Ausfahrt mit dem Bugatti Vision Gran Turismo
So fährt der 95-Prozent-Chiron

Der kann doch unmöglich nur eine Studie bleiben, oder? Schließlich wird es höchste Zeit für einen Bugatti wie den Vision Gran Turismo, denn die beiden Le-Mans-Siege der Marke liegen fast 80 Jahre zurück. Also ab mit ihm auf die Piste. Vielleicht bringt ihn das der Realität ein bisschen näher.

Bugatti Vision Gran Turismo, Exterieur
Foto: Dino Eisele

Zu den Unternehmenswerten des gemeinen Autoherstellers zählt ja gerne alles Mögliche: Innovationskraft, Technologieführerschaft und Nachhaltigkeit ganz unbedingt - mindestens. Der Bescheidenheit machen sie sich dagegen höchst selten verdächtig. Dann allerdings poppt sie auf, die Ausnahme von der Regel, einfach so, ausgerechnet in einem Pamphlet von Bugatti - jener Marke, die noch nie, wirklich nie als Synonym für Bescheidenheit verwendet wurde. Und das dürfte ebenso für die nahe Zukunft gelten. Von einer "ausdrucksvollen Formensprache" ist dort zu lesen, bezogen ausgerechnet auf das Design der Studie Vision Gran Turismo, jenes in zwei Blautöne getauchten Monsters, dessen Debüt die automobile Welt ein wenig aus dem Rhythmus brachte, noch bevor es andere Ereignisse taten.

Jetzt steht der Sportwagen da, wo ihn künftig Millionen von Kunden parken werden: in der Boxengasse des Circuit des 24 Heures von Le Mans. Dieser Bugatti allerdings ist real, seine zahlreichen Kopien dagegen sind virtuell, was die Spielkonsolen-Nutzer sicher kaum stören wird, denn selbst in dieser Welt sieht man kaum Spektakuläreres. Etwas Schnelleres wohl ebenfalls nicht, denn in einigen Abschnitten des 13,5 Kilometer langen Kurses soll der Vision Gran Turismo mit deutlich über 400 km/h entlangpeitschen können.

Bugatti Vision Gran Turismo entspringt der virtuellen Welt

Ob das echte Auto wohl auch …? Nein. Reden wir jetzt nicht lange herum: Die Studie kann nicht annähernd das, was seine Schöpfer errechneten und vorerst nur die Play-Station-Junkies dieser Welt hinter ihren Monitoren erfahren werden. Daran ändert selbst das mächtige 16-Zylinder-Aggregat nichts, das nach dem insektenschwarmigen Anlassersirren den offenbar mit größter Leidenschaft verbauten Beton anbrüllt, der den zornigen Schall sofort zurückschmettert. Jetzt dürften vielleicht doch noch ein paar Einwohner der Loire-Stadt aufgewacht sein, über 140.000 Menschen leben hier immerhin, halten es aber weitestgehend geheim.

Nur einmal im Jahr, Mitte Juni, steppt hier der Bär, und zwar höchst virtuos. Beim 24-Stunden-Rennen liefern sich die Hersteller eine völlig unbescheidene Materialschlacht, die Fahrer dann auch - nicht selten endet sie in spektakulären Unfällen. Seit 1923 feiern sie hier dieses Spektakel, Bugatti feierte ebenfalls - zwei Siege nämlich, in den Jahren 1937 und 1939. Der Typ 57C Tank ging damals an den Start, erreichte eine Durchschnittsgeschwindigkeitvon 136,99 km/h und muss nun als Vorbild für den Vision Gran Turismo herhalten.

Bugatti Vision Gran Turismo, Exterieur
Dino Eisele
Als Folge der aerdoynamischen Anforderungen ergibt sich die dreidimensionale Seitenlinie.

Design-Ausblick auf den neuen Bugatti Chiron

Doch das Team um Design-Direktor Achim Anscheidt verzettelte sich nicht in der Vergangenheit, vermied einen zu bemühten Retro- Look. Eigentlich blieb nur die Lackierung in den zwei unterschiedlichen Blautönen übrig. Alle anderen Designmerkmale wie der hufeisenförmige Kühlergrill (der ursprünglich mal ein Ei war) sowie die markante, längsseits und mittig über das gesamte Fahrzeug verlaufende Linie ankern anderswo in der Markenhistorie, dem Typ 57 SC Atlantic beispielsweise. Sie zählen sicher auch zu den Charakteristika jenes Sportwagens, der im kommenden Jahr den 450 Mal gebauten Veyron beerben soll.

"Wie unser virtuelles Vision-Gran-Turismo-Projekt bereits angedeutet hat, wird die Zukunft markante Designelemente bringen, etwa das Acht-Augen-Gesicht sowie an der Seite die dreidimensionale Bugatti-Linie, die sowohl eine aerodynamische Funktion hat als auch die charakteristische Zweifarbigkeit technisch sauber darstellt. Die hintere Fahrzeugpartie zeigt mit dem Abrissheck und einem neuen, einzigartigen Leuchtkonzept einen radikalen Bruch zum Veyron", verrät Anscheidt.

Deutlich mehr Beast, bei immer noch reichlich Beauty

Ach ja? Schluss mit optischer Bescheidenheit? Stattdessen ein voller Akkord auf der Weltbeherrschungsorgel des Designs? "Die höheren Leistungswerte des neuen Bugatti, mit denen noch anspruchsvollere Anforderungen bei der Aerodynamik und der Kühlung einhergehen, erforderten zwangsläufig neue Gestaltungsansätze. Ein Beispiel ist das Abrissheck, das zudem auch stilistisch zeigt, worum es geht: konsequente Reduktion auf das Wesentliche - pur und authentisch ist hier unsere Aussage.

"Insgesamt wird der neue Bugatti ein ganzes Stück mehr Beast sein, bei immer noch reichlich Beauty", erklärt der Design-Direktor. Gut, Leistung war ja bekanntlich ein Manko des Veyron, der bestenfalls nur 1.200 PS abgeben wollte - ein Skandal. Schluss mit der Ironie, es gibt nun mal eine Welt, deren Bewohner mehr wollen, immer mehr, und die bereit sind, für noch mehr entsprechend zu bezahlen. Ob sie auch bereit sind, sich in die Enge der Fahrgastzelle des Bugatti einpassen zu lassen?

Bugatti Vision Gran Turismo, Exterieur
Dino Eisele
Das Abrissheck zeigt stilistisch, worum es geht: konsequente Reduktion auf das Wesentliche – pur und authentisch ist hier die Aussage.

Vision Gran Turismo richtet sich nach FIA und ACO-Regeln

Keine Sorge, denn während sich die Studie ausschließlich nach den Homologationsregeln der Sport-Hoheiten FIA und ACO richtet, muss sich das Serienmodell an den Bedürfnissen der Hoheiten aus Fleisch und Blut sowie den Bestimmungen für den Straßenbetrieb orientieren. Vor allem aber soll sich der neue Bugatti ebenso unspektakulär fahren lassen, wie der Veyron aussah. Im Prinzip also den Wählhebel auf D rücken, Gas geben (okay, ein bisschen vorsichtiger als bei einem VW Golf vielleicht) und gut is’.

Im Prinzip? Nein, auch in der Realität, denn schon der Veyron bezieht einen großen Teil seiner Faszination aus seiner Unkompliziertheit – zumindest für den Nutzer. Die Entwickler schreckten dagegen sicher hin und wieder schweißgebadet in der Nacht auf, wenn tags zuvor schon wieder ein Doppelkupplungsgetriebe verraucht oder die ESP-Applikation jenseits von 300 km/h heikler war als angenommen. Nun gut, zum Äußersten kommt es heute auf dem Circuit Bugatti nicht, gemächlich rollt der Vision Gran Turismo aus der Box hinaus durch die Rechts-links-rechts-Kombination hinauf zum berühmten Dunlop-Bogen. Der Schalensitz zwickt ein wenig, das Fragment eines Lenkrads wirkt ungewohnt, erinnert ein bisschen an K. I. T. T., das TV-Wunderauto der 80er.

Bugatti Vision Gran Turismo, Interieur
Dino Eisele
Derzeit kommen nur Lenkrad und Pedalerie ihren Aufgaben nach. Reicht ja eigentlich auch.

Neunmalklug daherreden mag der Bugatti indes nicht, zum Glück. Bei ihm sprechen Form und Material - und ein bisschen auch dass Achtliter-Triebwerk. Das einschüchternde akustische Aufblähen fehlt allerdings, denn die vier Turbolader fühlen sich ob des mäßigen Tempos nicht zum Druckaufbau animiert. Damit entfällt auch das laute Seufzen beim Gaswegnehmen, wenn der überschüssige Druck abgebaut wird. Die Sicht nach vorne wirkt ein bisschen so, als habe man sich einen übergroßen Vollvisierhelm übergestülpt. Und nach hinten? Dort herrscht tiefschwarze Nacht. Mal abgesehen davon blickt Bugatti viel lieber nach vorn: "Schon jetzt liegen für das neue Modell um die 100 verbindliche Bestellungen vor", sagt Wolfgang Dürheimer, Präsident der Marke. Verbindlich bedeutet übrigens: inklusive geleisteter Anzahlung von 250.000 Euro. So ganz nebenbei möchte Dürheimer zum Ausdruck bringen, dass sich die Fans keine Gedanken um die Zukunft der Marke machen müssen.

Bugatti Chiron debütiert im Frühjahr 2016

"Mit dem neuen Bugatti werden wir durchaus einen positiven Beitrag zum Konzernergebnis leisten", sagt Dürheimer. Der Grund: Während die Veyron-Entwicklung auf einem weißen Blatt Papier begann, gab es nun … den Veyron eben. Im Frühjahr zieht Dürheimer das Tuch vom neuen Supersportwagen namens Chiron, dessen W16-Motor nicht weniger als 1.200 PS leisten darf. Nun, und weil man es mit der Bescheidenheit nicht übertreibensollte, flirren durchaus begründete Gerüchte über eine elektrifizierte Super-Sports-Variante mit über 1.500 PS in den Kreisen der meist eher Reichen als Schönen umher.

Bekommen sie wieder jeden Individualisierungswunsch erfüllt? Einlegearbeiten aus Porzellan? Speziell gefärbtes Sichtcarbon? Oder gar mehr? Jetzt wird Designer Anscheidt philosophisch: "Ich vergleiche das gerne mit der Musik: Wird es jemals einen Punkt geben, an dem es keine neuen Kompositionen mehr geben wird? Entscheidend für uns ist, dass die Individualisierung unserer Produkte im Einklang mit den Werten unserer Marke erfolgt und ein harmonischer Dialog zwischen Stilistik und Technik herrscht. So können wir garantieren, dass jeder Bugatti, der Molsheim verlässt, wie auch immer er individualisiert sein mag, ein authentisches Produkt unserer Marke ist".

Das Spiel mit den Materialien der rollenden Studie

Zur Authentizität des Vision Gran Turismo zählt Wärme. Langsam heizen Motor und Getriebe den ebenfalls in zwei Blautönen eingefärbten Innenraum, leise knarzt es im Chassis. Hier drinnen bevorzugen die Designer mattes Sichtcarbon, das den Fahrer nicht blenden kann. Übrigens: Das Veloursleder, das hier reichlich verlegt ist, lieh man sich aus der Fertigung von Formel-1-Schuhen - aufgrund der höheren Strapazierfähigkeit. Um den Status als rollende Machbarkeitsstudie zu untermauern, experimentiert die Marke gerne mit Materialien.

"Was ich erst kürzlich zum Thema Nanobeschichtungen gehört habe, hat mich aufhorchen lassen. Auch die Zukunft flexibler OLED-Displays gibt Hoffnung auf frische Ansätze in der Designausführung. Ebenfalls faszinieren mich die Möglichkeiten der 3-D-Druckverfahren in immer exotischeren Materialverbindungen", berichtet Anscheidt. Wie auch immer der Materialmix aussehen wird: Der nächste Bugatti soll sich auch auf der Rennstrecke beweisen, nicht nur im Stadttempo wie die Studie, und nicht nur virtuell, sondern ganz real. Dabei dürfte ihm das zu erwartende Fahrzeuggewicht von rund 1,9 Tonnen kaum im Weg stehen. Spätestens seit dem Nissan GT-R wissen nicht nur Spielkonsolen-Fans, dass Masse niedrigen Rundenzeiten nicht im Weg stehen muss. Apropos: Zu eventuell realisierbaren Zeiten in Le Mans oder auf dem Nürburgring äußert sich Bugatti derzeit nicht. Jaja, wie bescheiden so ein Autohersteller doch sein kann.

Technische Daten
Bugatti Chiron 8.0 W16
Grundpreis2.856.000 €
Außenmaße4544 x 2038 x 1212 mm
Hubraum / Motor7993 cm³ / 16-Zylinder
Leistung1.103 kW / 1.500 PS bei 6700 U/min
Höchstgeschwindigkeit420 km/h
Verbrauch22,5 l/100 km