Favoriten-Check 24h Le Mans 2021
Überraschung durchaus möglich

Am Freitag schweigen in Le Mans die Motoren, die Teams haben vier Trainings und die Qualifikation absolviert. Wenn sich der Staub legt, wird das Bild klarer: Wie wird das Rennen in der Hypercar-Topklasse laufen? Kann womöglich sogar eines der LMP-Teams den Gesamtsieg holen? Und wer hat die Nase vorne in der GTE-Pro-Klasse für Werkswagen?

24h-Rennen Le Mans 2021 - Starterfeld
Foto: xpb

Alle bisherigen Voraussagen waren nicht unzutreffend: Toyota ist der 800-Pfund-Gorilla in der Hypercar-Topklasse und steht mit beiden Autos in der ersten Startreihe. Und in der traditionell extrem ausgeglichenen GTE-Pro-Klasse belegten Porsche, Ferrari und Corvette die ersten drei Plätze. Ist die Gefechtslage fürs Rennen damit schon klar? Mitnichten!

Die Topklasse sah das Debüt der neuen Hypercar-Kategorie in Le Mans. Der größte Paukenschlag war das Rundenzeitenniveau in der Hyperpole-Qualifikation: Toyotas schnellster Pilot Kamui Kobayashi (Toyota Nummer #7) schaffte bei optimalen Bedingungen am Donnerstag eine Bestzeit von 3.23,900 min, Teamkollege Brendon Hartley war im Schwesterauto mit der Startnummer #8 nur drei Zehntelsekunden langsamer. Lag die angepeilte Richtzeit der neuen Topklasse nicht bei 3.30 Minuten? Ja, aber diese grobe Festlegung bezog sich auf die Renn-Pace, nicht aufs Qualifying.

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Zweiter Glickenhaus fällt ab

Hinter den beiden Toyota folgte das Alpine-Signatech-Team, das den alten LMP1-Rebellion einsetzt, der Rückstand hielt sich mit 1,6 Sekunden ebenso im Rahmen, wie der Abstand zum besten Glickenhaus (#708), den Olivier Pla mit einer Zeit von 3,25,639 min in die zweite Startreihe fuhr. Etwas enttäuschend war eigentlich nur der Umstand, dass der zweite Glickenhaus (#709) 3,7 Sekunden auf die Pole-Zeit verlor, doch das Auto hinkt bei der Performance schon die ganze Woche hinter dem Schwesterauto hinterher. "Wir verstehen nicht so ganz, woran das liegt", gibt Pilot Romain Dumas zu.

Das Zwischenfazit fällt dennoch positiv aus: Vier der fünf Autos aus der Hypercar-Klasse lagen auf der 13,626 Kilometer langen Piste in 1,7 Sekunden. Doch die freien Trainingssitzungen gaben mehr Aufschluss über die Kräfteverhältnisse, denn dort war der Abstand teilweise sogar noch geringer und bewegte sich im Zehntelbereich. Können wir also ein spannendes Rennen erwarten? Vermutlich ja. Alpine beispielsweise geht davon aus, dass sie nach technischen Änderungen im Bereich des Tanks in der Lage sein werden, 12 Runden pro Stint zu fahren – ohne Kompromisse bei der Rundenzeit. "Nach den Daten aus den Trainingssitzungen gehen wir davon aus, dass wir im Renntempo 1 Sekunde pro Runde auf die Toyota verlieren", hofft Alpine-Teamchef Philippe Sinault.

In der Theorie sollte nach der bisher gezeigten Performance zumindest auch der Glickenhaus von Pla, Felipe Derani und Franck Mailleux (#708) in Schlagdistanz sein. Das Team von Jim Glickenhaus hatte die leise Hoffnung, ihr Auto auf die Pole Position stellen zu können, denn der 007 LMH ist auf wenig Luftwiderstand ausgelegt, was ihn in Le Mans bevorteilt. Doch die Toyota waren zu stark. Jetzt hoffen die Amis auf ein gutes Rennen, allerdings gibt man unumwunden zu, dass es bei der Zuverlässigkeit hapern könnte: Das Team bestreitet in le Mans erst sein drittes Rennen, der Alpine-Rebellion-LMP1 ist dagegen ein altes Schlachtross, das seit Jahren in Le Mans an den Start geht.

Glickenhaus 007 LMH - Startnummer #708 - 24h-Rennen Le Mans 2021
xpb
Glickenhaus hatte insgeheim gehofft, auf Pole Position fahren zu können.

Elektronik nervt Toyota

Der Favorit bleibt zwar Toyota, doch auch die Japaner sind nicht zu 100 Prozent sattelfest, wie beispielsweise ein Reset der Elektronik auf der Strecke während einer der Trainingssessions belegte – das gleiche Problem hatte Toyota schon in Monza, und es ist offenbar nicht vollständig gelöst. Nach dem WM-Lauf in Italien gab es keine weiteren Testfahrten, die Modifikationen und Optimierungen fanden also quasi im Trockendock statt, nicht auf der Rennstrecke. Wenn Toyota seinen Grundspeed ohne Probleme exekutieren kann, werden sie in Le Mans den vierten Sieg in Folge einfahren.

Wenn sie nicht ohne Probleme durchfahren, ist der einsame Alpine als der zuverlässigste Wagen aus der Topklasse der Geheimfavorit. Und wenn auch die Franzosen Probleme haben, könnte Glickenhaus oder die LMP2-Wagen zum Handkuss kommen – doch das sind viele Wenns. "Wir verlieren allein wegen der geringeren Reichweite (Anm.: elf statt zwölf Runden), der langsameren Grundpace und der Amateurfahrer bei einem optimalen Rennverlauf mindestens sechs Runden auf Toyota", sagt LMP2-Teamchef Sam Hignett, dessen Jota in der LMP2-Klasse mit einer Bestzeit von 3.27,950 min auf der Pole steht. "Wir kümmern uns gar nicht um die Topklasse, denn wir spielen da keine aktive Rolle, sondern nur eine passive", so Hignett. "Nur wenn alle Hypercars in Probleme laufen, wird das für uns zum Thema – aber daran glauben wir nicht."

Ferrari verliert 10 PS

Die GTE-Pro-Klasse steht auf den ersten Blick im Zeichen der Ausgewogenheit: Porsche knapp vor Ferrari knapp vor Corvette – ganze drei Zehntel trennte das Trio im Qualifying. Überraschungen gab es auch: Keiner der Werks-Porsche stand auf der Pole, sondern der Hub Auto-Elfer mit Dries Vanthoor am Lenkrad. Der Belgier, sonst in Diensten von Audi, startet erst zum zweiten Mal in Le Mans und sitzt zum ersten Mal in einem Porsche 911 RSR.

Der eigentliche Favorit, Kevin Estre im Werks-Elfer mit der Startnummer #92, warf seinen Porsche in der ersten fliegenden Runde in Indianpolis in die Mauer. "So was kann passieren, darf aber nicht passieren", lautete der Kommentar des zerknirschten Franzosen. WEC-Einsatzleiter Alex Stehlig nahm Estre in Schutz: "Kevin fährt seit Monaten fehlerlos am Limit, da kann so ein Fehler mal passieren." Das Team musste nach dem Unfall das Chassis tauschen.

Chevrolet Corvette C8.R - Startnummer #63 - 24h-Rennen Le Mans 2021
xpb
Corvette tritt erstmals mit dem Mittelmotor-Konzept an der Sarthe an.

Ein großes Fragezeichen in Le Mans ist traditionell die Balance of Performance (BOP) in der GTE-Klasse, denn sie wird wegen der speziellen Charakteristik der Piste jedes Jahr neu erstellt. In den ersten Sitzungen schien offenbar zu werden, dass Ferrari einen leichten Vorteil bei der Beschleunigung hat, weshalb es vor der dritten Trainingssitzung eine BOP-Anpassung gab, was die Italiener maßlos erzürnte. "Wir mussten die 13 Ferrari aus den Klassen GTE Pro und GTE Am neu anpassen, die BOP-Änderung erreichte uns zwei Minuten vor dem Start der Session – das ist völlig unprofessionell", urteilte Ferrari-GT-Sportchef Antonello Coletta. Die Änderung kostet 10 PS und 0,9 Sekunden bei der Rundenzeit.

Insider bezweifeln, dass die BOP-Änderung einen großen Einfluss auf das Rennen hat, auch wenn theoretisch eine weitere BOP-Maßnahme am Freitag vor dem Rennen erfolgen könnte. "Du musst hier volles Rohr fahren, und immer in Sichtweite der Spitze bleiben, damit du im Falle einer Gelbphase nicht hinter das zweite oder dritte Safety-Car fällst", so Porsche-Einsatzleiter Stehlig. "Denn wenn man einmal den Anschluss an die Spitze verloren hat, kann man das fast nicht mehr gutmachen."

Corvette-Pilot Nick Tandy, der in der Hyperpole Platz drei in der GTE-Pro-Klasse belegte, ist fürs Rennen vorsichtig optimistisch: "Über eine Runde sind wir schnell, mit mehr Sprit an Bord scheinen Porsche und Ferrari etwas schneller zu sein. Wir versuchen dran zu bleiben und sehen dann am Sonntagmorgen wo wir stehen – denn erst da geht das 24h-Rennen von Le Mans in die entscheidende Phase."

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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