Miura und Huracán im Fahrbericht
Mit zwei Lambos auf Tour

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Irgendein Anlass für eine Geschichte findet sich immer. Zum Beispiel, dass der Lamborghini Miura vor fast 50 Jahren präsentiert wurde. Aber eigentlich heißen die Gründe: Miura, Huracán, Passo della Futa, Lust auf Italien – reicht, oder?

Lamborghini Miura P 400 SV, Lamborghini Huracán, Frontansicht
Foto: Rossen Gargolov

Als Vittorio Poletti die Bar Passo della Futa betritt, sieht man ihm alles Mögliche an. Etwa, dass er bester Laune ist. Was vielleicht an seinem Gemüt, dem Wetter oder den beiden herrlichen Sportwagen vor der Tür liegt. Oder an allem zusammen. Und man sieht ihm an, dass er Wert auf sein Äußeres legt, auch wenn das Haupthaar erstens schütter und zweitens längst weiß geworden ist.

Aber eines sieht man ihm nicht an: Vittorio feierte bereits seinen 79. Geburtstag – nicht wenige 60-Jährige wären froh, derart vital aufzutreten, und selbst der fast 50-jährige Lamborghini Miura hat so seine Probleme mit dem Alter. Dabei zählt der gelbe SV zu den letzten Exemplaren, bereits 1972 endete die Produktion des Sportwagens. Obwohl, einfach nur ein Sportwagen war der Miura nicht, ganz gleich in welcher Evolutionsstufe. Der nur 1,05 Meter hohe Zweitürer erschütterte als Obendrüber-Über-Mannsbild-Maschine seine Epoche, wurde als SV 280 km/h schnell, je nach Erzähllaune und Alkoholkonsum seiner Besitzer auch schon mal 296 km/h oder gar mehr.

Eine Zeitreise mit dem Lamborghini Miura


Vittorio jedenfalls kennt den Lamborghini Miura schon aus der Zeit, als erste Versuchsfahrzeuge durch den Apennin schossen, zwischen der Emilia-Romagna und der Toskana hin und her – und eben auch an seiner Bar vorbei. Ehrensache, dass die Testfahrer den Wirt auf einen Ausritt mitnahmen. Heute muss vermutlich jeder Werksfahrer ein mehrere Hundert Seiten starkes Pamphlet unterschreiben, um genau so etwas zu unterlassen. „Die kamen regelmäßig vorbei, die Straßen hier sind wunderbar“, erzählt der ehemalige Radrennprofi und strahlt. Der Lamborghini Miura strahlt ebenfalls, was nicht nur an seiner Farbe liegt, sondern daran, dass seine Scheinwerfer gerade mal funktionieren.

In der Morgendämmerung wäre das sehr hilfreich gewesen, da wollten sie jedoch nicht. Das Wesentliche funktioniert dagegen so zuverlässig wie Vittorios Espresso-Maschine: der quer eingebaute, 385 PS starke V12-Motor. Tja, und dann bläst ihm der Sturm des Fortschritts in orkanartigen Böen entgegen. Der Lamborghini Huracán trägt einen längs eingebauten Motor im Heck, der zwar nur zehn Zylinder aufweist, aber die Kleinigkeit von 610 PS leistet. Während also der Lamborghini Miura zu seiner Zeit als nicht zu übertreffender Teilchenbeschleuniger galt, ein Unhold, der seinen Besitzer mit bis zu 8.000 Umdrehungen pro Minute wahlweise ins Glück oder ins Jenseits beförderte, und nur 474 Mal gebaut wurde, kommt dem Lamborghini Huracán eine ganz andere Rolle zu.

Lamborghini Huracán in der Pflicht

Er bildet aktuell die Basis des Modellprogramms von Lamborghini, muss Geld verdienen und daher die Stückzahl seines Vorgängers Gallardo überbieten: 14.022 Exemplare. Gut, dem Gallardo blieben dazu zehn Jahre Zeit, die Fertigung des Neuen startete erst im vergangenen Jahr – klingt alles zu sehr nach Workflow, Business-Case und Return-on-Invest? Mag sein, doch das Publikum am Passo della Futa (wie überall auf dieser Ausfahrt) differenziert nicht.

Über beide Sportwagen bricht eine Welle der Begeisterung zusammen, über ihren Piloten eine aus Espresso und Fotowünschen – so haben alle etwas davon. Was allerdings nur Miura-Fahrer erleben: ein V12-Aggregat, das unmittelbar hinter der Medulla oblongata haust. Der von vier Dreifachvergasern gespeiste Vierliter-Wüterich würde jegliche Kopfbedeckungen, vermutlich das vollständige Gewand von Fahrer und Beifahrer einschnorcheln, wäre nicht die dünne Plexiglasscheibe zwischen Sitzen und Motor – an der die Kopfstützen kleben.

Das 5,2-Liter-Aggregat des Lamborghini Huracán residiert ein wenig distanzierter, was allerdings keine Rückschlüsse auf seine Arbeitsweise zulässt, obwohl es beim Starten kurz mal der Welt brüllend verkündet, sie demnächst aus den Angeln heben zu wollen. Danach herrscht jedoch wieder Ruhe in Form eines gesitteten Leerlaufs, der von mechanischem Surren, Singen und Klicken geprägt ist. Von Sitte und Dezenz hält der Lamborghini Miura nicht viel, lässt seinen Motor lieber konstant laut prasselnd, röchelnd, donnernd laufen – was weniger überrascht als die Tatsache, dass er selbst kalt sofort anspringt, völlig zickenfrei.

Womit ebenfalls niemand rechnen konnte: Im Lamborghini Miura findet sich sogar ausreichend Platz für Menschen, die nicht Vittorios schlanke Radrennfahrer-Statur aufweisen können. Zugegeben, die Sitze selbst wirken eher wie Babybadewannen, eine passende Position lässt sich kaum finden, doch noch nie fühlte sich der Affe auf dem Schleifstein so wohl wie hier. Denn hinter dem immer zu weit entfernten Lenkrad wölbt sich die riesige Frontscheibe, lässt die Umgebung das Cockpit fluten, nur wenig von den obszönen Rundungen der Gandini-Karosserie gehindert. Kurz aufkeimende Romantik bekommt jedoch keine Chance zur Blüte, denn in dieser servolosen Sportwagen-Welt tauscht der Lamborghini Miura seine Kraft nur gegen die des Fahrers ein.

Ehrliche Assistenzsysteme im Lamborghini Miura


Assistenzsysteme? Klar doch: ein Sperrdifferenzial, 215/70-15-Reifen vorne, 255/60 hinten. Ach ja, und eine durchaus präzise Lenkung. Jedenfalls startet der Lamborghini Miura gewaltig, es klingt, als vibrierten Hitzebleche im Takt der 12 Zylinder und 24 Ventile, um die Hintergrundmusik zur bebenden und schnaubenden Mechanik zu spielen. Ob in ihm eines der für die Pressefahrzeuge präparierten, besonders kräftigen Aggregate installiert ist, von denen der damalige Lamborghini-Testfahrer Bob Wallace einst berichtete? Die Motoren waren so leistungsfähig wie unerprobt, dass sie die Aerodynamik des Lamborghini Miura überforderten – was bei 288 km/h und mehr nur bedingt lustig war.

Offensichtlich braucht’s jedoch Tempo, damit der Lamborghini Miura zutraulicher wird. Auf den zwirbeligen Straßen zwischen Loiano, San Giacomo und Montecarelli flüchtet er sich mit steigender Geschwindigkeit in eine – vermutlich trügerische – Leichtigkeit. Selbst beim Auswringen des Triebwerks bleibt die Traktion stabil, das Fahrverhalten kalkulierbar, erstaunlich neutral sogar. Möglicherweise hängt das mit dem Delta zwischen echter und erlebter Geschwindigkeit zusammen, man weiß es nicht, denn der Tacho hat heute frei. Dessen Skala beginnt übrigens erst bei 40 km/h – das traut sich heute keiner mehr.

Ja, selbst ein manuelles Schaltgetriebe wagt Lamborghini heute seinen Kunden nicht mehr anzubieten. Beim Lamborghini Huracán spielen sich jedenfalls Elektronik und Mechanik perfekt die Karten zu, reißen so die sieben Gänge doppelkuppelnd abrupt durch. Das gelingt dem Getriebe des Lamborghini Miura, das sich einst für seine fünf Gänge und deren Synchronisierung feiern ließ, nicht ansatzweise. Vor allem der zweite ist ein störrischer Hund.

Lamborghini Huracán überzeugt mit leichtem Handling

Der Lamborghini Huracán rauscht unterdessen mit zunächst brodelndem, dann schreiendem, aber immer leicht unwuchtigem V10-Soundtrack durch die oft sturmdürren Wälder, alles an und in ihm wirkt so einfach und leicht wie die Bedienung einer Stereoanlage. Ein bisschen drehen, ein bisschen drücken, dann strahlen im TFT-Display die neben Drehzahl und km/h gewünschten Informationen, die Gänge werden gewechselt, bei Bedarf der Charakter von Antrieb, Fahrwerk und Regelelektronik geändert. Auf der Rennstrecke, ja dort würde der Lamborghini Huracán im Corsa-Modus nun neutral bis leicht übersteuernd aus Kehren herausschießen, in die er mit nur mehr minimalem Einlenkuntersteuern einen Wimpernschlag zuvor einbog.

Das Fahrwerk würde noch weniger Seitenneigung erlauben als es das zusammen mit dem Alu-Carbon-Chassis ohnehin zulässt. Aber hier? Hier sichert vorwiegend der Allradantrieb die Traktion gegen das maximale Drehmoment von 560 Nm, es liegt erst bei 6.500 Umdrehungen an, womit ein wesentlicher Charakterzug des modernen Lamborghini umrissen wäre – die Dramatik. Ganz gleich, ob Design, Akustik oder Leistungsentfaltung: Sportwagen mit dem Wappen-Stier tragen nie Kleingeld mit sich herum, sondern immer die großen Scheine.


Es geht hier nicht ums Blenden, sondern Zurschaustellen. Er müsste es nicht, der Lamborghini Huracán, er bräuchte beispielsweise nicht die Kampfjet-artige Klappe über dem Startknopf, er dürfte ruhig etwas freundlicher blicken. Ihm können schließlich nur wenige folgen, denn der kleine Lambo fährt präzise, dadurch schnell. So schnell, dass es selbst in Italien niemand mehr tolerieren würde, zumindest auf Landstraßen nicht, vermutlich auch sonst nicht. Im Rahmen der Mille Miglia, ja, dann vielleicht, denn das berühmte Oldtimer-Rennen raubt dem ganzen Land den letzten Rest Pflichtbewusstsein, inklusive der Polizei. „In diesem Jahr kommt die Mille nicht bei uns vorbei, das erste Mal seit 60 Jahren“, sagt Vittorios Sohn Claudio. Kopfschüttelnd hebt er dabei die Hände, blickt Richtung Himmel, eine dieser typisch italienischen, ewigen Gesten.


Vittorio selbst scheint das nicht besonders zu erschüttern, lebhaft deutet er auf die mit Schwarz-Weiß-Bildern tapezierten Wände, die von zahlreichen Besuchern erzählen, allesamt Prominente aus der italienischen Radsport-Szene, aber auch aus dem Filmgeschäft. Mit 79 Jahren hat der Senior wohl schon einiges erlebt, weiß vermutlich ganz genau, dass hier auf dem Passo della Futa nicht immer die Sonne schien, kennt möglicherweise furchtbare Details zur Historie des nahen Soldatenfriedhofs. Man sieht es ihm allerdings nicht an.

Technische Daten
Lamborghini Miura P 400 SV Lamborghini Huracán LP 610-4 Coupé
Grundpreis201.824 €
Außenmaße4360 x 1780 x 1060 mm4459 x 1924 x 1165 mm
Kofferraumvolumen100 l
Hubraum / Motor3929 cm³ / 12-Zylinder5204 cm³ / 10-Zylinder
Leistung283 kW / 385 PS bei 7850 U/min449 kW / 610 PS bei 8250 U/min
Höchstgeschwindigkeit280 km/h325 km/h
Verbrauch12,5 l/100 km
Die aktuelle Ausgabe
Sport Auto 03 / 2022
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Erscheinungsdatum 04.02.2022

132 Seiten