Exklusiver Tracktest im Lotus T125
Erste Mal im Formel 1-Rennwagen

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Einige Kritiker werfen Lotus vor, sie bauen zu monothematische Sportgeräte. sport auto-Testredakteur Christian Gebhardt kletterte beim Tracktest exklusiv ins Cockpit des monothematischsten. Für 650.000 Pfund kann jedermann den Lotus T125 kaufen. Protokoll eines Formel 1-Debüts.

Lotus T125
Foto: Rossen Gargolov

Erstmals wartet kein Champion, kein Rennheld oder Seriensieger. Diesmal hebt auch keiner den Zeigefinger, das gute Stück ja wieder ohne Schramme abzuliefern. Theoretisch könnte man beim heutigen Tracktest mal etwas riskieren und mehr am Limit schnuppern. Im unwahrscheinlichen Fall eines Abflugs würde diesmal kein heiliges Museumsstück verbogen werden. Außerdem ein Novum in meiner Tracktest-Historie: Es gibt ein T-Car.  Quasi ein Backup für heissblütige Motorjournalisten. Trotz alledem: Wer den Formel 1-Monoposto Lotus T125 versenkt, avanciert mit Sicherheit zur Persona non grata über die Grenzen des Lotus-Stammsitzes im britischen Hethel hinaus.

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Lotus F1-Fahrzeug für Kunden

Damit es erst gar nicht so weit kommt, bereitet Lotus solvente F1-Interessenten gewissenhaft vor dem Flug ins Universum der Königsklasse vor. Was bei Ferrari die F1 Clienti ist, taufte die britische Traditionsmarke auf den Namen „Exos Experience by Lotus“. Während in Maranello ausgemusterte Formel 1-Boliden von Schumacher, Alonso und Co. verkauft werden, begann Lotus 2009 mit der Entwicklung eines F1-Fahrzeugs für Kunden. Für 650.000 Pfund erfüllen sich Kinderträume - im Paketpreis ist hier nicht nur der auf 25 Exemplare limitierte Rennwagen enthalten, sondern auch ein Fitness-Training mit einem F1-Physio samt individuellem Ernährungsplan bis hin zu Fahrtipps ehemaliger Grand-Prix-Helden wie Nigel Mansell oder Jean Alesi.

„Unser Ziel war es, ein F1-Auto zu bauen, das leichter zu bedienen ist als ein aktuelles WM-Auto“, erzählt Lotus Motorsport-Direktor Claudio Berro, während er mit dem Finger gegen den Heckflügel tippt. Wir stehen am Rande der neuen Testrennstrecke auf dem Lotus-Firmengelände in Hethel. Für den schönsten Tag im Leben hat Lotus alles perfekt vorbereitet. Zur Rechten ein Motorhome, das mit zwei Stockwerken und einer Terrasse einem Einfamilienhaus ähnelt. Zweimann-Zelt, Gartenstühle und Grillwürstchen wären auch okay gewesen. Wichtiger ist das, was zur Linken residiert und von sieben Original-Mechanikern in Lotus Renault GP-Kluft wie ein Frischgeborenes von Krankenschwestern umsorgt wird - der Tracktest-Lotus T125, daneben das bereits erwähnte T-Car.

Sieht wie ein Original-F1-Renner aus

Nur einer fehlt um neun Uhr morgens - Fahrlehrer Jean Alesi hat scheinbar verschlafen oder ist in der morgendlichen Rushhour steckengeblieben. Zeit, sich das Kohlefaser-Monument aus der Nähe anzusehen: Der Lotus T125 stammt aus der Feder von Paolo Cantone, der als Ex-Chef- Designer von Peugeot Sport auch für den LMP1-Langstreckenbomber 908 HDi FAP von 2007 und 2008 verantwortlich war. Optisch erinnert der Kunden-F1 mit dem Frontflügel im Schneepflug-Format (Breite: 1,80 m), dem schmalen Heckflügel (Breite: 75 cm) und seiner Kampfbemalung an den letztjährigen Lotus Renault GP R31. Im direkten Vergleich ist der T125 aber 19 Zentimeter kürzer und 9 Zentimeter breiter als das F1-Original. Radaufhängungen, Bremsbelüftungsschächte und Karosserieteile - hier muss man lange suchen, um auf Teile zu treffen, die nicht aus Kohlefaserwerkstoff von der italienischen Firma HP Composite gebacken wurden. Bis auf sämtliche FIA-Crashvorschriften musste sich der Lotus T125 nicht ins enge Regularien-Korsett der aktuellen Formel 1 zwängen. Kein Bauteil stammt daher aus dem Lotus Renault GP R31.
 
„Sorry for the delay - der One-Two-Five hat aber 15 Prozent mehr Downforce als ein 2011er Auto und ist bestimmt schneller als ein aktueller HRT.“ F1-Rentner Jean Alesi ist eingetroffen und klopft mir freundlich auf die Schulter. Seine Hauptaufgabe als Lotus-Botschafter: Runden drehen und den T125 so fahrfreundlich wie möglich abzustimmen. Doch vor der Tracktest-Fahrt im Kohlefaser-Geschoss folgen zur Eingewöhnung an die Lotus-Teststrecke noch einige Runden in der 360 PS starken Lotus Evora GT4-Rennversion.

Crash beim Aufwärmen

Eigentlich ein Routine-Punkt, eigentlich. Alesi klettert als Erster zum Aufwärmen ins Cockpit. Quiiiiiieetsch, paaaffff. Nach einer Runde humpelt der Cuprenner mit dem F1-Altmeister wie ein verletzter Leistungssportler vom Feld - von der Heckschürze sind nur noch GFK-Fetzen übrig. „Not much grip before the chicane“, sagt Alesi wenig später ruhig, während er ein Croissant in seinen Kaffee tunkt. „Ja, nee is klar! Jean, machst du Witze? Und ich soll gleich hier meine ersten F1-Runden drehen?“ Die Gedanken stehen mir in Form von Sorgenfalten auf die Stirn getackert. In diesem Moment ähnelt mein Gesichtsausdruck mit nahezu an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem offenen Buch. „Don’t worry“, beruhigt der Franzose, den die Tifosi einst wegen seiner ungestümen und heissblütigen Art bei Ferrari so verehrt haben.
 
Alesi und das gesamte Team bleiben locker. Es wird gelacht und gescherzt, ohne den nötigen Ernst für das Wesentliche zu vergessen - ein bisschen so, als wenn du mit deinen besten Kumpels zum Leih-Kartfahren gehst. Stimmungsvoller als mit der T125-Alesi-F1-Kombo kann Lotus die High-Potentials der Kundschaft nicht an die Marke binden.

Die Purismus-Göttin von Lotus

Wir gehen auf Tuchfühlung - Sitzprobe: Zuerst ein Ausfallschritt vorbei am Seitenkasten rein ins Cockpit wie über die Wand einer Badewanne. Danach mit den Armen auf den Seitenkästen abstützen und die Füsse in den Fußtunnel nach vorn wie in einen Schlafsack gleiten lassen. Die Sitzposition ähnelt der auf einer nach hinten geklappten Saunaliege - der Po wenige Zentimeter über der Erde, während die Beine 30 Zentimeter höher liegen. Lotus-Fahrer lieben puristische Kisten ohne Komfort - willkommen in der Purismus-Göttin.
 
Gegen die Enge des Fußtunnels ist eine Röhrenjeans so weit wie eine Jogginghose. Festgeklemmt wie in einem Schraubstock sind Beine und Füsse ab sofort ausschließlich Diener der Geschwindigkeit. Wie in einem Leihkart können Bremse und Gas nur mit beiden Füssen bedient werden. „Let’s go and drive the weapon!“, sagt Jean Alesi und klatscht in die Hände. Schon mal überlegt, wie es sich anhört, wenn man einem ausgehungerten Löwen sein Fressen wegnimmt? Richtig. Hethel im Ausnahmezustand: In der Lotus-Produktion stehen plötzlich die Maschinen still, in der Design-Abteilung fallen die Bleistifte aus der Hand, nur die F1-Mechaniker verziehen keine Miene.
 
Woooaaamm, Woooooaaaaaam, wooooooaaaamm - die Formel-Waffe läuft sich warm. Die infernalische Stimme des bollernden Cosworth-Achtzylinders klingt tinitusverdächtig, fräst aber nicht wie ein normales F1-Triebwerk mit kreissägenähnlichem Geschrei direkt das Trommelfell aus den Ohren. Kurzer Technik-Check: Der intern GPV8 genannte V8-Sauger mit 90-Grad-Zylinderbankwinkel, 3,5 Liter Hubraum und 649 PS basiert auf einem Motoren-Layout, das einst auch in der IndyCar Series eingesetzt wurde. Im Vergleich zu den aktuellen F1-Triebwerken mit 2,4-Liter-V8 hat das T125-Aggregat nicht nur mehr Hubraum, sondern ist mit 135 Kilo auch schwerer.
 
Das RS27-2011-Triebwerk im Lotus Renault GP trifft genau das laut F1-Reglement vorgeschriebene Mindestgewicht von 95 Kilogramm. „Wir wollten außerdem sichergehen, dass der Motor rund 3.000 Kilometer ohne Revision überlebt. Dafür absolvierte er auf dem Motorenprüfstand drei Mal die 3.000-Kilometer-Distanz“, erklärt Bruce Wood, technischer Direktor von Cosworth. Standfeste 10.800 statt martialische 18.000 Touren - die Maximaldrehzahl liegt zwar weit unter F1-Niveau, rührt Sportwagenfans dennoch zu Freudentränen.

Leistungsgewicht von ein Kilo pro PS

Apropos Freudentränen. Wir hatten noch gar nicht über das Gewicht des Kohlefaser-Fundamentalisten im Tracktest gesprochen. Der Punch eines Schwergewichtsboxers vereint sich im Lotus T125 mit der Leichtfüssigkeit eines Fliegengewichts. Kurz: 649 PS treffen auf 650 Kilogramm. Als die Testcrew die Boden-Boden-Rakete aus dem Vorzelt an die Boxenausfahrt schiebt, blinzeln plötzlich Sonnenstrahlen durch den graugefärbten Himmel über Hethel. Und zwar von ganz weit oben, dort wo Leichtbau-Pabst Colin Chapman auf seiner Wolke hockt und angesichts eines Leistungsgewichts von 1,0 Kilogramm pro PS still lächelnd denkt: Jungs, endlich habt ihr mal wieder einen richtig leichten Lotus gebaut. Bugatti Veyron 16.4 Super Sport 1,5 kg/PS, Koenigsegg Agera R 1,6 kg/PS, .... alles kalter Kaffee gegen den Lotus T125.
 
In die PS-Träumerei grätscht über Funk eine krächzende Stimme: „Christian, check engine temperature!“ Während ich, festgeschnürt im Cockpit, auf dem Lenkrad-Display die Temperaturstände ablese, herrscht außerhalb Unruhe wie auf der Intensivstation bei einer Notoperation. Der Technik-Feldzug ist in vollem Gange: Tragbare Gebläse pusten Frischluft auf die Kühler, Schlagschrauber fesseln Zentralverschlussmuttern, Luftdruckprüfer zischeln wie eine Horde Giftschlangen und Heizdecken brutzeln die Michelin-Slickwalzen auf 90 Grad Celsius. „Christian, don’t push to hard at the beginning and be careful with the throttle.” Ein letzter Tipp von Jean Alesi. Ratsch, die Mechaniker reißen die Reifenwärmer von den Pneus und es krächzt

„Go“ über den Funk. Plötzlich bist du so beobachtet und doch so allein wie Andy Brehme im WM-Finale 1990 am Elfmeterpunkt. Alle Mechaniker starren dich an. Ganz vorn an der Boxenmauer Alesi. Die Chance dich zu blamieren hat ihren Siedepunkt erreicht. Am Lenkrad gibt es vier Wippen: Die unteren beiden sind für die Kupplung. Per Zeigefingern werden die Gänge mittels darüber liegender Paddle hoch- und runtergeschaltet. Doch das ist noch graue Theorie, denn die Fuhre steht noch. Wer die Kupplungswippe einen Wimpernschlag zu schnell kommen lässt, den trifft das War-doch-klar-Lächeln der Zuschauer.
 
Uff, der Kupplungsweg ist kürzer als eine Ameise. Wippe einen Millimeter mit drei Fingern kommen lassen, kurz halten, die Dreischeiben-Sinterkupplung beißt zu, und der Lotus T125 rollt mit Standgas an. „Good job“ brüllt es über Funk. Ansonsten spielen sich wohl öfter mal Anfahrdramen bei der Exos Experience ab. Was dann passiert, gehört auch im Leben eines sport auto-Testredakteurs mit Zugriff auf ein Arsenal der größten Sportwagenkaliber zur absoluten Seltenheit.

Getriebe schaltet wie ein Maschinengewehr

Peng, Peng, Peng, Peng, 2., 3., 4., 5. Gang. Der One-Two-Five schnalzt die Gänge so schnell hintereinander rein wie ein Maschinengewehr bei Dauerfeuer. Der rote Schaltbalken über dem Display auf dem Lenkrad flackert wild auf, als ob er einen Kurzschluss hätte. Wer anfängt zu denken, wann geschaltet werden muss, ist zu spät. Damit die F1-Novizen den V8 nicht immer gnadenlos in den Begrenzer zimmern, hat Lotus für das sequenzielle Sechsganggetriebe von Ricardo eine Hochschaltautomatik entwickelt.
 
Klack, das Gehirn drückt die Rückspultaste und löscht alle bisherigen Beschleunigungserlebnisse. Diesen Satz werde ich wohl in meiner journalistischen Karriere nie wieder in die Tasten hauen - es sei denn, ich wechsele zu einer Flieger-Zeitschrift und setze mich in einen MiG-29-Kampfjet. Selbst bei Halbgas tritt der Lotus T125 wie ein Kickboxer in die Magengrube. Vollgas nimmt dann beim ersten Mal kurzzeitig die Luft zum Atmen.
 
Bitte, es ist nicht überheblich gemeint, sondern die Realität: Die Gewöhnung an Beschleunigung löscht das Gefühl des Nach-Luft-Schnappens bei einem routinierten Sportwagentester selbst bei Sprengsätzen wie jüngst dem Lamborghini Aventador mit 700 PS. Während der Lambo in 8,8 Sekunden auf 200 km/h sprintet, donnert der T125 im Tiefflug in rund zehn Sekunden über die 300er-Marke.

Bremst wie Fangseile auf einem Flugzeugträger

Die erste Schikane fliegt im Zeitraffer heran. Schnell auf die Bremse. Die reagiert bereits auf den kleinsten Pedaldruck, vorausgesetzt die Arbeitstemperatur von 650 Grad Celsius liegt an. Zum Blockieren gehören aber Fußballerwaden. Die Karbon-Keramik-Bremsen, die einst für das 2010 geplante, aber nie an den Start gegangene F1-Team USF1 entwickelt wurden, verzögern den Lotus T125 so brutal, als ob ihn Fangseile wie auf einem Flugzeugträger geschnappt hätten. Auch diesen Vergleich nutze ich nie wieder, nur hier stimmt er wirklich.
 
Eine Meisterleistung, welche Verzögerung der F1 mit rundum nur 278 mm großen Bremsscheiben aufbaut (Lamborghini Aventador: 400/380 mm vorn und hinten). Die Nackenmuskulatur kapituliert, der Kopf nickt nach vorn. Gäbe es kein HANS-System, würde der Diener unweigerlich das Kinn auf die Brust klatschen. Profis treten den Lotus T125 mit einer Verzögerungsleistung von 4 bis 5 g zusammen. Bei einem Topsportler wie dem Lamborghini Aventador sind es maximal 1,2 g.
 
Verdammt, wo ist denn jetzt die Kurve? Ich habe den Lotus T125 auf Schritttempo zusammengestaucht, doch die erste Biegung ist immer noch so weit weg wie eine Fata Morgana. Suizidabsichten könnten in den ersten Runden helfen, um das F1-Projektil in Bremszonen von unter hundert Metern zu verzögern.

DTM-Auto ist ein Traktor im Vergleich zum F1-Renner

Nach zehn Runden auf der kürzesten Streckenvariante in Hethel oder 12,8 Kilometer ist das F1-Abenteuer für mich beendet. So präzise wie eine Atomuhr die Zeit angibt, so akkurat folgt der Lotus leichtfüssig den kleinsten Lenkbefehlen. Mehr querdynamische Aussagen zu treffen, wäre so vermessen, wie wenn ein eingefleischter Biertrinker nach einem Schluck Jahrgangs-Champagner eine differenzierte Aussage über den Schampus abgeben würde. Nur ein Zitat von Ex-Formel 1- und DTM-Pilot Markus Winkelhock, der meine Freude nach einem DTM-Tracktest 2008 etwas bremste, kann ich jetzt ansatzweise nachvollziehen: „Fahr mal ein Formel 1-Auto. Im Vergleich zu einem F1 bewegt sich ein DTM Auto wie ein Traktor!“

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Sport Auto 03 / 2022
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Erscheinungsdatum 04.02.2022

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