Alfa Romeo S10 SS Restauration
Altes Blech im Sauber-Windkanal

Wir begeben uns auf die Spuren des Alfa Romeo S10 SS. Der legendäre Rennwagen erlebte eine bizarre Odyssee durch halb Europa, wurde zerlegt, zerschnitten, bei Rennen geschunden – und nun nach 80 Jahren wieder fein zusammengefügt und in der Sauber-F1-Fabrik präsentiert.

Alfa Romeo S10 SS / 12C Prototipo - Sauber F1 Fabrik - Restauration - 2021
Foto: Alfa Romeo

Es ist ein bewegender Moment, als der Zwölfzylinder erstmals hustet. Zunächst meldet er sich zögernd, dann aber mit kräftiger Stimme, so als wollte er sagen: Auch ein Achtzigjähriger gibt noch den Ton an. Der Ort für diesen ersten Probelauf ist mit Bedacht gewählt – die Sauber-Formel-1-Fabrik in Hinwil in der Schweiz. Und die Mechaniker, die heute die Boliden für Kimi Räikkönen und Antonio Giovinazzi bauen, applaudieren ergriffen. Sie erleben die Wiedergeburt eines Stücks der Alfa-Romeo-Motorsport-Historie, das vor 80 Jahren entstand.

Unsere Highlights

Die Geschichte bis dahin, soweit bekannt, ist kompliziert und nicht frei von Fragen. Der Rennsport Ende der 30er-Jahre begeisterte nicht nur die Massen, er war ein Symbol für die Macht eines Landes. Bei den Grand-Prix-Rennen hatten die italienischen Rennwagen gegen die deutschen Silberpfeile keine Chance mehr, deshalb wollte man sich aus italienischer Sicht mehr auf Langstreckenrennen konzentrieren.

Man bereitete sich in Italien bereits für das neue, geplante Reglement ab 1941 mit Dreiliter-Saugmotoren vor, da geschah das Unglaubliche: Ausgerechnet bei der Mille Miglia, dem italienischen Langstrecken-Klassiker vor den Augen der gesamten Nation, gewann 1940 ein deutscher BMW 328. Schlimmer konnte es nicht kommen. Benito Mussolini schäumte. Er wollte den Sieg zurück. Er wollte Revanche. Und ließ sofort alle Weichen für 1941 stellen.

Neuer Alfa Romeo für Mille Miglia 1941

Die Analyse nach der Mille-Miglia-Niederlage war eher ernüchternd – mit dem Alfa 6C oder dem 8C und einem Achtzylinder-Saugmotor war der BMW 328 nicht zu schlagen. Es gab aber drei Zwölfzylinder, die infrage kamen: Der Grand-Prix-Zwölfzylinder von Vittorio Jano indes war zu schwer und verbrauchte zu viel. Dem Zwölfzylinder von Bruno Trevisan wiederum fehlte Leistung. Glücklicherweise hatte Gioacchino Colombo bereits Anfang 1940 die Konstruktion für einen neuen V12 fertig. Eckdaten: Zylinderwinkel 60 Grad, drei Vergaser, zum Teil Magnesiumgehäuse. Die Leistung sollte bei 182 PS liegen.

Gedacht war das Triebwerk wohl auch für Le Mans, aber vor allem für die Mille Miglia. Da sollte es ein offenes, kurzes Auto mit gerade mal 1.059 Kilogramm antreiben. Alles wurde bis ins kleinste Detail verfeinert. Um Strömungsabrisse zu vermeiden, gab es beispielsweise keine außenliegenden Haubenhalter oder Türgriffe.

Auch das Chassis hatte Colombo weiterentwickelt. Der Rahmen bekam eine X-Verstärkung, die im Prinzip auf eine frühe Porsche-Steyr-Konstruktion zurückging. Enzo Ferrari hatte 1933 und 1934 neben Alfa- auch Steyr-Rennwagen eingesetzt. Er kannte also die Vorteile der Porsche-Konstruktion.

Für die Mille Miglia 1941 wurden vier Autos geplant. Ein offener S10 SS mit Kurzchassis war schließlich offenbar das einzige fahrbereite Auto. Es hatte die Motor- und Chassis-Nummer vier; Lenkung, Hinterachse, horizontale Dämpfer bekamen die Nummer eins.

Alfa Romeo S10 SS / 12C Prototipo - Sauber F1 Fabrik - Restauration - 2021
Alfa Romeo
Zur Fotoproduktion wurde der Alfa Romeo in die F1-Fabrik von Sauber Motorsport transportiert.

Lange Odyssee nach Rennausfall

Nachdem die Mille Miglia 1941 kriegsbedingt ausfallen sollte, stoppte Alfa-Chef Ugo Cobbato die S10-Entwicklung, die GP-Alfetta war ihm wichtiger. Aber Colombo und einige Ferrari-Leute entwickelten in den 40er-Jahren trotzdem weiter. Erst sollte der S10 SS die Ehre Italiens retten – dann landete er kurz vor den Kriegshandlungen zusammen mit anderen Autos, Teilen und Werkzeugen in einem Versteck in einer Molkerei am Comer See in der Schweiz.

Damit ging die Odyssee des S10 SS erst richtig los. Nach dem Krieg erwarb Jean Studer, Geschäftsmann und Rennfahrer aus Bern, von Alfa Romeo mehrere Post-Busse. Bis 1955 kaufte er dazu fünf 8C und zwei 12C – und offensichtlich auch den S10 SS. Studer wollte eigentlich eine Alfetta, deshalb wurde zunächst die S10-Karosserie abgenommen. Paul Glauser, ein Berner Studebaker-Händler, Mechaniker und Rennfahrer, baute den Alfa um. Es entstand ein Studer-Spezial aus Alfa-Teilen. Danach war der "S10 wie eine zweisitzige Alfetta", so Studer.

Allerdings hatte der Zwölfzylinder zu wenig Leistung, deshalb wurde das S10-SS-Chassis mit einem Achtzylinder bestückt. Der 2,9-Liter bekam einen zweiflutigen Kompressor wie in der Alfetta und größere Vergaser, die Leistung dürfte bei 280 PS gelegen haben. Zwischen 1947 und 1949 gewannen Studer und Glauser verschiedene Bergrennen. "Ein Glücksfall", urteilt der heutige S10-SS-Besitzer Stefano Martinoli: "So überstand der Zwölfzylinder die Episode unbeschadet."

Die bewegte Geschichte des S10 SS ging weiter: Mitte der 50er-Jahre kam die S10-SS-Karosserie auf ein anderes Alfa-Chassis. Das Auto ging durch mehrere Hände. Einer der Besitzer war Pierre Strinati, ein Schweizer Wissenschaftler, Höhlenforscher und Textilfabrikant, der den Wagen in seinem Buch "Voiturobjets" zusammen mit 23 anderen Oldtimern verewigte. Danach kam der Alfa mit der S10-SS-Karosserie zu Albert Obrist, einem Sammler aus Gstaad, der die wohl größte Ferrari-F1-Sammlung hatte.

Alfa Romeo S10 SS / 12C Prototipo - Sauber F1 Fabrik - Restauration - 2021
Alfa Romeo
Der Lack platzt schon an vielen Stellen ab. Der Zustand soll aber möglichst original gehalten werden.

S10 SS wandert durch viele Hände

Von dort ging es weiter zu Albrecht Guggisberg, von 1968 bis 2011 Besitzer der Oldtimer Garage in Bern. Aus dieser Zeit kursiert ein Foto im Internet, das den S10 SS mit dem englischen Oldtimer-Experten Christopher Renwick zeigt. Der nächste Sammler, der in der S10-SS-Geschichte eine Rolle spielte, war Tom Price, ein Amerikaner. Er erwarb den 8C 2900 mit der Chassisnummer 13 und der S10-SS-Karosse.

Weil die Karosserie nicht dem Original entsprach, ließ Price eine Replika-Karosse bauen. Danach zeigte sich der Alfa Nummer 13 so, wie er ursprünglich in die Schweiz gekommen war. Die S10-SS-Karosse blieb bei Guggisberg und der Alfa mit der Nummer 13 wurde in die USA verkauft.

Das originale Chassis des S10 SS samt Zwölfzylinder gelangte nach Stuttgart zu Egon Brütsch, Erbe einer Fabrik für Damenstrümpfe. Er träumte wie Studer von einer GP-Alfetta. Der Alfa-Motor erschien Brütsch zu alt. Deshalb tauschte er zunächst den S10-V12 bei Alfa Romeo gegen ein 8C-3000-Triebwerk aus einem Monoposto ein. Nach einem Motorschaden kaufte Brütsch von Paul Pietsch, dem erfolgreichen Rennfahrer und Gründer von auto motor und sport, einen aufgeladenen 3,7-Liter aus einem Maserati 6C-34.

Pietsch war 1937 mit dem Maserati beim Masaryk-Rennen in der Tschechoslowakei verunglückt. Dabei brannte das Auto fast vollständig aus, übrig blieb der Sechszylinder. Den verpflanzte Georg Westenried, ein Ingenieur, in das Brütsch-Alfa-Romeo-Chassis. Im Rahmen dieser Transplantation verpasste er der 8C-Vorderachse auch eine Spurverbreiterung und wechselte dabei die horizontale Federung gegen stehende Stoßdämpfer. In der Szene wurde der Zwitter nun als EBS-Westenried-Maserati bezeichnet.

Alfa Romeo S10 SS / 12C Prototipo - Sauber F1 Fabrik - Restauration - 2021
Alfa Romeo
Ein Stück Rennsportgeschichte im modernen Formel-1-Windkanal - größer könnte der Kontrast wohl nicht sein.

Einzelteile werden wieder zusammengeführt

Für die Saison 1949 baute Westenried für Brütsch ein leichteres Chassis. Dafür wurden nochmals die Bestände von Paul Pietsch bemüht, der an Brütsch einen aufgeladenen Bugatti-51-Motor mit 2,3 Liter Hubraum veräußerte. Jedenfalls starteten am Schauinsland-Bergrennen 1949 zwei EBS-Spezialkonstruktionen: Erster wurde Hans Stuck mit EBS-Westenried-Maserati, Zweiter Brütsch mit seinem EBS-Westenried-Bugatti.

Die Reise des S10 SS ging weiter, wirft aber noch mehr Fragen auf, die unter Automobilhistorikern sicher noch für Debatten sorgen werden. Nachdem die Rennteile mitten in der Stadt rund um das Brütsch-Anwesen bereits für öffentliches Ärgernis gesorgt hatten, das sogar in einem Zeitungsartikel gipfelte, kaufte ein Münchner Oldtimerhändler (Oldtimer Garage) Chassis, Achsen, Getriebe und Lenkung von Brütsch.

Ein deutscher Sammler soll später die einzelnen Komponenten des Projekts S10 SS wieder zusammengeführt haben – die Karosserie aus der Schweiz, das Chassis aus Deutschland und den V12 aus Italien. Eigentlich sollte es sein letztes Restaurierungs-Projekt werden. Dann aber verkaufte er den S10-SS-Verbund doch an einen Amerikaner, der die Teile in München einlagerte.

Von München ging es nach Österreich. Vor zwei Jahren wurde der S10 SS von Stefano Martinoli gekauft. "Mein Traum ist, dass dieses Auto seinen Platz in der Alfa-Romeo-Historie bekommt", so der Schweizer. Die Technik restaurierte Egon Zweimüller in Ennsdorf bei Linz: "Jetzt passt alles zusammen, der Motor, die Karosse mit den Auspuff-Führungen. Das ist kein Bastelauto, da passen alle Puzzle-Teile zusammen. Alles ist original. Die Pushrod-Federung, die Dubonnet-Achse."

An der Karosserie wurden Risse gelötet. "Das Auto ist nicht in einem Concours-Zustand. Aber dann würde es auch ein Stück seiner Originalität verlieren", erklärt Martinoli. Während der Fotoproduktion blättern immer wieder kleine Stückchen vom Originallack ab; Zweimüller sammelt sie penibel in einer Plastiktüte. Der Kontrast zur fast schon steril gereinigten Sauber-Formel-1-Fabrik könnte größer nicht sein.

Alfa Romeo nennt den S10 SS übrigens selbst ganz profan Zwölfzylinder-Prototyp – oder auf Italienisch "Alfa Romeo 12C Prototipo". In der Galerie zeigen wir Ihnen die Bilder des mühsam wieder aufgebauten Schmuckstücks.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
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Erscheinungsdatum 08.05.2024

148 Seiten