AMG S65 Coupé trifft Becker JetVan
Edel-Sprinter zieht am AMG Coupé vorbei

Dass eine Mercedes S-Klasse mal eben knapp eine Viertelmillion Euro kostet, überrascht wohl niemanden. Dass sie in der Preisliste vom schnöden Kastenwagen Sprinter links überholt wird, dagegen schon, oder? Also treffen sich das 630 PS starke S 65 AMG Coupé und der Becker JetVan in dessen Heimat Kalifornien.

Mercedes S 65 AMG Coupé, Becker JetVan
Foto: Andreas Lindlahr

Danke an den unbekannten Welpen, ohne ihn gäbe es diese Geschichte wohl nicht. Das Hundebaby ruinierte eine der Jalousien im Becker-Mercedes Sprinter JetVan seines ebenso unbekannten Herrchens, weshalb der 350.000 US-Dollar teure Kastenwagen nur eine Woche nach Auslieferung zur Revision musste – und daher für das Treffen mit dem neuen Mercedes S 65 AMG Coupé zur Verfügung steht. „Wir bauen nur auf Bestellung, so etwas wie einen Vorführwagen haben wir nicht“, sagt Howard Becker, Chef von Becker Automotive Design.

Fünf der hierzulande gerne von ausgebeuteten Paketdienstlern geschundenen Nutzfahrzeuge stehen teils ausgeweidet in dem schlichten Industriebau am Rande der Küstenstadt Oxnard. Kein Schild, kein Ausstellungsraum, nichts weist auf jenen Familienbetrieb hin, zu dessen Kundschaft nicht nur Geschäftsleute oder Motorsport-Teams, sondern auch Hollywood- und Sportstars zählen. Becker, Typ in Würde gealterter Surfer-Dude mit Kapuzenpulli und langen Haaren, spricht nicht über sie, versteckt allerdings auch nicht die zahlreichen Poster mit persönlichen Widmungen von Michael Douglas, Sylvester Stallone, Michael Jackson und Co., die dort hängen, was einmal ein Showroom gewesen sein könnte.

Geordnetes Chaos

Jetzt lagern dort zahlreiche Materialproben diverser Leder- und Holzsorten, Panzerglasscheiben mit Einschusslöchern, ausgebaute Sitze, Felgen, mittendrin ein paar Schreibtische. Draußen in der Halle – Blech- und Lackierarbeiten finden an zwei weiteren Standorten in Oxnard statt – beschäftigen sich vorwiegend Mitarbeiter mit lateinamerikanischen Wurzeln mit dem Einbau komplizierter Elektronik und edler Innenausstattung, Mariachi-Musik ihrer Heimat klampft und trompetet zwischen den Werkbänken hindurch. Außer Sprinter warten auch einige Chevrolet Suburban und Cadillac Escalade auf ihren Umbau. Für den Botschafter eines Staates aus dem Mittleren Osten bekommen zwei der gewaltigen SUV eine B6-Panzerung sowie eine autarke Strom-, Internet- und Sauerstoffversorgung. Der sicherheitsbewusste Kunde besitzt bereits 13 solcher rollenden Festungen.

Bei den Sprinter hingegen lässt Becker die Karosserie unangestastet. „Wir bekommen durchaus Anfragen, beispielsweise nach Panoramadächern. Allerdings möchten wir nicht die guten Beziehungen zu Mercedes aufs Spiel setzen, schließlich entsteht der Becker-Mercedes Sprinter JetVan mit offiziellem Segen des Herstellers“, erklärt Troy Becker, der Juniorchef. Als er auf seinen Vater trifft, erzählt Troy kurz von den perfekten Wellen am Morgen, und Howard bedauert es, dass er es nicht aufs Surfbrett geschafft habe.

Dann referiert Troy, offensichtlich regelmäßiger Besucher eines Fitnessstudios, eifrig weiter über die detailverliebten Umbauten. Man bediene sich überwiegend bei Materialien aus dem Flugzeugbau, dem sogenannten Ultra-Leder zum Beispiel, einem besonders leichten, feuer- und wasserfesten Kunstprodukt, das in großen Bahnen hergestellt wird und sich somit zum Beziehen der Seitenwände des Becker-Mercedes Sprinter JetVan eignet. Die Einbauten selbst fertigt Becker aus einem Komposit-Kunststoff in Wabenstruktur, als Gerüst dienen Aluminiumkonstruktionen.

Schnell lenkt Becker jedoch das Gespräch auf die Bordelektronik: „Darauf sind wir besonders stolz. Wir entwickeln die komplette Stromversorgung, Kabelbaum und dessen Absicherung selbst, verlegen und beschriften alles exakt, fertigen Schaltpläne an. So kann jeder Mercedes-Händler kleinere Probleme beheben – sollte es je welche geben.“

Hier liegen zugleich die Wurzeln des Unternehmens, das Troys Großvater in New York gründete – wo er TV-Geräte verkaufte. Ende der 60er zog er an die sonnige Westküste, begann in Beverly Hills, Heim-HiFi-Ausstattungen in Autos einzubauen. „Dabei handelte es sich meist um exklusive Fahrzeuge aus europäischer Produktion. Da wir nun mal deren Interieur erst auseinander- und dann wieder zusammenbauen mussten, haben wir viel darüber gelernt, wie die Europäer Autos konstruieren und welche Materialien sie verwenden“, erzählt Howard. Als dann ein Kunde in den frühen 80ern einen Chevrolet Suburban mit einer Bentley-Innenausstattung wünschte, um nicht aufzufallen, änderte sich das Geschäftsmodell des Unternehmens, das heute 42 Mitarbeiter beschäftigt.

Männerspielzimmer auf Rädern

Nun öffnet sich die Schiebetür des Becker-Mercedes Sprinter JetVan mit leichtem Hundeschaden surrend, ein Spielzimmer für Männer tut sich auf. In der Trennwand zur Fahrerkabine steckt ein riesiger Flachbildschirm, der über zwei schwenkbare Tablets gesteuert wird, die wiederum an den beiden ausufernden Liegesitzen montiert sind. Extraweiches Leder – echtes natürlich – überzieht eigens entwickelte Schaumstoffe, sogar das Gestell fertigt Becker selbst. Je nach Kundenwunsch befindet sich eine kleine Nasszelle im Heck, abgetrennt durch eine Schiebetür – elektrisch betätigt, na klar.

Die Summe der Einbauten kann den Standard-Sprinter JetVan nahe an seine Nutzlastgrenze bringen – wer mehr braucht, muss zur Variante mit Zwillingsbereifung an der Hinterachse greifen. Je nach Auslieferungsland bestellt Becker die Basismodelle in entsprechender Ausführung beim Hersteller, könnte demnach auch nach Deutschland liefern. „Wir haben viele Kunden in Europa. Unsere Fahrzeuge entsprechen allen Normen, bekommen problemlos eine Zulassung“, verkündet Becker senior stolz. Der Dreiliter-V6-Diesel, 188 US-PS stark, startet, es ist die aufgrund des tapferen Drehmoments von 461 Newtonmetern vermutlich beste Wahl für den Luxus-Laster Becker-Mercedes Sprinter JetVan.

Sohn Troy sitzt unterdessen im Mercedes S 65 AMG Coupé. „Mensch, die verwenden ja dasselbe Leder wie wir“, freut er sich und startet den Zwölfzylindermotor. Das 1.000-Newtonmeter-Monster ist bereits aus dem SL und der S-Klasse-Limousine bekannt, nicht allerdings dieser aggressive, gar ein bisschen dreckige Klang. Zornig wettert das Biturboaggregat, sodass die Swarovski-Kristalle in den Scheinwerfern wackeln. Wie kommt’s? „Im Coupé will sich ja niemand chauffieren lassen, da darf es schon etwas emotionaler sein“, heißt es aus Affalterbach. Zum eher dynamischeren Anspruch des Zweitürers mag das passen, zur ausufernden Leistung sowieso, zum Bling-Bling-Schmuck jedoch weniger – Geschmackssache.

Mercedes S 65 AMG Coupé – Straff statt komfortabel

Ebenfalls kurios: die Zwischenstufe des serienmäßigen ABC-Fahrwerks. Statt sich gegen die Seitenneigung zu stemmen, lässt sie davon sogar etwas mehr zu, um so der zuweilen betagteren Klientel mehr Dynamik bei niedrigem Tempo vorzugaukeln. Dabei fällt es dem Mercedes S 65 AMG Coupé schon im Komfort-Modus schwer, sich zu entspannen. Klar, die Siebenstufen-Wandlerautomatik bemüht sich immer fix um die größtmögliche Übersetzung, dennoch brodelt der mit 1,5 bar aufgeladene Motor unaufhörlich, will sich eigentlich lieber austoben. Und auch der Federungskomfort des mit 20-Zoll-Rädern bestückten Mercedes S 65 AMG Coupé tendiert bereits jetzt stark in Richtung straff statt komfortabel. Na, komm schon, ein paar Tasten drücken, alles steht auf scharf. Kurz hinter Santa Barbara finden sich ein paar verschlafene Landstraßen mit abenteuerlichen Kurvenkombinationen, deren Enge der 5,03 Meter lange und – mit Außenspiegeln – 2,11 Meter breite Mercedes S 65 AMG Coupé zu sprengen droht.

Bei jedem Anbremsen feuert der Antrieb wilde Zwischengassalven zu den vier Endrohren hinaus, könnte so Waldbrände entfachen, akustisch zumindest. Dadurch, dass kaum Seitenneigung entsteht, suggeriert das Mercedes S 65 AMG Coupé eine hohe Agilität, kann dabei natürlich weder Masse noch Maße kaschieren. Aber damit auf die Rennstrecke? Lieber nicht, dafür gibt’s ja andere Granaten im AMG-Programm. Lasst also Newtonmeter sprechen, von jener Gewalt kosten, die eben nur mit viel Geld zu kaufen ist und die ungefragt ausschließlich die Hinterräder zu ihrem Feind erklärt. In 4,1 Sekunden will das Mercedes S 65 AMG Coupé Tempo 100 knacken, und wem es darauf ankommt, der findet sicher heraus, dass das allradgetriebene S 63 Coupé das in 3,9 Sekunden schafft.

Mercedes S 65 AMG Coupé – Teurer als ein Maybach

Übrigens: Mit einem Grundpreis von 244.010 Euro übertrifft das V12-Coupé sogar einen voll ausgestatteten Maybach S 600. Troy jedenfalls scheint es recht egal, dass das zweitürige Mercedes S 65 AMG Coupé mit irrsinnigem Tempo etwas planlos zwischen zwei Welten umherfeuert, er ist schlicht begeistert. Ja, das könne sein Sprinter natürlich nicht, sei aber ein tolles Familienfahrzeug. Womit Troy natürlich recht behält, für ihn bietet der Kastenwagen sogar Stehhöhe, vier Personen können sich gegenübersitzen. Gut, nur wenige Eltern dürften sich dieses perfekte Familienmobil leisten können, eine gewisse Frau Jolie zählt wohl dazu. Apropos: Zum Fototermin am Strand schauen Troys Frau Melanie und ihr zweijähriger Sohn Heath vorbei, die mit ihren beiden Hunden spazieren gehen. Beim Familienfoto im JetVan müssen die Vierbeiner aber draußen bleiben.

Das Familienunternehmen Becker Automotive Design

Mit offizieller Erlaubnis von Mercedes rüstet Becker (beckerautodesign.com) in Oxnard, Kalifornien, Sprinter-Kastenwagen zu luxuriösen Einzelstücken um. In Handarbeit entstehen rund 50 Fahrzeuge pro Jahr. Der Familienbetrieb, geführt von Seniorchef Howard (mit Sohn Troy, dessen Frau Melanie und Enkel Heath), verfügt über drei Standorte, in denen nahezu alle notwendigen Arbeiten durchgeführt werden können. Da Becker dabei nicht die Karosseriestruktur des Sprinter verändert, bleibt die Werksgarantie erhalten. Ebenfalls eine Becker-Spezialität: aufwendig umgerüstete, auf Wunsch gepanzerte und autarke Riesen-SUV wie Chevrolet Suburban oder Cadillac Escalade.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

148 Seiten