Original-Test Mercedes 450 SEL 6.9
Hydropneumatik für überragenden Komfort

Der Mercedes 450 SEL 6.9 setzt neue Maßstäbe in der automobilen Spitzenklasse. Den Artikel verfasste Helmut Eicker in Heft 21/1975.

75 Jahre AMS 11.02.2021 Mercedes 450 SEL.
Foto: Hans Peter Seufert

Für den seit Jahren anhaltenden geschäftlichen Erfolg von Daimler-Benz – selbst im Krisenjahr 1974 blieben die Stuttgarter Autobauer von jedweder Kurzarbeit verschont – gibt es naturgemäß eine ganze Reihe von Erklärungen: Die weite Streuung des Produktionsangebots auf Personen- und Lastwagen, auf Busse und Großmotoren, die behutsame Expansions- und Modellpolitik sowie die beispiellose Kultivierung des Diesel-Personenwagens zählen zu den wichtigsten.

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Nicht minder bedeutungsvoll für den Dauererfolg der ältesten Autofabrik der Welt sind aber auch das konsequente Streben nach hochentwickelter Technik und bestmöglicher Qualität, nach Sicherheit und werterhaltender Modellkonstanz. Als beredtes Beispiel für diese Firmen-Philosophie kann der im Mai präsentierte Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 gelten, der als Spitzenmodell der S-Klasse und als Nachfolger des 1972 ausgelaufenen, bis dahin rund 6.500-mal verkauften 300 SEL 6.3 auftritt.

75 Jahre AMS 11.02.2021 Mercedes 450 SEL.
Hans Peter Seufert
Während sich der 6.9 äußerlich eher schlicht gibt, dokumentiert er seine Spitzenstellung innerhalb der Baureihe durch eine ungewöhnlich hochwertige und reichhaltige Ausstattung.

Außergewöhnlich sorgfältig wurde bei dem anspruchsvollen Projekt 6.9 nicht nur die technische Seite behandelt – mit Bedacht und viel Gespür wurde selbst der Zeitpunkt für den Serienanlauf gewählt: Man wartete damit, bis die Diskussion um das Auto wieder sachlicher und damit freundlicher geführt wurde. Nicht minder gründlich wurde bei der Frage verfahren, wie sich das neue Flaggschiff rein äußerlich präsentieren solle. Schließlich konkurriert der 6.9 in der absoluten Spitzenklasse des internationalen Automobilbaus, wo Repräsentation und Prestige bekanntlich gewichtige Rollen spielen und wo nicht wenige potente Käufer auf Anhieb erkennen lassen möchten, in welch nobler automobiler Preisklasse sie sich angesiedelt haben.

In Untertürkheim entschied man sich indes für vornehmes Understatement und ummantelte die aufwendige 6.9-Technik mit der vergleichsweise schlichten Karosserieform, die auch für die Modelle 280 SEL, 350 SEL und 450 SEL verwendet wird, wobei es nach gut schwäbischer Sitte freilich nicht am Hinweis auf die wirtschaftlichen Vorteile dieser Lösung fehlt. Tatsächlich lässt sich das Top-Modell der S-Klasse nur an der Heckaufschrift, an den serienmäßigen Scheinwerfer-Wischern und an der etwas breiteren Reifen-Dimension erkennen. Dass der Vorstandsbeschluss richtig war, den 6.9 in der jetzigen Form zu bringen, lässt sich bereits heute erkennen: Um der Nachfrage entsprechen zu können, musste die ursprünglich vorgesehene Produktion von 1.000 Einheiten pro Jahr verdoppelt werden.

75 Jahre AMS 11.02.2021 Mercedes 450 SEL.
auto motor und sport
Den Artikel verfasste Helmut Eicker in Heft 21/1975.

Mit Velourspolstern

Funktionelle oder sicherheitstechnische Nachteile brauchten bei der seit 1972 in Produktion befindlichen Karosserie ohnehin nicht in Kauf genommen zu werden. Mit dem hohen Qualitäts- Niveau, den großzügigen Platzverhältnissen, der gediegenen Ausstattung und so durchdachten Details wie den schmutzabweisenden Windleitprofilen im Bereich von Front-, Heck- und Seitenscheiben genügt sie auch heute noch allerhöchsten Ansprüchen.

Lässt schon der normale 450 SEL im Karosseriebereich kaum Wünsche offen, so verwöhnt der 6.9 seine Passagiere zusätzlich durch eine Reihe wertvoller, serienmäßig eingebauter Ausstattungsdetails, durch die seine Spitzenstellung wirkungsvoll unterstrichen wird. Für körperliches Wohlbefinden sorgt eine nach dem Kühlschrank-Prinzip arbeitende, in das Heizsystem integrierte Klima-Anlage, die zudem durch eine Wärmeschutz-Rundumverglasung unterstützt wird. Wohlbefinden vermitteln auch die hochwertige Velourspolsterung, die Höhenverstellung an beiden Vordersitzen sowie die klappbare Armlehne am Beifahrersitz, durch die allerdings der bequeme Zugriff zur Lehnenverstellung beeinträchtigt wird.

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Hans Peter Seufert
Überdurchschnittliche Sicherheitsmerkmalen und hervorragende Verarbeitungsqualität sowie eine reichhaltige, hochwertige Serienausstattung zeichnen den 450 SEL 6.9 aus.

Während Automatik-Dreipunktgurte und Kopfstützen an allen vier Sitzen der Unfallsicherheit dienen, erleichtern Servolenkung, automatisches Getriebe, Zentralverriegelung und elektrische, beim Testwagen jedoch allzu gemächlich operierende Fensterheber die Bedienung. Ohne Aufpreis bekommt man beim 6.9 schließlich auch einen Drehzahlmesser mit integrierter Quarzuhr sowie Verbundglas an Front- und heizbarer Heckscheibe, bei der unnötiger Stromverbrauch dadurch vermieden wird, dass sich die Beheizung nach einer bestimmten Zeit selbsttätig abschaltet. Eine automatische Zeitschaltung ist auch bei der Innenraum-Beleuchtung vorgesehen, die nicht unmittelbar nach dem Schließen der Tür erlischt, sondern erst einige Sekunden später.

Eine vorwiegend für das Fahren auf geschwindigkeitsbeschränkten amerikanischen Fernstraßen nützliche Einrichtung ist der so genannte Tempomat. Ein kleiner Hebel links vom Lenkrad gestattet durch Antippen konstantes Einhalten aller beliebigen Geschwindigkeiten oberhalb von 40 km/h ohne Gas geben. Auch ohne diese technische Spielerei machte der Umgang mit dem Testwagen einmal mehr deutlich, durch welch unerreicht hohen Qualitätsstandard sich Sindelfinger Karosseriebau heute auszeichnet. Am leisen, aber dennoch satten Schlag der Türen dokumentiert er sich ebenso wie in deren absoluter Schließsicherheit oder in der perfekten Passform aller Innenraumverkleidungen — um nur einige Beispiele zu nennen.

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Mühelose Bedienbarkeit und hohe Qualität kennzeichnen das großzügige Interieur.

Im Gegensatz zum wenig differenten Äußeren unterscheidet sich die Technik unter der Karosserie des 6.9 sehr nachhaltig von derjenigen der Schwestermodelle. Aufbauend auf dem Achtzylindermotor des früheren 6.3 Liter ist in Untertürkheim ein Triebwerk entstanden, das nicht nur in Leistung und Laufkultur höchsten Ansprüchen genügt, sondern bei dessen Entwicklung auch zeitgemäße Forderungen an Wartungs- und Umweltfreundlichkeit berücksichtigt wurden. Die Anhebung des Hubraums, die durch Vergrößerung der Zylinderbohrung von 103 auf 107 mm (Hub 95 mm) zustande kam, wurde in erster Linie zur Kompensation leistungsmindernder Abgasreinigungs- Maßnahmen sowie ebenfalls Leistung aufnehmender Nebenantriebe für Hydropneumatik und Kältekompressor durchgeführt, hatte gewiss aber auch Prestige-Gründe.

Die Nennleistung des genau 6.834 ccm großen, mit einer Bosch-K-Jetronic ausgerüsteten V8 beträgt stattliche 286 PS bei 4.250 U/min. Nicht weniger eindrucksvoll ist der Drehmomentverlauf, der sein Maximum von 56 mkg bei 3.000 U/min erreicht und im weiten Bereich von 1.000 bis 4.200 Umdrehungen nicht unter die imponierende 50 mkg-Grenze absinkt.

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Der große Achtzylinder besticht gleichermaßen durch Kraft und Kultiviertheit.

Sportwagen-Fahrleistungen

Mit diesen Werten ist der 6.9 derart gut gerüstet, dass selbst das hohe Fahrzeuggewicht von knapp zwei Tonnen ein Vordringen des Luxusliners in sportwagenmäßige Fahrleistungsbereiche nicht verhindern kann. Bei den Messungen, die auto motor und sport mit dieser stärksten deutschen Limousine durchführte, ergaben sich für die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h 8,2 s, für den Kilometer mit stehendem Start wurden 28,8 s benötigt, und als Höchstgeschwindigkeit registrierten die Stoppuhren 234 km/h.

Sind diese Werte für sich schon höchst bemerkenswert, so erst recht die Art und Weise, wie sie im perfekten Zusammenspiel von Motor und automatischem Getriebe zustande kommen. Trotz der Schwere des Fahrzeugs sorgt die unbändige Kraft des gleichermaßen leisen wie geschmeidigen Triebwerks für ein Höchstmaß an Antriebskomfort und Fahrgenuss. Geräuschmindernd wirkt sich dabei die gegenüber dem 450 SEL längere, die Motordrehzahl herabsetzende Hinterachsübersetzung aus. Damit die hohe Antriebskraft auch sicher auf die Straße übertragen wird, ist das Differential mit Hilfe von Lamellen-Kupplungen selbsthemmend ausgeführt.

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Nicht auffällige Details, sondern betonte Gediegenheit bestimmen das Äußere des 70.000 Mark-Autos.

Erscheint diese Maßnahme für das Fahren auf trockener Fahrbahn auch ausreichend, so kann sie doch kaum darüber hinwegtäuschen, dass der 6.9 bei Glätte etwas schwieriger zu handhaben ist. Eine gewisse Verbesserung, auch in Bezug auf das hohe Gesamtgewicht, könnte hier durch Verwendung von Leichtmetall für den voluminösen Zylinderblock erzielt werden, weil auf diese Weise das Achslastverhältnis günstiger aufgeteilt würde.

Andere Motor-Details erscheinen hingegen auch langfristig zukunftssicher. So gewährleistet die Trockensumpfschmierung nicht nur Schmiersicherheit in extremen Fahrsituationen, sondern aufgrund ihres großen Ölvolumens auch eine Ausdehnung der Ölwechselintervalle auf 15.000 km. Wartungsfreundlichkeit wird außerdem durch eine kontaktlose und damit verschleißfreie Transistorzündung sowie durch den hydraulischen Ventilspielausgleich erzielt. Demselben Zweck dienen auch neuartige Zylinderkopfdichtungen aus Ferrolastic, die das speziell bei einem Achtzylinder aufwendige Nachziehen der Befestigungsschrauben überflüssig machen.

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Auch in extremen Fahrsituationen verhält sich der 6.9 fahrstabil und neutral.

Mit Hydropneumatik

Dass der Umgang mit dem Mercedes 6.9 zu einem insgesamt beeindruckenden Erlebnis wurde, liegt zu einem wesentlichen Teil an seinen hervorragenden Motoreigenschaften. Das überlegene Leistungspotential und die kultivierte Laufruhe verhelfen dem großvolumigen Achtzylinder zu einer absoluten Spitzenposition, die nicht zuletzt noch einen positiven Aspekt dadurch bekommt, daß sich der Testverbrauch mit 23,2 Liter/100 km angesichts der gebotenen Fahrleistungen und des hohen Fahrzeuggewichts in durchaus akzeptablen Grenzen hielt.

Auf ebenbürtigem technischem Niveau wie das Antriebsaggregat zeigt sich das Fahrwerk des 6.9. Bei den bei Daimler-Benz üblichen strengen Maßstäben für Fahrsicherheit und Federungskomfort war es angesichts der gebotenen Kraftentfaltung des V8 kein leichtes Unterfangen, hier eine adäquate Lösung zu finden. Nach Aussagen der Mercedes-Techniker war es trotz der schon beim 450 SE/SEL verwendeten Hinterachse mit Anfahrmomentausgleich und Bremsmomentabstützung und mit Bremsnickabstützung an der Vorderachse nicht möglich, mit einer konventionellen Stahlfederung die angestrebten — natürlich sehr hohen – Komfortergebnisse zu realisieren. Hatten solche Probleme beim früheren 300 SEL 6.3 seinerzeit zur Luftfederung geführt, so erhielt beim neuen 6.9 ein hydropneumatisches Federungssystem den Zuschlag, wie es in ähnlicher Form bereits seit langem erfolgreich von Citroën verwendet wird.

75 Jahre AMS 11.02.2021 Mercedes 450 SEL.
Daimler
Die hydropneumatischen Federelemente wurden in die Koppelachse integriert.

Der grundsätzliche Vorteil dieses Prinzips besteht darin, dass durch die automatische Niveauregulierung, die unabhängig von der Belastung für stets gleichbleibende Federwege sorgt, eine erheblich weichere Grundfederung gewählt werden kann. Diese größere Weichheit des Federungssystems führt gegenüber der Stahlfederung zu einem feinfühligeren Ansprechen selbst auf kleinen Bodenunebenheiten und somit zu einer insgesamt verbesserten Geschmeidigkeit. Bei groben Unebenheiten und bei abrupten Beschleunigungs- oder Bremsmanövern führt sie in Verbindung mit der besonderen Aufhängungskinematik an Vorder- und Hinterachse außerdem zu einer außerordentlich wirksamen Ruhighaltung des Aufbaus.

Überragender Komfort

Abgerundet wird das ungewöhnlich gute Komfortbild durch niedrige Abrollgeräusche, die selbst bei erhöhtem Luftdruck, wie er für Autobahnfahrten und hohe Belastung empfohlen wird, niemals störend wirken. Dämpfende Gummilagerungen zwischen der Karosserie und den einzelnen Federelementen halten nahezu alle von den Rädern ausgehenden Vibrationen und Schwingungen vom Aufbau fern.

Mehr noch als bei Besetzung nur mit dem Fahrer macht sich der hohe Fahrwerksaufwand bei voller Belastung bemerkbar: Während die Stahlfederung in solchen Situationen eher an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit kommt, sorgt der dann höhere Systemdruck der Hydropneumatik automatisch für ausreichende Federungsreserven.

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Die technischen Daten zum Mercedes 450 SEL 6.9.

Es ist das Verdienst der Mercedes-Ingenieure, dass trotz des überdurchschnittlich guten Federungskomforts die Fahrsicherheit des 6.9 nicht zu kurz gekommen ist. Angefangen beim absolut sicheren Geradeauslauf bei Höchstgeschwindigkeit über problemloses Kurvenverhalten bis hin zur präzise und spielerisch zu bedienenden Servolenkung vermittelt das große Auto stets stabilen, satten Fahrbahnkontakt. Das auch in schnellen Kurven weitgehend neutral bleibende Eigenlenkverhalten geht nur dann in ein gut kontrollierbares Übersteuern über, wenn zu viel Schub auf die Antriebsräder gegeben wird.

Im Gegensatz zu anderen, einseitig auf Komfort ausgelegten Limousinen ermöglicht der 6.9 jederzeit auch eine betont sportliche Fahrweise. Dass dabei die Bremsen mit dem kraftvollen Schwergewicht mitunter ihre Mühe haben, kann nicht übersehen werden, braucht aber auch nicht zu beunruhigen: Beginnendes Fading verliert sich bereits nach kürzester Fahrstrecke, und normaler Beanspruchung ist die Bremsanlage ohnehin gewachsen.

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Fazit

Zieht man das Fazit aus dem umfangreichen Testprogramm, dem der 450 SEL 6.9 unterworfen wurde, so ist es weniger eine einzelne, besonders hervorstechende Eigenschaft, die an diesem Auto fasziniert, als vielmehr die einmalige Ausgewogenheit und Perfektion, mit der alle Komponenten aufeinander abgestimmt sind. Überlegene Leistung, gediegene Ausstattung und hervorragende Fahrwerksqualitäten machen in ihrer Vollkommenheit aus dem 6.9 ein Auto, das in der Welt nicht seinesgleichen hat.

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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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