Ford Focus ST (2019) im Fahrbericht
Wie ein Fiesta ST auf Anabolika

Volle Kraft nach vorn: Der neue Ford Focus ST lässt 280 PS und 420 Nm Drehmoment auf Vorderräder und Sperrdifferenzial los. Zu viel Power für den Track? Nö!

05/2019, Ford Focus ST
Foto: Charlie Magee / Ford

Belgien ist bekannt für leckere Waffeln, Pommes und Schokolade. Dass hier richtig appetitliche Kompakte abgestimmt werden, wissen aber nur die wenigsten. Kein Wunder, schließlich zieht Ford um sein Testareal in Lommel meterhohe Sichtschutzzäune und lässt niemanden hinein, der nicht ein paar Dutzend Sicherheits-Checks bestanden hat. Doch heute dürfen wir nicht nur reinschauen, sondern auch hinters Steuer des neuen Ford Focus ST.

Blechtrommel auf Ecstasy? Nicht der Focus ST!

Gleich zu Beginn lassen wir’s richtig fliegen: BAP-BAPBAP-BAP!!! Mit aktivierter Launch Control bremst sich der ST am Eingang zum Oval fest – deckelt die Drehzahl bei 3.000 Touren, knallt mit dem Sportauspuff und schießt los. Nur minimal schlupfen die Vorderräder, während 420 Newtonmeter den Antriebsstrang ordentlich durchschütteln. Bereits nach 5,7 Sekunden passiert die Tachonadel im Idealfall die Hundertermarke – Glauben wir an dieser Stelle gerne, auch wenn gerade keine Stoppuhr zur Hand ist. Selbst über 100 km/h reißt der Zug nicht von der Kette. Beim Schalten bleibt der Gasfuß einfach stehen. Die Gänge reißt du mit dem Aluminium-Schaltknauf einen nach dem anderen durch die manuelle Sechsgangbox. Die Wege sind dabei noch kürzer als beim bisherigen RS-Modell. Mit der „Anti-Lag“-Funktion, wie sie auch beim Ford GT eingesetzt wird, bleiben die Drosselklappen während des Hochschaltens noch kurz geöffnet. So drehen die Laderschaufeln auf der Kompressionsseite länger nach und sprechen direkt an.

Unsere Highlights

Der 2,3-Liter-Vierzylinder, der in seinen Grundfesten vom alten Focus RS abstammt, röhrt dabei sein bassiges Turbolied – zwar künstlich verstärkt im Innenraum, aber das ist nicht schlimm. Denn anders als bei manch einem Konkurrenten klingt das nicht nach Blechtrommel auf Ecstasy.

Mit Highspeed im Oval

Ford Focus ST 2019
Charlie Magee
Separate Rundinstrumente für Öldruck, Öltemperatur und Ladedruck sind jetzt digital ins Sync3-Infotainment eingebettet.

Mit deutlich über 200 Sachen fliegt der ST jetzt auf der obersten Fahrspur durch die erste Steilkurve, gefühlt nur eine Handbreit von der Leitplanke entfernt. Dabei liegt er satt in der Bahn und unterdrückt Windgeräusche auch bei diesem Tempo überraschend gut. Wechsel auf die innere Fahrspur: Mal gucken was die Bremsen können. Ansatzlos beißen die Michelin Pilot Sport 4S in den Asphalt. Die elektronisch gesteuerte Bremsanlage samt adaptivem Hauptbremszylinder soll Fading vermeiden und sorgt für konstanten Bremsdruck, auch bei wiederholten Vollbremsungen. Nach drei weiteren Runden Highspeed auf dem Oval lockt das Infield.

Auf dem Verbindungsweg bleibt kurz Zeit, sich im Innenraum umzusehen, der im Wesentlichen dem Standard-Focus entspricht. Separate Rundinstrumente für Öldruck, Öltemperatur und Ladedruck wie beim Vorgänger gibt’s im Neuen (ab 32 900 Euro) nicht mehr – sie sind jetzt digital ins Sync3-Infotainment eingebettet. Dafür sieht er edler aus mit seinen grauen Ziernähten und fühlt sich dank Alcantara und Leder auch so an. Gleiches gilt für die haltstarken serienmäßigen Recaro-Sitze. Das Lenkrad trägt nun zwei rot markierte Fahrprogramm-Schalter: Die S-Taste, um direkt in den Sportmodus zu wechseln, und die Mode-Taste, um sich durch die vier Abstimmungen „Slippery“, „Normal“, „Sport“ und „Race“ zu klicken.

Nächste Prüfung: Die Komfortstrecke

Auf dem Testareal in Lommel hat sich Ford eine Komfortstrecke gebaut, die auf wenigen Kilometern vom belgischen Kopfsteinpflaster über Pariser Bruch-Asphalt bis hin zu kalifornischen Schlaglochpisten die bescheidensten Straßenverhältnisse simuliert, die man auf der Welt finden kann. Über diese Buckelpiste gleitet der ST jetzt. Ja, hier steht bewusst „gleitet“! Denn anders, als unsere Bandscheiben befürchtet haben, schluckt das Adaptivfahrwerk selbst Querrippen und Blow-ups kaum spürbar.

Dabei schaukelt sich der Hot-Hatch jedoch nicht etwa auf wie ein C4 Cactus mit seinem CAC-Fahrwerk (ja, das heißt wirklich so). Das CCD-Fahrwerk (Continously Controlled Damping) des ST reagiert dank elektronisch gesteuerter Dämpfer sehr schnell auf die wechselnden Beläge und begrenzt dabei Ausfedervorgänge auf ein Minimum. Doch natürlich kann der Kompakte auch sportlich. Ein Druck auf die rote „S“-Taste am Lenkrad, und schon zeigt der Kompakte seine harte Seite: Sofort versteifen sich die Dämpfer. Was bis jetzt nur akustisch vordrang, ist nun deutlich zu spüren.

Handling-Track Nr. 7

Ford Focus ST 2019
Charlie Magee
Ist der neue Ford Focus ST ein besserer Hyundai i30 N? Schwer zu sagen, denn in Lommel genießt der ST Heimvorteil.

Doch dafür ist der Sport-Modus ja nicht gedacht. Schon eher für den Handlingtrack Nummer Sieben. Der könnte mit seiner wilden Abfolge von Kurven, Kuppen und Senken – an manchen Stellen auch alles zusammen – eine komprimierte Nordschleife sein.

Die Strecke ist also anspruchsvoll, ihr Verlauf aber schnell verinnerlicht. Trotzdem mahnen Auslaufzonen, die kaum breiter erscheinen als der Focus und wahlweise in Bäumen oder provisorisch angelegten Reifenstapeln enden zur Vorsicht. Gut, dass die ST-Lenkung deutlich handfester ausfällt als im normalen Focus. Durch die direktere Übersetzung folgt der Kompakte Lenkimpulsen ansatzlos, lässt dich aber abhängig vom Modus bewusst Antriebseinflüsse spüren – was gut ist für die Mensch-Maschine-Kommunikation. Deshalb lassen die Ingenieure auch etwas Bewegung im Aufbau zu, da sich so der Grenzbereich merklich ankündigt. Kleinere Driftwinkel toleriert die Traction Control, fängt diese mit kaum wahrnehmbaren Regeleingriffen ab.

Performance-Paket mit Sperrdifferenzial und Race-Modus

Aber es geht noch mehr. Der mit dem Performance-Paket (1.200 Euro) ausgestattete Testwagen wechselt jetzt in den Race-Modus. Das ESP zieht sich nun fast gänzlich zurück und die Dämpferrate wird elektronisch auf ein Minimum begrenzt. Zusätzlich leitet das elektronische Sperrdifferenzial an der Vorderachse bis zu 100 Prozent der Kraft auf das Vorderrad, das gerade am meisten Grip hat. Ganz klar: Die fahrdynamische Referenz für den neuen Focus ist der aktuelle Fiesta ST – den wir vor ziemlich genau einem Jahr hier in Lommel das erste Mal fahren durften und dessen freches Handling uns bis heute begeistert. Der wilde Focus ist vom selben Schlag, zwar schwerer, hat aber mit 280 PS aus dem 2,3-Liter-Motor auch mehr Power. Was jetzt noch fehlt? Ein paar belgische Waffeln vielleicht.

Fazit

Ford hat mit dem neuen Focus ST einen Kompaktsportler auf 18-Zoll-Räder gestellt, der den fahrdynamischen Spagat zwischen dem anerkannten Klassen-Radikalo Honda Civic Type R und dem Streber VW Golf GTI schafft. Ein noch besserer Hyundai i30 N also? Schwer zu sagen, denn in Lommel genießt der ST Heimvorteil. Ob er auch ohne diesen besteht, wird der erste Vergleichstest zeigen.

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