Buchtipp Michael Krumm: Driving on the Edge
In dem Buch geht es um Fahr-Kunst

Inhalt von

GT-Weltmeister Michael Krumm hat ein spannendes Buch über Fahrtechnik und Setup-Arbeit geschrieben. Dabei packt er nicht nur heiße Eisen und alte Kamellen an - sondern auch die streng gehüteten Geheimnisse des Schnellfahrens.

Michael Krumm, Buch, Driving on the edge

Mit Motorsportbüchern ist das so eine Sache. Es gibt Historienschinken, aus denen man lernt, wie es früher war. Es gibt Jahrbücher, in denen eine abgelaufene Saison mit dem Bunsenbrenner aufgewärmt wird. Und es gibt Biographien, die im besten Fall einen plausiblen subjektiven Blick vermitteln, in aller Regel jedoch in unerträglicher Schönfärberei ertrinken.

Kurz und gut: Wann haben Sie als Hobby-Pilot oder gar als aufstrebender Profi-Fahrer das letzte Mal bei der Lektüre eines Motorsport-Fachbuches etwas gelernt? Wir hätten da einen Tipp, der zwar flüssige Englischkenntnisse zwingend voraussetzt, andererseits ein Füllhorn an verwertbaren, spannenden und oft auch geheimnisvollen Informationen bietet.

Unsere Highlights

Michael Krumm hat das Buch geschrieben. Der gebürtige Reutlinger, der heute ein hoch dekorierter Rennfahrer und japanisch sprechender Kosmopolit ist, schreibt über das, was er am besten kann: nämlich schnell Auto fahren und wie man als Profi mit dem Auto, den Daten und den Ingenieuren arbeiten muss. Krumm schließt dabei eine Welt auf, die sich selbst Insidern kaum jemals öffnet: Die Geheimnisse der komplizierten Setup-Arbeit, das Spiel mit dem Rollzentrum, der Gewichtsverteilung, das Kurieren von Unter- oder Übersteuern oder das Linksbremsen.

Renningenieur gibt technische Tipps

Krumm hat Ahnung, und was er selbst nicht perfekt erklären konnte, steuerte der ausgebildete Ingenieur Ricardo Divila bei, einer der vielbeschäftigsten Renningenieure der Welt. Der Mann hat alles gewonnen, von der Formel 1 bis zur Japanischen Super GT, wo ihn Krumm kennen lernte.

Sein Teamkollege Lucas Luhr hat das Buch binnen einer Nacht verschlungen, vor dem Rennsonntag des diesjährigen GT-WM-Laufes in Paul Ricard. Seine Erkenntnis am nächsten Morgen gipfelte in der Bemerkung: „Da hast du aber einige echte Geheimnisse ausgeplaudert.“ Krumm gibt zu, dass die Veröffentlichung erst nach dem Ende seiner aktiven Rennkarriere geplant gewesen sei. Die große Offenheit ist die große Stärke des Buches, das in die Kapitel Basiswissen, Fahrtechnik, Kurvenlinien, Bremstechnik, Set-up-Arbeit und allgemeines Wettkampfwissen gegliedert ist.

In dem Buch geht es um Fahr-Kunst

In dem Buch geht es um Fahr-Kunst - und die wissenschaftliche Herangehensweise, wie man schneller wird. Der Lernwert liegt in den Verästelungen, die Krumm aufdröselt. Ein Beispiel: Im Kapitel Bremsen unterteilt er die Profifahrer in die Natur-Bremser, die sich auf ihre Intuition verlassen, Abstände korrekt einzuschätzen, und die Nicht-Natur-Bremser, die sich den Bremspunkten logisch über Visualisierung annähern.

Die Tücke liegt im Detail, weil man in der Praxis beides benötigt, wie Krumm zeigt, wenn er die langen Bremszonen mit den kurzen vergleicht, wo der Unterschied nicht nur in der Länge der Bremszone liegt, sondern auch in der Anzahl der Gangwechsel. Das Thema wird von Krumm deshalb so detailliert erörtert, weil das Bremsen viel wichtiger sei als das Beschleunigen, denn die Beschleunigungskraft ist geringer als die Verzögerungskraft. Ergo kann man beim Bremsen mehr Zeit verlieren - oder eben auch gewinnen.

Unterschiedliche Ideallinien

Bei der Technik des Kurvenfahrens unterscheidet Krumm zwischen der traditionellen Linie, der klassischen Lehrmeinung aus den Fahrerseminaren, der Profilinie sowie der ultimativen Profi-Linie. Jede Variante wird mit Daten aus der weitläufigen Karriere des Reutlingers erklärt, belegt und verifiziert. Hierbei kommen eine Vielzahl von äußerst erhellenden Grafiken zum Einsatz.

Krumm räumt mit verstaubten Legenden auf, beispielsweise der Theorie, dass es vorteilhaft sei, lieber langsam in die Kurve reinzufahren, dafür aber schneller wieder heraus. Laut Krumm sagen alle ihm bekannten Daten, dass diese Technik zu viele Kompromisse beim Bremspunkt sowie bei der Mid-Corner-Speed nach sich zieht.

Entgegen der landläufigen Meinung, nach der 5 km/h mehr Kurvenausgangspeed auch eine um 5 km/h höhere Topspeed auf der folgenden Geraden generiere, weist Krumm nach, dass das langsamere Auto schneller bis zu dem Punkt auf der Geraden beschleunigt, wo sich Motorleistung, Getriebeübersetzung und Luftwiderstand beim „terminal speed“ des Fahrzeuges kreuzen. Krumms These: Das Thema Kurvenausgangsspeed werde überschätzt.
Krumm setzt dann die Puzzle-Steine der Kurvenfahrt anhand archetypischer Kurvenformen zusammen: Der Zeitgewinn beim In-die-Kurve-Hineinbremsen, der frühere Einlenkpunkt, die engere Linie, der kürzere Weg, die bessere Positionierung im Scheitelpunkt der Kurve und der Exit-Speed - man muss alle Phasen der Kurvenfahrt nutzen, um reale Rundenzeitverbesserungen zu erzielen.

Auch andere Phrasen des Gewerbes werden widerlegt, wie jene, nach der man in Highspeed-Kurven die meiste Zeit gewinnt oder verliert. Falsch, sagt Krumm, denn auf Grund der hohen Geschwindigkeit verbringt man nur sehr wenig Zeit in diesen Kurven, gemessen an der Gesamtrundenzeit. Viel mehr Zeit jodelt man durch langsamere Kurven oder steht auf der Bremse - hier besteht also das größere Potenzial für Rundenzeitoptimierung.

Das Reifenkapitel ist nicht minder spannend. Krumm, der als exzellenter Reifenflüsterer gilt und jahrelang in die Rennreifenentwicklung unterschiedlicher Hersteller eingebunden war, räumt auch hier mit alten Märchen auf, wie jenem, dass man einen kalten Reifensatz am wirkungsvollsten mit extremen Rutscheinlagen und durchdrehenden Rädern auf Temperatur bringen soll.

Ein Grund, so Krumm, sei die unterschätzte Bedeutung der Reifenkerntemperatur im Verhältnis zur Laufflächentemperatur, ein anderer der Zusammenhang zwischen Temperatur und Druck: Hitze entsteht auch ohne gewaltsame Einwirkung, doch der Druck müsse durch langsames „Aufladen“ des Reifens in mittelschnellen und schnellen Kurven hergestellt werden. Ergo sind Rutscheinlagen völlig kontraproduktiv.

Das Geheimnis des Alters

Eingeschoben sind interessante Exkurse: So erklärt Krumm, warum ältere Fahrer oft so schnell sind als jüngere, obwohl ihre Reflexe und Reaktionszeiten nachweislich langsamer werden. Erfahrene Fahrer hätten oft mehr mentale Speicherkapazität, weil viele mechanische Handlungen im Rennauto über die Erinnerung der Muskelbewegung durch das Gehirn gesteuert werden, während speziell junge Piloten solche Abläufe über Nachdenken und gezieltes Ausführen bewusster steuern müssen.

Das bedeutet, dass sie stärker mit den mechanischen Handlungen beansprucht sind, während erfahrene Piloten mit ihren eingeschliffenen Mustern ein Auto quasi von alleine steuern - und daher mehr mentale Reserven haben, um unterschiedliche Linien oder Fahrtechniken anzuwenden. Sie fahren müheloser und fast gedankenfrei.

So enstand laut Krumm auch die These, Piloten würden in einem rauschähnlichen Zustand agieren. Krumm nennt das den Zustand in der Zone, in der Rennfahren fast anstrengungslos abläuft. Die Zeit erscheint gedehnt, jede Aktion läuft wie in Zeitlupe, und durch die Dehnung wachsen Präzision und Kontrolle auf ein fast überirdisches Maß. „Wenn man glaubt, man sei an der absoluten Grenze angekommen, stellt man fest, dass es keine Grenze gibt.“

Da hat jemand seinen Beruf als Rennfahrer mit allen Sinnen gelebt - und mit seinem Hirn tausend Mal durchdacht. Wer nicht wie Krumm 27 Jahre Zeit hat, um alles selbst zu erfahren und zu erleben, für den bietet das Buch fraglos eine willkommene Abkürzung.

Natürlich ist Motorsport kompliziert, und daher läuft die Lektüre nicht die Kehle hinunter wie süffiger italienischer Tafelwein. Das Buch ist für all jene gedacht, die selbst Rennen fahren oder junge Piloten, die eine Profikarriere anstreben. Die guten Ratschläge stehen alle im Buch - es ist am Leser, die Perlen zu heben und sie im Rennauto zu verknüpfen.