Interview mit Cem Özdemir
„Umstieg auf E-Mobilität ist nicht das Problem“

Bei Regierungsbeteiligung der Grünen ist Cem Özdemir ein möglicher Kandidat für den Posten des Bundesverkehrsministers. Das sagt er zur Verkehrswende und Zukunft der Mobilität.

Cem Özdemir
Foto: Getty Images
Was sind denn die Eckpunkte in Sachen Mobilität im Wahlprogramm der Grünen?

Wir setzen auf die Verkehrswende. Und das ist für mich nichts anderes als eine Modernisierung unseres gesamten Verkehrs. Mehr Fortschritt, mehr Lebensqualität, mehr Klimaschutz. Die Politik muss dafür einen Rahmen schaffen. Zum Beispiel über eine Mobilitätsgarantie im Nahverkehr und über einen Mobilpass, sodass die Angebote aller Tarifverbünde miteinander und mit Sharing-Angeboten und Ride-Pooling-Diensten verknüpft werden. Wir wollen die Schiene wieder stärker in die Fläche bringen. Seit 1994 wurden rund 5400 km Eisenbahnstrecken stillgelegt. Überall dort, wo es möglich ist, wollen wir reaktivieren. Zur Verkehrswende gehört für uns auch ein lückenloses Fahrradnetz und zu guter Letzt natürlich das Auto als beliebtes Verkehrsmittel. Das wollen wir sauber machen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger einen Freiheitsgewinn erfahren, indem sie selbst entscheiden können, mit welchem Verkehrsmittel sie sich bewegen, weil sie nicht länger aufs Auto angewiesen sind.

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Die EU will bis 2035 bei Autos die CO2-Neutralität erreichen. Was halten Sie davon?

Ich halte den Vorschlag für sinnvoll, auch wenn wir hier bei Neuwagen schon früher aus der fossilen Verbrennung aussteigen wollen. Entscheidend ist, dass die Zukunft mit Wucht vorangetrieben wird und das ist im Prinzip nichts anderes als eine Reaktion auf die Weltmärkte, die sukzessive auf E-Mobilität umstellen. Insofern will die Kommission endlich das absichern, was gerade global und auch bei den Automobilkonzernen passiert. Wenn man mit den Herstellern spricht, ist klar, dass der Umstieg auf die E-Mobilität längst vollzogen wird und heute eigentlich nicht mehr das Problem ist. Ich sehe eher das Problem: Wie schützt man die Wirtschaft vor ihren falschen Freunden in der Politik, die glauben, es besser zu wissen als die Autohersteller.

Was antworten Sie denn, wenn Sie an Klimaschützern wie "Sand im Getriebe" oder "No-IAA" geraten, die es auf die Autoindustrie abgesehen haben?

Ohne die Arbeit und den Druck von Umweltverbänden, Klimaschützerinnen und Klimaschützern und natürlich uns Grünen auf der einen Seite und kluger europäischer Gesetzgebung wie den CO2-Flottengrenzwerten auf der anderen Seite wäre die Transformation der Automobilwirtschaft heute viel weiter hinten dran, das ist ganz klar. Die Kritik war und ist zutiefst berechtigt, weil wir in der Vergangenheit leider wertvolle Zeit verloren haben, das rächt sich jetzt. Aber ich würde auch sagen, dass viele Menschen in der Autoindustrie mittlerweile wissen, worum es geht und was auf dem Spiel steht. Ich gehe in die Betriebe, ich rede auch mit der Arbeitnehmerseite. Nehmen wir zum Beispiel Daimler aus Stuttgart und ihre E-Mobilitätsstrategie, die sie kürzlich beachtlich nachgeschärft haben. Das ist auch notwendig, um international vorne mitzufahren. Alle wissen, unser Gegner ist nicht die Automobilindustrie und schon gar nicht die Menschen, die dort arbeiten. Das ist eine Leitindustrie für die Bundesrepublik Deutschland – auch für unseren Standort, was die Wertschöpfung angeht in vielen Regionen Deutschlands. Nun geht es darum, die progressiven Leute innerhalb der Industrie zu unterstützen und die Automobilwirtschaft klimaneutral und erfolgreich aufzustellen für die Zukunft.

Daimler hat in der Tat sehr umfassend angekündigt, wie stark sie auf Elektromobilität setzen. Auf der anderen Seite bringen sie Modelle wie den Mercedes EQS oder eine elektrisch angetriebene G-Klasse. Wir warten nur auf die Diskussion, was braucht es an leistungsstarken Elektroautos. Haben Sie da als Grünen-Politiker nicht auch das Gefühl, dass der Aufbruch in die falsche Richtung geht?

Ich brauche so ein Riesenauto tatsächlich nicht, aber klar, es fängt oft mit den Spitzenmodellen an und dann durchdringt die E-Mobilität langsam die gesamte Fahrzeugflotte. Entscheidend ist, dass wir beim PKW überall auf elektrische Antriebe umstellen. Dafür einen Rahmen zu schaffen, ist unser Job in der Politik. Aber natürlich geht es uns auch darum, Autos effizienter zu nutzen, zum Beispiel durch moderne Mobilitätsdienstleistungen wie Ride-Pooling und Car-Sharing. Es reicht nicht, 48 Millionen Verbrenner durch 48 Millionen E-Autos zu ersetzen. Wir wollen auch für echte Alternativen und Wahlfreiheit sorgen.

Wie ist Ihre Haltung zu synthetischen Kraftstoffen und zum Wasserstoff?

Die Klimakrise ist so weit fortgeschritten, dass wir auf gar nichts verzichten können. Aber wir brauchen nicht alles überall. Im PKW liegt die Batterie vorne, weil wir den Strom dort direkt einsetzen können. Ich bin auch im Gespräch mit der Luftfahrtindustrie, die wollen auch in Zukunft noch fliegen. Das einzige, was wir da absehbar nutzen können werden, sind synthetische Kraftstoffe. Der Bundestag hat eine Beimischungsquote synthetischer Kraftstoffe zum Kerosin von zwei Prozent im Jahr 2030 beschlossen. Da sind wir Grüne ambitionierter, wir wollen zehn Prozent. Allein für die zwei Prozent brauchen wir in der Herstellung 5,4 Terawattstunden Strom. Das ist deutlich mehr als der komplette Zuwachs beim Solarstrom im vergangenen Jahr. E-Fuels bleiben also sehr kostbar. Wir müssen im jeweiligen Verkehrsträger das einsetzen, was unter den Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit, des Wirkungsgrads, der Verfügbarkeit und des Preises am günstigsten ist. Klimaschutz heißt effizient wirtschaften.

Wo würden Sie Wasserstoff sehen?

Selbstverständlich brauchen wir Wasserstoff, aber er muss grün sein und wir müssen ihn dort einsetzen, wo wir Strom nicht direkt nutzen können. Denken Sie an die Chemie- oder die Zementindustrie. Da sind wir dringend drauf angewiesen. Aber im PKW-Bereich sind die Würfel gefallen oder ist die Messe gelesen, welches Bild man immer auch nehmen möchte. Da ist die batterieelektrische Mobilität am günstigsten. Und noch ein Wort zu Wasserstoffautos, weil das öfters falsch dargestellt wird: Die werden zurzeit genauso gefördert wie die batteriebetriebene Autos, sie setzen sich nur im Markt nicht durch. Sie sind schlicht zu teuer. Es gibt keinen einzigen deutschen Hersteller, der zurzeit serienmäßig Wasserstofffahrzeuge im Angebot hat. Und die, die es versucht haben, haben sich davon verabschiedet, weil es sich eben nicht rechnet. Von daher bin ich da als Anhänger unserer sozialen Marktwirtschaft, die künftig eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft sein muss, ganz bei dem, was unsere Ingenieurinnen und Ingenieure da gerade Richtung E-Mobilität machen. Wir als Politik sollten jetzt unseren Teil tun, indem wir einen besseren Rahmen dafür schaffen. Wenn man in Deutschland den gesamten Kraftstoffbedarf durch E-Fuels ersetzen wollen würde, bräuchte man alleine für Kraftstoffproduktion die 7-fache Menge Ökostrom, die im vergangenen Jahr in Deutschland produziert wurde. Von daher rate ich zu Technologieklarheit. Der Begriff Technologieoffenheit, so, wie ihn die FDP und Teile der Union benutzen, ist bei denen im Grunde eine Metapher fürs Nichtstun.

Viele Autofahrer sind schon für die Elektromobilität, aber wollen nicht alle alten Autos wegschmeißen, die es aktuell gibt. Wie sehen Sie das?

Das muss man doch auch gar nicht. Wir Grüne sagen, wir wollen ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zulassen. Und viele Autohersteller haben ja bereits Zeitpläne auf den Tisch gelegt, wann sie aus dem Verbrenner aussteigen. Aber das heißt ja nicht, dass jetzt irgendjemand sein Fahrzeug abgeben muss. Streaming-Dienste sind ja mittlerweile auch für viele Menschen Standard und trotzdem kam nie jemand vorbei und wollte ihnen den DVD-Player wegnehmen.

Wie sehr werden Sie sich für den Ausbau der Ladeinfrastruktur einsetzen?

Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit viele Ladesäulen versprochen, aber der Ausbau lief doch sehr, sehr schleppend. Jetzt gibt es neue Ziele, aber mich erinnert das Ganze sehr an den Breitbandausbau. Da wurde auch immer viel versprochen und wenig getan. Das darf uns bei der Ladeinfrastruktur nicht passieren, das gefährdet die ganzen Investitionen der Automobilindustrie. Mein Eindruck ist, es wird sehr viel privat geladen oder beim Arbeitgeber oder Einkauf. Deshalb wollen wir neben einem guten öffentlichen Ladenetz mit Schnellladern auch, dass Lademöglichkeiten beim Neubau größerer Wohn- und Gewerbegebäude gleich mit eingebaut werden.

Sie sprechen davon, dass man bei Neubauten die Vorrichtung für die Wallboxen legt und Photovoltaik auf den Dächern installiert. Ist das etwas, was man auf Bundesebene auch umsetzen kann?

Ja, das würden wir gerne machen. Die Photovoltaik-Pflicht beim Neubau stand ursprünglich in den Plänen der Bundesregierung und wurde bedauerlicherweise wieder rausgestrichen –Wir werden die Klimaziele im Verkehr nicht erreichen, wenn wir nur auf einer Ebene ansetzen. Wenn die andere Ebene, nämlich die Energiewende, nicht entsprechend mitkommt, bringt das wenig. Und da sind wir dramatisch im Verzug, was Onshore- und Offshore-Windenergie angeht, aber auch bei der von Ihnen angesprochenen Photovoltaik, da geht noch deutlich mehr. Denn je weniger Kohlestrom wir im Netz haben, umso sauberer fahren die Autos künftig.

Themenwechsel: Die Grünen sind für das Tempolimit. Was bringt es?

Die Debatte wurde in der Vergangenheit leider sehr ideologisch geführt. Das entspannt sich gerade. Es gab jüngst eine Umfrage vom Deutschlandtrend, in der sich 57 Prozent für das Tempolimit ausgesprochen haben. Die Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen geht davon aus, dass die Anzahl der Verkehrsopfer auf Autobahnen um ca. 20 Prozent sinken würden. Auch für das autonome Fahren ist ein Tempolimit quasi Voraussetzung. Und dann natürlich ein ganz wesentlicher Klimavorteil: Wir sparen circa zwei Millionen Tonnen CO2 im Jahr. Das entspricht ungefähr der Menge des innerdeutschen Flugverkehrs. Und das nahezu gratis, das ist doch der Hammer.

Was würden wir denn einsparen, wenn wir jetzt noch den Güterverkehr auf die Schiene bekommen würden?

Deutlich mehr, aber da muss noch einiges passieren. Wie alle wissen, wurde das immer wieder versprochen, passiert ist wenig. Also müssen jetzt alle Hebel wirksam in Gang gesetzt werden, damit wir die Güter tatsächlich auf die Schiene bekommen. Das würde uns nicht nur beim Klimaschutz helfen, es entlastet auch unsere Straßen und bringt dann den Autofahrerinnen und Autofahrern was. Verkehrswende heißt auch, andere Prioritäten zu setzen und das Schienensystem so zu modernisieren, wie es für unseren Wettbewerbsstandort Deutschland eigentlich angemessen wäre. Bei der Planung eines Industriegebietes zum Beispiel sollte in Zukunft wieder der Gleisanschluss mitgedacht werden. Wir weisen nach wie vor Industriegebiete aus, wo das einfach vergessen wird. Zudem brauchen wir Investitionen in moderne Güterverkehrstechnik, intermodulare Güterverkehrszentren, Umschlagterminals für den kombinierten Güterverkehr, wir brauchen regionale Wirtschaftskreisläufe und wir müssen vor allem Digitalisierung in die Vernetzung bei der Logistik stärker nutzen. Auch in der Stadt kann man mehr machen. Von den jetzt berühmt gewordenen Lastenrädern, über Cargo-Trams, neue Verteilkonzepte, City-Hubs und so weiter – es gibt es viele, viele Möglichkeiten. Ein wesentlicher Hebel für den Güterverkehr ist natürlich auch eine CO2-orientierte LKW-Maut.

Die CO2-Steuer ließ die Spritpreise steigen. Kann die Pendlerpauschale das ausgleichen?

Wir Grüne haben die Erhöhung der Pendlerpauschale damals mitbeschlossen. Gibt es einen fairen CO2-Preis, der kontinuierlich steigt, braucht es einen sozialen Ausgleich. Wir wollen, dass alle davon profitieren und nennen das Energiegeld, das pro Kopf und Jahr 75 Euro vorsieht. Steigt der CO2-Preis, steigt auch das ausgezahlte Energiegeld. Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass der öffentliche Verkehr massiv ausgebaut wird. Das ist ein Maßnahmenmix aus verschiedenen Dingen, bei dem wir auch die soziale Komponente ausdrücklich im Blick haben.

Wie geht es mit den Förderungen für die E-Mobilität weiter?

Wir wollen die Kaufprämie in ein Bonus-Malus-System überführen. Das heißt, dass diejenigen, die sich Spritfresser zulegen und viel CO2 raushauen, mehr zahlen. Wer sich ein E-Auto kauft, bekommt weiterhin einen Bonus. Damit machen sie eine Quersubventionierung hin zu emissionsfreier Mobilität, damit der Staat nicht auf Dauer in Vorleistung gehen muss. Ein Bonus-Malus-System wäre gerecht und würde endlich Schluss machen mit dem Prinzip Scheuer, also Neues fordern, aber Altes fördern.

Kommen wir zur Verkehrssicherheit: Wer trägt überhaupt dafür Sorge, dass der enger werdende Platz in Städten gut aufgeteilt wird?

Vor Ort, in ganz vielen Kommunen findet die Verkehrswende längst statt. Der verkehrspolitische Kulturkampf der Scheuers, Linders und Co interessiert da gar nicht, es geht ganz pragmatisch um die Frage, wie man mehr Platz bekommt, mehr Lebensqualität, weniger Stau und vor allem mehr Verkehrssicherheit. Aber genau hier bremst der Bund noch, weil er den Leuten vor Ort zu wenig Entscheidungsspielraum einräumt. Wer vor Ort etwas ändern will, zum Beispiel Tempo 30 oder neue Fahrradstraßen, muss das erstmal umständlich begründen. Ich will aber nicht, dass immer erst etwas Schlimmes passiert sein muss, damit gehandelt werden darf, ich will den Kommunen die Möglichkeit geben, zu gestalten. Was wir brauchen ist eine Art neue Verfassung für die Straße, die alle im Verkehr gleichberechtigt mitdenkt.