10 Allradsysteme im Vergleich
Auf der Suche nach Schneegrip

Finnland, nahe am Polarkreis, im Winter 2013: Zehn Allradautos müssen im großen auto motor und sport-Test beweisen, welches Traktionskonzept auf Schnee am besten zieht. Weltexklusiv schon mit dabei: der neue VW Golf VII 4 Motion.

Allradsysteme, Testwagen, Redakteure
Foto: Hans-Dieter Seufert

Wenn irgend jemand hier oben weder Differenziale noch Lamellenkupplungen und Regel-Elektroniksysteme interessieren, dann den Fuchs, der auf der Zufahrt zum Testgelände vor den herannahenden Scheinwerfern erschrickt. Seine Steuerung sitzt zwischen den spitzen Ohren, die zuverlässig über die vier schlanken Pfoten Traktion sicherstellen. Mit geschätzten 40 km/h stürmt er davon, um einige Meter später praktisch rechtwinklig in den Wald abzubiegen. Ob das moderne Allradsysteme annähernd so beeindruckend hinbekommen? Zehn Fahrzeuge mit unterschiedlichen technischen Ansätzen oder zumindest Interpretationen stellen sich der Herausforderung – darunter zwei Premieren: der Range Rover sowie der Golf VII als 2.0 TDI 4 Motion.

VW Golf VII 4 Motion ist spektakulär unspektakulär

Von grundsätzlichen Änderungen beim Allradantrieb sah VW ab und verwendet weiter eine Lamellenkupplung nach dem Haldex-Prinzip. Dabei baut eine Pumpe mit Einschalten der Zündung Öldruck auf, damit auf Befehl der Elektronik die Lamellenpakete sofort geschlossen werden können. Das dauerte bislang 60 Millisekunden und soll nun nochmals schneller geschehen.

Was der Fahrer davon mitbekommt? Eigentlich nur, dass der VW Golf 4 Motion sich scheinbar überhaupt nicht um Reibwerte kümmert. Beim schnellen Anfahren regelt zwar die Traktionskontrolle etwas nervös, doch danach zieht der Kompakte seine Bahnen – und zwar exakt die vom Fahrer vorgegebenen.

Langweilig? Na gut, dann eben ohne ESP. Jetzt macht sich nach einem mutigen Gasstoß das Heck des VW Golf 4 Motion locker, unterstützt so geübte Fahrer, Kurven flott und sicher zu demütigen. Tatsächlich fährt der vermeintlich brave Golf 4 Motion in Bestzeit um die 1,13 Kilometer, erzieht zuvor allerdings zu einem Fahrstil, der weitgehend auf den Einsatz der Fußbremse verzichtet. Wer so beispielsweise einen Lastwechsel provozieren möchte, weckt das Stabilitätsprogramm wieder auf. Doch auch allein mit dem Gasfuß dirigiert, verblüfft der VW mit einem wenig spektakulären, aber sicheren und dabei sehr dynamischen Fahrverhalten. Hektische Kurbelei am Lenkrad findet woanders statt.

Im Range Rover vielleicht? Immerhin lässt der Sir unter den Geländewagen ein maximales Drehmoment von 700 Newtonmeter zuerst auf den Antriebsstrang und dann auf die Schneepisten einstampfen.

Range Rover TDV8 kommt immer an

Die imposante Kraft des 4,4-Liter-V8-Diesels verwaltet nach Art des Hauses das so genannte Terrain Response System. Die Elektronik sortiert zum einen die sperrbaren Mitten- und Hinterachsdifferenziale und verschiebt passend zum Untergrund die Kennlinien für Gaspedal, Getriebesteuerung und Traktionskontrolle. Und als ob der Brite nicht schon imposant genug aufträte, um selbst den abgebrühtesten Fuchs in Ehrfurcht erstarren zu lassen, lässt sich die Karosserie bis zu einer Bodenfreiheit von 30,3 Zentimeter anheben. Fehlt noch etwas? Ach ja, die Geländeuntersetzung des Achtstufen-Automatikgetriebes mit dem Faktor 2,93. Doch da es in diesem Vergleich um die Fähigkeiten auf verschneiten Straßen geht, kann der Brite nur am Steigungshügel und im Tiefschnee seine Offroad-Talente aufblitzen lassen.

Keiner legt am 20-Prozent-Hang derart ungerührt ab wie er. Bei der Beschleunigungsmessung jongliert Terrain Response die Leistung ebenfalls sehr geschickt – 6,2 Sekunden genügen, um 80 km/h zu erreichen. Sobald allerdings Querbeschleunigung ins winterliche Spiel kommt, verhält sich der gediegene Brite so, wie es das Leergewicht von 2,7 Tonnen vermuten lässt – schwerfällig. Er drängt gerne zum Wegesrand, wo echtes Gelände lockt. Ob dort wohl die eigenwillig schaltende Automatik hilfreich ist? Wohl kaum.

VW Multivan 2.0 TDI 4 Motion als Allrad-Raum

Auf den Technikzauber des Range Rover verzichtet der VW Multivan, packt stattdessen lieber einfach mehr ein, Personen oder Gepäck, je nach dem. Damit die Fracht selbst an entlegene Ziele kommt, versorgt bei Bedarf eine Haldex-Kupplung der vierten Generation die Hinterachse mit Antriebsmoment. Die Steuerelektronik erfasst 40 verschiedene Signale, wertet sie aus und reguliert danach den Kraftfluss.

Falls das nicht reicht, sperrt das Differenzial an der Hinterachse zu 100 Prozent. Das hilft dem 2,5 Tonnen schweren Multivan bei deftigen Steigungen und – wenn es weniger ernst zugeht – sogar bei zaghaften Drifts. Zum talentierten Wintersportler mutiert der VW zwar mit seinem vergleichsweise einfachen Allradantrieb nicht, wuchtet die Großraumlimousine aber beharrlich und frei von Zicken über winterliche Straßen. Darüber wacht stets das Stabilisierungsprogramm, das im Gegensatz zum Vor-Facelift-T5 bei aktivierter Hinterachssperre aktiv bleibt. Nochmals deutlich einfacher strickt Subaru den Allradantrieb des XV – dafür ist der Japaner eines der billigeren Autos im Test.

Subaru XV 2.0D ist einfach Allrad

Während beim Benziner mit stufenlosem Automatikgetriebe eine Lamellenkupplung für Traktion sorgt, übernimmt in der kultivierten und durchzugsstarken Diesel-Variante eine Visco-Kupplung diesen Part. Der Unterschied: Es besteht keine mechanische Verbindung zwischen den Wellen, über entsprechende Drehmomentunterschiede stellt Silikonöl den Kraftschluss her. Das bedingt etwas längere Reaktionszeiten und Leistungsverluste – und so fährt sich der XV auch. Bereits in der Ebene kommt er nur mäßig in die Puschen, und auch am Berg lässt der Japaner sich zusammen mit dem Mercedes und dem Lexus am meisten Zeit. Immerhin: Traktion ist vorhanden. Dagegen völlig abwesend: jedwede Form von Agilität. Das nicht deaktivierbare ESP bremst ihn bei einer Ahnung von Instabilität brutal zusammen. Seitenführung? Ebensowenig vorhanden wie Gefühl in der Lenkung – keine überzeugende Leistung. Für den selbsternannten Allradspezialisten Subaru eine enttäuschende Vorstellung, zumal der XV an sich mit seinem geradlinigen, nutzwert-orientierten Charakter durchaus sympathisch auftritt.

Opel Mokka 1.4 Turbo 4x4 bringt die Überraschung

Noch mehr Emotionen kommen ins Spiel, wenn ein Opel seinen Kühlergrill-Blitz ins Bild schiebt. Der Mokka scheint jedenfalls gerade zur rechten Zeit gekommen zu sein, zählt er doch zu den derzeit beliebten kompakten SUV. Staunende Tester bereits auf der Handling-Strecke: die zweitbeste Zeit nach dem Golf? Stimmt – und ein ähnlich sicheres und dynamisches Fahrverhalten. Da der Mokka etwas stärker lastwechselt, fehlen ihm am Ende sieben Zehntel. Übrigens: Ein Blick auf die Drehmomentwerte beider Triebwerke beweist, dass selbst in dieser Disziplin Motorleistung eine untergeordnete Rolle spielt. Bei den Reifen sieht das anders aus, was natürlich auch Opel weiß. Hier wurde eine besonders weiche Mischung aufgezogen. Diese Reifen sind vor allem in Skandinavien beliebt und erlauben eine Höchstgeschwindigkeit von nur 170 km/h. Ihre Stärken liegen bei sehr tiefen Temperaturen und eisiger Fahrbahn. Bei den an den Messtagen vorherrschenden Bedingungen liegt ihr Vorteil bei bestenfalls drei Prozent, wie einige Messungen ergaben.

Ein viel größerer Vorteil: das schnell reagierende Allradsystem des Mokka inklusive zuverlässig rückmeldender Lenkung, das mit gekonnter Abstimmung punktet – inklusive nach oben verschobener ESP-Regelschwelle.

Mazda CX-5 2.2 D AWD sicher bergauf

Genau wie der Opel leitet auch der Mazda maximal 50 Prozent seiner Antriebskraft an die Hinterachse, kommt ihm sonst jedoch kaum hinterher – zumindest, wenn Bergpassagen zur Route zählen. Einen Pluspunkt verdient er sich dennoch, da er auch die 20-Prozent-Steigung meistert. Dass der abgesehen von der Funktionsweise des Allradantriebs überzeugende Mazda am längsten benötigte, um die Handlingstrecke hinter sich zu lassen, liegt am allzeit aktiven, übervorsichtigen ESP. Es legt den CX-5 an eine noch kürzere Kette, als es beim Subaru der Fall ist, und gibt lange die Leistung nicht mehr frei. Und wenn es nicht auf Dynamik ankommt? Zumindest kämpft sich der CX-5 durch alle Disziplinen. Mehr noch: Der SUV lässt gelegentlich aufgrund seines kräftigen Dieselmotors und der auf kurzen Wegen durch die Gassen ploppenden Schaltung Lust an seiner Arbeit aufblitzen – das schafft beispielsweise der Subaru so nicht.

Ein ganz wilder Hund taucht dagegen in Gestalt des BMW 335i am Horziont auf, die Räder entgegen der Fahrtrichtung eingeschlagen, eine lange Schneeschleppe klebt am Heck.

BMW 335i x-Drive mit viel Dynamik

Das x-Drive System verzichtet auf ein Mittendifferential und nutzt stattdessen eine Kupplung, mit der sich Drehzahlunterschiede an den jeweiligen Achsen einstellen lassen – abhängig von dem Moment, das die Räder aufgrund der Reibwertverhältnisse aufbauen können. Der Sperrmomentenaufbau zwischen den einzelnen Rädern wird über die Radbremse erzeugt. So kann im Extremfall das gesamte Antriebsmoment auf ein einzelnes Rad übertragen werden. Eine modellspezifische Software ergänzt die Hardware – und ihre Stabilisierungsfunktion lässt sich vollständig abschalten. Dann fühlt sich der 335i wie ein Hecktriebler mit besserer Traktion an, lässt sich gezielt per Gasstoß lenken und kontrolliert quer fahren. Eine Riesengaudi, klar, aber schnell? Geht so. Erst im Modus „Traction“ wühlt sich der 17-Zoll-bereifte BMW ruhiger durch den Schnee und fährt auf den dritten Platz.

Mercedes CLS 500 4 Matic Shooting Brake gibt den starren Schwaben

Von virtuoser Kraftverteilung wie bei BMW hält Mercedes nichts. Der 4matic-Antrieb schickt immer 55 Prozent an die Hinterachse. Dafür sorgt ein Mittendifferenzial mit Lamellensperre. Zudem wacht die Elektronik über durchdrehende Räder, allerdings lässt sich die Regelschwelle nach oben verschieben – wenn denn der Fahrer das entsprechende Untermenü im Bordcomputer gefunden hat. Wobei der CLS selbst dann die Contenance wahrt, immer sicheren Vortrieb im elektronischen Hinterkopf bewahrt. Einfach nur mit dem Gaspedal lenken? Das ist nicht Teil der schwäbischen Allrad-Philosophie und bringt die ESP-Warnlampe zum Glühen.

Da der Testwagen den ganz großen Honigtopf in Form des Biturbo-V8 unter der Haube hatte, ist das eine grundsätzlich lobenswerte Einstellung – zumal die Elektronik so sensibel regelt, dass der Shooting Brake nie abgewürgt wird, was ihm besonders beim Erklimmen steiler Anstiege hilft. Etwas merkwürdig verhielt sich dagegen die Bremse, deren Pedal nach undefinierbarem Muster stark verhärtete. Bei der eigentlichen Verzögerungsmessung fiel sie jedoch nicht durch, sondern erzielte beste Werte.

Porsche Cayenne GTS ist getarnter Sportwagen

Noch früher kam der Porsche Cayenne GTS zum Stehen, sein Gewicht von 2,3 Tonnen schien er vorher irgendwo abtrainiert zu haben. Auf dem Handlingkurs vielleicht? Motorleistung zählt hier zwar nicht zu den entscheidenden Faktoren, doch der V8-Sauger begeistert speziell auf dem Rundkurs mit höchst aufmerksamem Ansprechverhalten und ekstatischer Drehfreude. Dabei grollt er aus der Sportauspuffanlage so bärig, dass sich jeder Fuchs sofort ins Unterholz verkrümelt – wohin ihm der Cayenne weiter als angenommen folgen könnte. Seine Luftfederung lupft das Bodenblech nach oben, je nach Offroad-Modus – drei stehen zur Wahl – sperren das Längs- und Hinterachsdifferenzial. Wenn der Fahrer Dynamik abfordert, verteilt die Elektronik das Drehmoment bevorzugt auf die Hinterachse. Bremsimpulse am kurveninneren Hinterrad lassen den Cayenne agiler einlenken – oder Gasstöße, je nach persönlichem Fahrstil.

In 1.12,9 min. umrundet der Porsche die Handlingstrecke, was in dieser Wertung jedoch nur den vierten Platz bedeutet. Die Gründe dafür: ein etwas zu reges Eigenleben des Hecks sowie die Masse, die trotz allem häufig zum Außenrand drängt. Dennoch bildet die Abstimmung des Cayenne ein erstaunlich breites Spektrum ab, das von typischen Offroader-Eigenschaften bis hin zu ausgeprägter Dynamik reicht.

Lexus RX 450h propagiert Allrad mal anders

Und wo liegen die Talente des Lexus? Er ist mit seinem Hybridantrieb einer der sparsamsten großen Allrad-SUV. Seine Hinterachse treibt ein 50 kW starker Elektromotor an, die mechanische Verbindung zur Vorderachse besteht aus Kabelsträngen. Ungeachtet eines Schneemodus‘ des Hybridantriebs bleibt der Motor nur bis rund 100 km/h aktiv, doch auch darunter vermittelt der unaufgeregte RX eher Frontantriebs-Gefühl. An der 20-Prozent-Steigung scheitert er, bei zehn Prozent braucht der Japaner lange, um sich freizuschwimmen. Doch dann die Überraschung: Im Handling schlägt der Lexus dank geschickterer Regelelektronik den Mazda und bleibt dem schweren Range Rover dicht auf den Fersen. So bleibt der elektrische Allradantrieb eine bessere Traktionshilfe, nichts anderes aber behauptet der Hersteller – um so ehrenhafter, dass er sich diesem Test stellt. Die Talente des Lexus liegen also offensichtlich im Einzugsbereich von Großstädten. Dort darf er lautlos stromern und muss nicht vor der ersten Flocke kapitulieren.

Moderne Allradtechnologie ermöglicht vor allem aufgrund ihrer komplexen Elektronik sicheres Fahren auf Schnee – oft mit hohem Unterhaltungswert. Verglichen mit der Agilität des Fuchses auf Schnee sehen dagegen alle zehn Kandidaten ziemlich blass aus – was irgendwie beruhigend ist.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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