspotteten die Pneus als "Formel-3-Reifen".

Parallel stieg aber die Leistung, besonders durch die Hybridsysteme – und damit der Stress für die Reifen. Audi hat für 2015 offenbar die richtigen Konsequenzen gezogen. Wie schon im Vorjahr setzen die Bayern auf viel Abtrieb am R18 e-tron – deutlich mehr als Toyota und Porsche –, denn hoher Anpressdruck verringert die Rutschphasen und damit den Reifenverschleiß. Zweitens hat man mit viel Akribie alle Reifenoptionen von Michelin bei Konstruktion und Mischung für alle nur denkbaren Temperaturfenster durchgetestet – und offenbar die richtige Wahl getroffen.

Und drittens fährt Audi ein sogenanntes FRIC-Fahrwerk, bei dem Hinter- und Vorderachse über eine Hydraulik dergestalt in Wirkverbindung stehen, dass die Aero-Plattform des Gesamtfahrzeuges immer im optimalen Fenster bleibt. Das bietet mehrere Vorteile: stabilerer Abtrieb auch bei Nick- und Rollbewegungen, eine tiefere und damit effizientere Abstimmung der Vorderachse und ein tendenziell weicheres Fahrwerks-Set-up – all das hilft natürlich auch beim Reifenverschleiß.

Porsche hat am 919 Hybrid ein vergleichbares System probiert, aber zurückgestellt, da sie bereits ein komplexes Fahrwerk (Hub-Wank) verwenden, bei dem nur die Räder einer Achse in Wirkverbindung stehen und das rein auf Fahrdynamik getrimmt ist – nicht auf Aerodynamik. Toyota verwendet wie Audi ein FRIC-System, profitierte aber in Spa nicht in gleichem Maße wie der Gegner – wohl ein Abstimmungsproblem, das zuvor in Silverstone so nicht auftrat.

Hat Audi die goldene Kugel im Lauf?

Fakt ist, dass Audi beide WM-Läufe über gute Taktik und noch besseren Reifenverschleiß für sich entschied. "Aber der Belag in Le Mans ist weniger rau und aggressiv als auf den modernen GP-Strecken", wendet Toyota-Technikdirektor Pascal Vasselon ein. Triple-Stints sind für die LMP1-Teams in Le Mans Pflicht, aber diejenigen, die Vierfach- oder sogar Fünffach-Stints schaffen, haben eine zusätzliche goldene Kugel im Revolverlauf, als Joker sozusagen.

Blickt man noch mal nach Spa, so werden die Schwerpunktsetzungen und Stärken von Audi klar. Obwohl die beiden Audi-Topwagen mit dem Le-Mans-Paket für wenig Luftwiderstand antraten, waren sie im kurvenreichen zweiten Sektor, der viel Abtrieb erfordert, schneller als Toyota und Porsche mit ihrer WM-Spezifikation für viel Abtrieb – und kaum langsamer als der dritte Audi in WM-Spezifikation! Gleichzeitig schrumpfte die Topspeed-Lücke zu den leistungsmäßig überlegenen Porsche auf 8 km/h. Will sagen: Der Le-Mans-Kit von Audi verheiratet eine gute Schippe Abtrieb mit wenig Luftwiderstand.

In der Wertung 20 Prozent der schnellsten Rennrunden unter Grün, die ein Gefühl für den Grundspeed der LMP1-Wagen gibt, lag der siegreiche Audi R18 e-tron nur marginal über dem zweitplatzierten Porsche. Es steht also zu erwarten, dass Audi in Le Mans über die Distanz bockstark sein wird: ein schnelles Auto, powermäßig leicht unterlegen, beim Reifenverschleiß im Moment aber tonangebend, dazu ein Team mit extrem viel Erfahrung. 

Bei der Zuverlässigkeit patzten alle drei Hersteller in Spa, was so kurz vor dem 24h-Rennen Le Mans 2015 Anlass zur Sorge bereiten sollte. So musste auch bei einem Audi nach Elektronik-Gremlins ein Steuergerät getauscht werden. Und der Verbrauch? In Silverstone fuhr Porsche länger als Audi, in Spa waren alle drei Hersteller mit jeweils 24 Runden pro Tankfüllung auf identischem Niveau unterwegs. Dennoch könnte es passieren, dass Porsche in Le Mans eine Runde länger fährt als Audi. Das kann im Extremfall eine Zeitersparnis von drei Stopps oder 180 Sekunden bedeuten. Über die projektierte Renndistanz von circa 360 Runden müsste Audi also eine halbe Sekunde pro Runde schneller fahren als Porsche, um diesen Nachteil zu kompensieren.

Porsche 919 Hybrid ist sehr schnell, aber ...

"In Spa wollen wir siegen", sagte Porsche-Werkspilot Neel Jani im Vorfeld. Den Sieg hat man zwar nur um 13 Sekunden verpasst, aber das Layout der Strecke in Belgien hätte eigentlich zum Porsche 919 Hybrid gepasst. Der glänzt mit viel Power vom Verbrennungsmotor und dem stärksten Hybridsystem. Über eine Runde ist Porsche kaum zu schlagen: In Spa schraubten die Schwaben die Pole-Zeit auf 1.54,7 Minuten – 6,4 Sekunden schneller als im Vorjahr!

Konzeptionell sollte 2015 das Jahr von Porsche sein: Hocheffzienter Motor, klein und leicht, was viel Spielraum für viel Hybrid ermöglicht – der Porsche 919 Hybrid ist am radikalsten auf das aktuelle LMP1-Reglement zugefeilt. Porsche muss in diesem Jahr das schöne Wetter aber auch nutzen. Leistung allein gewinnt keine Rennen, das Thema Reifennutzung schwelte schon im letzten Jahr, und nicht umsonst gewann man 2014 nur einmal – auf einer neu asphaltierten Strecke, die viel Grip bot und wenig Verschleiß erzeugte.

Porsche hat sich beim Thema Reifennutzung verbessert, aber Audi ist die Benchmark, wie Spa belegte. Lotterer verlor bei seinem Doppelstint im zweiten Teil im Schnitt nur 0,3 Sekunden pro Runde im Vergleich zum ersten Teil, beide Stints waren 24 Runden lang. Marc Lieb verlor 1,2 Sekunden – und musste den Doppelstint vorzeitig nach 16 Runden beenden, sonst hätte Porsche alle Chancen eingebüßt, das Rennen bis zum Schluss offen zu halten.

Audi-Pilot Benoît Tréluyer gab Porsche den Rest, als er seinen Reifen zu Rennende sogar zweieinhalb Stints zumutete. Während Neel Jani im Porsche mit der Startnummer 18 bei seinem parallelen Doppelstint im zweiten Teil einen Rundenzeiten-Drop von netto zwei Sekunden pro Runde verkraften musste, verlief die Drop-Kurve bei Tréluyer deutlich sachter.

Operativ hat Porsche den ersten Probelauf mit dem Einsatz von drei Autos in Spa recht souverän gemeistert. Damit dürfte das dritte Auto in Le Mans ein zusätzlicher Trumpf sein – unter der Voraussetzung, dass die Haltbarkeit passt. In Silverstone wurde ein 919 von einem Getriebeschaden gestoppt, in Spa musste an einem Auto ein Dämpfer gewechselt werden, und auch das dritte Auto um F1-Star Nico Hülkenberg hatte Dämpferprobleme. Der extreme Speed und der maximale Wettbewerbsdruck lassen bei allen Herstellern Fragezeichen bei der Zuverlässigkeit aufpoppen.

Toyotas Dominanz ist weg

Toyota kommt gerupft nach Le Mans. Der letztjährige Dominator kam in Spa gehörig unter die Räder. Im Zeittraining verlor man fast drei Sekunden auf die Porsche-Bestzeit, im Rennen fehlten im Mittel gut 1,7 Sekunden pro Runde. Die Suche nach den Gründen gestaltet sich schwierig: Zwar hinkte Toyota schon in Silverstone hinterher, war aber im Rennen bei der Pace gleichauf mit Porsche.

Projektleiter John Litjens glaubt, dass man bei der Motorleistung im Hintertreffen ist, und Technikchef Pascal Vasselon wollte nicht leugnen, dass das japanische Werksteam im nächsten Jahr auf Turboantrieb wechseln wird. Dazu hat Porsche mehr Saft vom Hybridsystem, auch bei der Aerodynamik flutschten Toyota einige Zehntel davon – und zu allerletzt hat man sich wohl auch bei der Abstimmung in Spa ziemlich vergriffen. Das größte Dilemma besteht darin, dass man die letztjährige Stärke – den guten Reifenverschleiß – nicht in die Saison 2015 rüberretten konnte.

Als Sébastien Buemi in Spa als erster LMP1-Pilot einen Doppelstint wagte, ging das gründlich in die Hose: Binnen 24 Runden verlor der Schweizer weit über eine Minute auf die Gegner – zwischen 20 und 30 Sekunden wären akzeptabel gewesen. Auch beim Thema Zuverlässigkeit hakte es im Toyota-Camp: Erst musste ein Lenkrad gewechselt werden, später ein Elektronikmodul. Dazu setzt Toyota in Le Mans aus Budgetgründen nur zwei Autos ein – ein strategischer Nachteil.

"Unser Low-Downforce-Kit funktioniert gut, daher hoffe ich, dass wir in Le Mans näher an der Konkurrenz dran sind als in Spa", so Vasselon. Das Rennen in Belgien wertet der Franzose als Ausrutscher: "Durch die Höhenlage von Spa verlieren wir mit dem Saugmotor Leistung, was nicht hilft. Dazu haben wir die Abstimmung nicht getroffen, und mit unserer WM-Spezifikation hatten wir aerodynamisch in Spa eher einen Nachteil." Bleibt zu hoffen, dass Spa für Toyota ein Ausrutscher war und Silverstone das wahre Performance-Potenzial korrekt abgebildet hat. Andererseits scheiterten die Japaner immer dann in Le Mans, wenn sie mit einem halbwegs überlegenen Auto antraten – wie 2014. Vielleicht ist es ja diesmal umgekehrt?

Duell? Dreikampf? Sicher kein Vierkampf!

Toyota wird mit dem TS040 Hybrid in Le Mans keine Chance auf die Pole-Position haben, obwohl ihre Simulation angeblich eine (theoretische) Rundenzeit von 3.15 Minuten vorhersagt. Der krasse Speed ist das Hauptgesprächsthema im LMP1-Fahrerlager, vor allem im Hinblick auf den Saisonhöhepunkt in Le Mans. Ursprünglich hatte der Veranstalter ACO mal die Parole ausgegeben, dass die LMP1-Wagen dort nicht schneller als 3.30 Minuten fahren sollen. Heute wird von Quali-Zeiten im Bereich des Uralt-Streckenrekords von 3.13 Minuten (von 1971!) gemunkelt, und von Rennrunden deutlich unter 3.20 Minuten. ACO-Präsident Pierre Fillon hob in Spa schon mahnend den Zeigefinger: "Das ist zu schnell, wir werden die LMP1- Rennwagen für 2016 einbremsen müssen."

Ohne das Reglement vom Kopf auf die Füße zu stellen, bleiben da nur zwei Möglichkeiten: noch weniger Energie für den Verbrennungsmotor und eventuell eine Reduzierung der Hybrid-Power – oder zumindest eine Begrenzung der Incentivierung für hohe Hybridklassen, zum Beispiel oberhalb von 6 MJ.

Sollte das kommen, würde das die bereits geäußerte These unterstreichen, dass Porsche 2015 alle Trümpfe in der Hand hält. 8 MJ im Verbund mit 870 Kilo, dazu ein radikales Hybridkonzept mit Abgasenergierückgewinnung, das auch in den Beschleunigungsphasen rekuperiert – das katapultiert Porsche eigentlich in die Favoritenrolle für die Saison. Jedoch muss Porsche in Le Mans erst unter Beweis stellen, dass ihr Paket dauerhaltbar ist – und nicht nur die Reifen auffrisst. Audi wird in Le Mans jeden Fehler oder Fauxpas gnadenlos bestrafen. Aber vielleicht hetzen sich die Speed-Bolzer Porsche und Audi beim 5.500-Kilometer-plus-Marathon auch gegenseitig zu Tode? Toyota ist ja auch noch da. Nur die Nissan sind dann schon wieder zu Hause.