24h-Rennwagen Audi R18 TDI im Tracktest
Prototypen-Debüt im Le Mans-Siegerauto

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Der silbergraue Audi R18 TDI wurde 2011 zum Goldkind beim 24h-Rennen in Le Mans. Was passiert, wenn der Held von einem Nicht-Helden pilotiert wird? sport auto-Redakteur Marcus Schurig gab sein LMP1-Debüt beim Tracktest.

Cockpit, Detail, Audi R18 TDI
Foto: Audi

Die alpenländische Variante der Annäherung an ein Fahrzeug - „Wenn ich so lenk und denk an nix“ - scheidet heute aus. Der Österreicher im Team stellt das mit Nachdruck klar: „Denkens bittschön dran: es ist ein Museeeeeumsstück.“ Dabei faltet er die Stirn und beide Hände. Schützenswertes Kulturgut für die Nachwelt also. Und wer Angst hat, fährt nicht so schnell. Der Doktor, wie sie ihren Chef Wolfgang Ullrich bei Audi Sport respektvoll zu nennen pflegen, hat immer ein Rezept.

Hinter ihm brutzelt der silbergrau lackierte Star von Le Mans in der italienischen Spätsommersonne. Die Cockpit-Glocke des Audi R18 mit dem weit nach unten gezogenen Sichtschutz wirkt herrisch wie eine Pickelhaube aus Kaiserzeiten. Antennen ragen wie Helmspitzen in die Luft, die Schnauze ziert kein Adler, dafür vier Ringe. Die Radhäuser wölben sich wie Greifzangen, Rundungen kreuzen sich mit schroffen Kanten und komplexen Linien. Ein Stealth Bomber auf vier Rädern, mit Abtrieb statt Auftrieb.

Unsere Highlights

Das Tarnklappendesign hat der Windkanal gepinselt. Obwohl das Reglement für alle gleich ist, wirkt sein Gegenspieler, der Peugeot 908, eine Spur eleganter und mondäner. Florett gegen Säbel, französische Haute Couture gegen deutschen Extremismus? Wer das große Duell gewann, ist wohl bekannt: Audi schlug Peugeot nach 24 Stunden Kreisfahrt in Le Mans um 763 Meter. Uff, kein Kantersieg.

Audi hat den R18 für Le Mans gebaut

Die harte Währung im Langstreckensport heißt Le Mans, und Audi setzte alle Jetons auf das eine Spielfeld: kleine Stirnfläche, ein Hauch von Luftwiderstand. Viel Abtrieb, aber ja nicht zu viel. Schleichiger Topspeed, pfundige Motorleistung. Ein Auto, zugespitzt für das Besondere von Le Mans: Fünf 300-km/h-Geraden, fünf Schikanen, zwei Hakenschläge und eine Sequenz schneller Kurven - die immer noch Porsche heißen und immer noch nicht Audi. Ein Pyrrhussieg? Schon, aber man kann nicht alles haben. Audi hatte Le Mans, und Peugeot den Rest.

Mit einem schabenden Geräusch und einer netten kleinen Wolke, die an Puderstaub erinnert, presst der V6-Motor mit obenliegendem Turbolader die Kälte aus seinen Laufbuchsen. Man kann sich schon beim Einsteigen ganz furchtbar blamieren. Mit seitlichen Verrenkungen, die den Körperfettanteil von über vier Prozent zu beuligen Wellen aufwerfen, plumpst der Hintern in eine kalte, harte Wanne. Ganz schön eng hier. Sitzriesen wie ich wähnen sich in einem Hasenstall, für kleine Schleicher wie Allan McNish hat die R18-Glocke durchaus Wohnzimmerqualität. Kann Klaustrophobie zu Halluzination führen?

Eine Weiberstimme flötet plötzlich am Funk: „Marcus, clutch is easy, no throttle needed.“ Der Blick wandert suchend nach rechts, wo eine zierliche Person mit freundlichen indischen Augen soeben versucht, die Tür in meine Schulter zu rammen. Sie heißt Leena Gade und ist die erste Frau, die einen Rennwagen in Le Mans als Ingenieurin zum Sieg führte. Respekt! Jedenfalls bin ich entweder zu breit, sie zu schwach oder das Auto zu schmal. Nach langem Hin und Her beendet das Türschloss den drückenden Disput mit einem knappen Klack.

Blamage des Gaststarters möglich

Man kann sich auch beim Wegfahren furchtbar blamieren. Kupplungen sind der Feind des Tracktesters. Dr. Ullrich gab vorher Entwarnung: „Dös geht gaanz leicht, nur a bisserl Gfühl.“ Etwa so leicht, wie die Tür zuging, die durch harten Vollkontakt gerade meinen Deltamuskel zerquetscht? Nein, viel schlimmer, denn meine Kniescheiben haben nun ebenfalls Vollkontakt. Gott sei dank nicht mit der Tür. Dafür mit dem Instrumentenbrett, wenn man ein scharfkantiges Karbonteil mit horizontalem Verlauf, das dem einzigen offensichtlichen Zweck dient, Kniescheiben zu malträtieren, so bezeichnen darf. Jedenfalls sind Wadenmuskel, Schienbeinmuskel sowie der Kollege Zehenstrecker völlig ungeeignet, um das Bein als Instrument der Kupplungsbetätigung zu ersetzen, wie ich hiermit bestätigen kann.

Ein Zitterer des langen Wadenmuskels genügte - sämtliche Lampen im Cockpit waren wie ausgeblasen. Nur eine blieb an, die zeigte Rot, und das bedeutet im Rennsport nie was Gutes. „No worries, Marcus, you will not need the clutch while driving on the track.“ Ja, super Mädel, wenn ich nur schon da draußen wäre! Zweiter Versuch, und ich weiß nicht wie, doch die CFK-Kupplung erbarmt sich meiner. Jetzt wollen wir doch mal schauen. Schneller als die Le-Mans-Rennwagen sind nur Formel 1-Autos. Erste Gerade, auf sie mit Sturmgebrüll.

Wer hat hier den Ton abgestellt? Ach ja, Diesel. Keine V12-Wallung, die dir vorgaukelt, du wärst so schnell wie Senna in Monza. Oder Rockenfeller in Braselton. Für den exakten Speed gibt es Instrumente, die heute nicht mehr in einem Skelett aus scharfkantigem Karbon untergebracht sind, sondern im Lenkrad. Sie zeigen Zahlen, die unglaublich winzig sind und sofort wieder verschwinden, sobald man draufschaut. Le-Mans-Sieger Marcel Fässler versichert mit großem Schweizer Ehrenwort, er habe alle Zeit der Welt, sie zu lesen. Ihm ist es wahrscheinlich auf den Geraden in Le Mans ziemlich fad.

Gehrin hinkt dem Rennwagen hinterher

Ich bin komplett damit ausgelastet, die rasch wechselnden Farben der Schaltlampen mit dem Ziehen an den Wippen so zu koordinieren, dass der Begrenzer seine Klappe hält. Es ist schon 1.000 Mal geschrieben worden: Einfach Furcht erregend, auf welche Kürze lange Geraden in schnellen Autos schrumpfen. Die Beschleunigung gleicht dem Sprung von einer 1.000 Meter hohen Bergwand. Nur im Audi R18 sollte man noch lenken, bremsen, schalten. Das Gehirn hinkt immer 200 Meter hinter dem aktuellen Geschehen her - keine gute Ausrede für einen Unfall.

Der Audi R18 ist ein Dragster, der aber bremst wie ein Klotz. Selbst auf den kurzen Geraden in Misano zuckt die Anzeige auf 250 km/h. Und da ist noch nicht mal der letzte Gang drin. Neuankömmlinge in dieser Kathedrale des Abtriebs können so ein Auto nicht exekutieren. Was man im Selbstversuch erfahren kann: Trotz stark geschrumpftem Hubraum (3,7 statt 5,5 Liter, sechs statt zwölf oder zehn Zylinder) ist das feist-puffende Diesel-Drehmoment überwältigend.

Audi R18 bremst und beschleunigt brutal

„Wir haben der Versuchung widerstanden, euch für diesen Test den Saft abzudrehen.“ Der Satz ist ein gelungenes Beispiel dafür, lieber Ralf Jüttner (Technikdirektor bei Joest Racing), wie man Vertrauen durch Misstrauen ausdrückt. Während beim Dragster auf die irrwitzige Beschleunigung eine hilflos anmutende und höchst altmodische Verzögerung mittels (Rettungs-)Fallschirm folgt, bremst der Audi R18 exakt so brutal, wie er beschleunigt. Zu Beginn der Geraden sitzt die Faust im Nacken, am Ende der Geraden schlägt sie in der Magengrube ein.

Wussten Sie, dass sich Furcht graphisch abbilden lässt? Zwischen Turn 10 (üble Haarnadel) und Turn 13 (halbgare Rechts) liegen in Misano - logisch - zwei weitere Kurven. Marcel Fässler durchpfeilt das alles mit einer Pedalstellung. Vollgas. Er würde das vermutlich auch in der ersten Runde seines Lebens in Misano mit kalten Reifen schaffen, aber er ist so ein netter Kerl, dass er das niemals zugeben würde. Seine Beschleunigungslinie schraubt sich selbstbewusst und männlich empor. Meine Beschleunigungslinie kritzelt schreckhafte Amplituden der Angst auf den Datenausdruck: Kurz trau ich mich, nur um die soeben getroffene Entscheidung sofort wieder zu revidieren. Zicke Zacke Hühnerkacke.

Andererseits will niemand durch einen halbfrontalen Mauereinschlag in Misano sterben, oder? Also die langsamen Kurven. Auch da kann man sich blamieren, doch an einem schnöden Dreher ist noch kein Museumsstück verendet. Der Versuch der Attacke scheitert abrupt in der Mitte der Haarnadel-Links: Wieder kollidiert ein zu lang geratenes Körperteil - diesmal der linke Arm - mit dem Auto, genauer mit der mittig hochgezogenen Sitzverschalung. Ganz ähnlich wie die schmerzende rechte Schulter mit der Tür oder das linke, nun geschwollene Knie mit der verflixten Karbonnaht des Instrumentenbrettes.

Mit beträchtlicher Anstrengung reagiere ich auf die überraschende Wendung, indem ich die linke Hand entkrampfe - und das Lenkrad einfach loslasse. Die plötzliche Einarmigkeit ruiniert meine Stimmung und den zweiten Teil meines kühnen Plans, nämlich probehalber mal viel Lenkeinschlag mit viel Vollgas zu kombinieren. Selten ist der Test einer Traktionskontrolle deutlicher gescheitert.

Also Plan B: langsame Rechtskurven, da ist die Freigängigkeit der Arme gewährleistet. Schreckhaft sollte man nicht sein. Unter vollem Boost im ersten Gang - jawoll, der geht bis 120 km/h - zuckt das Heck nicht mal mit dem Flügel. Trotz großen Lenkwinkels setzen die Reifen den irren Kanonenschlag des Motors eins zu eins in Beschleunigung um. Für einen Augenblick mäandert der Rennwagen Richtung Kurvenausgang und man wähnt sich auf direktem Weg ins Kiesbett. Doch wie von Geisterhand kriegt der Audi R18 die Kurve, auch wenn die zuvor minutiös geplante Ideallinie vom überfallartigen Schub verwischt wurde.

Für Profis sind LMP1-Rennwagen Spielzeuge

Der Turbolader mit variabler Geometrie macht seine Vorgänger lächerlich: Da, wo früher ein Loch klaffte, scheint der Lader und die ihn regierende Elektronik heute den Gasbefehl des Fahrers mit vorauseilendem Gehorsam zu erahnen. Bevor der Sabber aus dem Mundwinkel tropft, hält das elektronische Halsband namens ASR den Wagen bei Fuß. Erinnerungsblitze flashen durchs Hirn: Wie Benoît Tréluyer mit dem Audi R18 in Le Mans einen Peugeot und eine Corvette ausgangs der Porsche-Kurven überholte, indem er sie über die Auslaufzone austrickste. Hatte auch Tréluyer Mühe, seine Linie zu halten? Mitnichten, für Profis sind LMP1 Spielzeuge. Ohne sichtbare Anstrengung denken sie sich Linien aus, die noch niemand jemals auf dieser Strecke gefahren war.

Der Audi R18 ist ein Held, aber seine Piloten sind auch Helden. Es wird nur dann brenzlig, wenn der Held von Nicht-Helden pilotiert wird. Betrachten Sie das Bild vom Cockpit in der Fotoshow. Wie Sie sehen, sehen Sie (fast) nichts. Die Knöpfe und Lämplein sieht man vorzüglich, aber die periphere Wahrnehmung gleicht der eines Soldaten hinter einer Schießscharte auf einer mittelalterlichen Festung. Das ist nicht die Schuld von Audi, sondern die des Reglements. Die 360 mm breiten schwarzen Riesenwürste an den Felgen der Vorderachse verrammeln die Fahrerglocke. Ein Zimmer ohne Aussicht.

Rennwagen fahren als Ratespiel

Im Straßenverkehr gibt es gesetzliche Bestimmungen zum Sichtstrahl des Fahrers, in Le Mans bedauerlichwerweise nicht. Ein Fehler, der auch erklärt, warum die Unfallquote der Helden so unheldenhaft anstieg. Rennwagen fahren als Ratespiel: Theoretisch ist ein Ablösepunkt am Curb zu dechiffrieren, indem man rechts aus dem Seitenfenster blickt. Dort lassen sich bei geeigneter Prozessorgeschwindigkeit im Hirnkastl für Millisekunden durch den Louver am Vorderrad schnell oszillierende rote und weiße Flecken erspähen - das wäre dann der Curb, zumindest wenn man alleine in Misano spazierenfährt. Bei 55 Streitwagen auf dem Rundkurs in Le Mans könnte es sich aber auch um die Frontpartie eines anderen Rennwagens gehandelt haben.

Den größten Bammel beim Tracktest hatte der Österreicher Wolfgang Ullrich nicht vor den Journalisten, sondern vor dem Briten Johnny Herbert. Der durfte nach sieben Jahren LMP1-Abstinenz auch mal wieder an der Bulette schnüffeln. „Die Schreiberlinge san demütig, die Profis net.“ Nun, er ist wieder im Museum, unser Held. Nicht der Johnny, der Audi R18 TDI.

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Sport Auto 03 / 2022
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Erscheinungsdatum 04.02.2022

132 Seiten