Alfa Romeo 1900 und Lancia Aurelia B10
Mille Miglia-Limousinen der Nachkriegszeit

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Sie drängeln sich nur selten in die erste Reihe, und viele wissen nicht einmal, wen sie da vor sich haben - die Rede ist von zwei Stars unter den italienischen Limousinen der 50er-Jahre, die sogar Rennen gefahren sind: Alfa Romeo 1900 und Lancia Aurelia B10.

Alfa Romeo 1900, Lancia Aurelia B 10, Frontansicht
Foto: Arturo Rivas

Unscheinbare Italiener

Sie fallen kaum auf, gleiten fast schon unbemerkt durch den Verkehr. Es mag an ihren dunklen Farben liegen. Oder vielleicht auch am unscheinbaren Auftritt der beiden Limousinen, von denen wohl nur die wenigsten wissen, welche Modelle hier überhaupt fahren. Vermutlich haben sich ein Alfa Romeo 1900 Super und eine Lancia Aurelia B10 in letzter Zeit einfach nur zu rar gemacht, ihr eigentliches Wesen zu sehr versteckt.

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Die erste Pause in den Weinbergen oberhalb der Ahr. Ein paar Teenager, die mit ihren Mopeds unterwegs sind, scharen sich interessiert um die beiden Klassiker. Es ist der Alfa Romeo 1900, den sie sofort als solchen identifizieren. Wegen des Logos und des schmalen, tief nach unten gezogenen Kühlergrills, des Scudetto – zwei Designelemente, denen der Mailänder Autobauer bis heute treu geblieben ist.

Die Lancia Aurelia B10 hingegen stellt sich dem Nachwuchs erst auf den zweiten Blick vor. Auch er trägt schließlich sein Firmenlogo auf dem großen, nach unten v-förmig zulaufenden Kühlergrill, doch er ist mehr noch als der Alfa ein Fall für den Kenner - was allerdings nicht immer so war.

Lancia Aurelia ist seiner Zeit um viele Jahre voraus

"Als die Aurelia im Mai 1950 als neues Mittelklasse- Modell erstmals der Presse vorgestellt wird", erklärt Besitzer und Lancia-Spezialist Peter Bazille den jungen Autofans, "können die Journalisten vermutlich kaum so schnell schreiben, wie ihnen die neuen Details des Autos aufgelistet werden." Nobel sehe der neue Wagen mit seiner selbsttragenden Karosserie aus, notierten sie.

Eher Ober- statt Mittelkasse und eindeutig die Handschrift von Pininfarina, der ohne die verspielten Formen auskommt, die bis dahin in Mode waren. Sein neues Auto, so das allgemeine Urteil, wirke aerodynamisch und zeitlos-elegant, mit leicht ovalen, in Chrom eingefassten Scheinwerfern in den ausgeprägten Kotflügeln und Fondtüren, die hinten angeschlagen sind und sich zur Fahrzeugmitte hin öffnen lassen. Weil es bei der Lancia Aurelia B10 keine B-Säulen gibt, wirken die Fensterflächen großzügiger und der Einstieg offenherziger als bei herkömmlichen Modellen.

"Doch erst die Technik der Aurelia zeigt, wie weit dieses Modell seiner Zeit voraus war", erklärt Bazille. Wie so oft bei Lancia ist das Gewöhnliche nicht gut genug. Anders denken, etwas Neues wagen, natürlich auch bei der Lancia Aurelia B10. Allein schon aus Firmentradition und immer auf die Gefahr hin, sich auch mal zu verrennen. Ein gewöhnlicher Reihenmotor? Das wäre für Lancias technikverliebte Ingenieure unter Vittorio Jano nie in Frage gekommen. Die Aurelia sollte ein Auto voller Innovationen für anspruchsvolle Fahrer werden.

Ein gut eingestellter Lancia-V6 läuft schon bei 400/min rund

Chefentwickler Francesco Di Virgilio hatte sich bei der Konstruktion der Aurelia für einen 1,8-Liter-V6 entschieden - der erste, der in Serie in einem Auto verbaut wurde und obendrein aus Gewichtsgründen komplett aus Leichtmetall gefertigt war, damals ein für Motorblöcke noch ungewöhnlicher Werkstoff. Anders als bei einem herkömmlichen V-Motor verfügte jeder Pleuel zugunsten der Laufruhe jedoch über einen eigenen Kurbelzapfen, was - bis auf den Zylinderwinkel von 60 Grad - dem Prinzip eines Boxermotors entspricht. "Ein gut eingestellter Lancia Aurelia-Motor würde bereits ab 400 Umdrehungen rund laufen", schwärmt Bazille.

"Nur 56 PS?" Die offensichtlich geringe Leistungsausbeute des Motors sorgt für überraschte Gesichter rund um den Bug der Lancia Aurelia B10. Die Vorstellung, dass man damit einst sogar recht erfolgreich Rennen gefahren ist, scheint die jungen Zuschauer zu amüsieren. 1950, im Jahr ihrer Vorstellung, habe eine Aurelia während der 24 Stunden von Le Mans die GT-Klasse bis 2000 cm. gewonnen, und bei der Mille Miglia ein Jahr darauf sei eine führende Aurelia B20 von einem viel stärkeren Ferrari erst auf dem geraden Schlusssprint kurz vor den Toren Brescias eingefangen worden, erklärt Bazille.

Lancia Aurelia mit grandiosem Transaxle-Fahrwerk

Ihr Geheimnis sei ihr grandioses Fahrwerk gewesen, so der Spezialist. Während die Konkurrenz größtenteils noch auf blattgefederten Starrachsen umherrollte, hätten Lancias Techniker die Vorderräder bereits einzeln mit Teleskopen geführt und hinten als erster Autobauer überhaupt eine Dreiecksschräglenker-Achse verwendet, auf die der Konzern seit 1947 ein Patent besaß. Kupplung und Getriebe wurden zudem zugunsten einer ausgewogenen Gewichtsverteilung nach dem Transaxle-Prinzip an die Hinterachse verbannt. "Also genau wie bei dem Porsche 944 meines Bruders", stellt einer der jungen Zuhörer überrascht fest.

Alfa Romeo 1900 oder eine Limousine als Rennwagen

Die Blicke der Gruppe wandern in Richtung des Alfa Romeo 1900. Die schlichte Eleganz der glattflächigen Karosserie, die bis auf die Front und die Stoßstangen komplett ohne Chrom auskommt, wirkt in ihren Augen eine Spur jünger als die des Lancia. "Dabei ist dieses Modell im gleichen Jahr vorgestellt worden", erklärt Alfa-Spezialist Hartmut Stöppel aus Bonn, der den Wagen soeben aus Italien überführt hat. Mit dem 1900er habe sich der Autobauer aus dem Mailänder Stadtteil Portello nach dem Zweiten Weltkrieg vom Edelproduzenten sündhaft teurer Einzelanfertigungen zum Massenhersteller gewandelt. "Ohne dieses Modell hätte die einstige Luxusmarke Alfa Romeo kaum überlebt."

Das neue und erstmals bei Alfa am Fließband produzierte Volumenmodell mit selbsttragender Karosserie sollte in bester Firmentradition trotz aller Familientauglichkeit aber eben auch ein Sportwagen sein. Der vorhandene Sechszylinder aus der 6C-Baureihe erwies sich für die geplante Limousine allerdings als zu groß und zu teuer.

Druckvoller 1,9-Liter-mit 80 PS

Chefkonstrukteur Orazio Satta Puliga entschied sich für die Neukonstruktion eines Vierzylinders mit - Ehrensache - zwei obenliegenden Nockenwellen und zwei Litern Hubraum, doch für dieses Maß reichte es am Ende nicht ganz: Alfa war auf Kolben des britischen Zulieferers Hepolite angewiesen, die nur in Zoll-Maßen verfügbar waren. Notgedrungen erhielt der Motor die Bohrung mit dem seltsamen Durchmesser 82,55 Millimeter (3,25 Zoll), was bei einem Hub von 88 Millimetern einen Gesamthubraum von 1.884 cm. ergibt. Nach einen Namen für das neue Auto wurde dann nicht lange gesucht: Es wurde schlicht 1900 getauft, was auf Italienisch natürlich wesentlich charmanter klingt: Millenove.

"Mit 80 PS entpuppte sich der 1900er wahrhaftig als Sportlimousine, die es mit den meisten zeitgenössischen Sport- und Rennwagen aufnehmen konnte", erklärt Hartmut Stöppel den jungen Zuhörern. Der Alfa Romeo 1900 habe sich im Alltag gleichermaßen wie bei vielen Rennveranstaltungen einschließlich der Mille Miglia bewährt. Als "la berlina che vince le corse" wurde der 1900er dann auch von Alfa beworben, als "die Limousine, die Rennen gewinnt".

Lancia-V6 dreht williger, Alfa-Vierzylinder klingt phänomenal

Rückfahrt. Für ein paar Kilometer begleiten die Jungs der Mopedclique die beiden Limousinen, die mit Landstraßentempo locker durch die Kurven des Ahrtals gleiten. Der kernig klingende Sechszylinder des Lancia kommt dabei stets eine Spur schneller zur Sache als das Aggregat des Alfa, das beim Anfahren immer ein wenig mehr nach Drehzahlen giert, dann aber umso herrlicher anzuhören ist. Gedanken an die nächste Mille Miglia kreisen urplötzlich durch die überraschend großzügig gestalteten Kabinen. Wäre mit diesen Fahrzeugen kein Problem, Lenkradschaltung, Trommelbremsen oder durchgehende Sitzbänke ohne Seitenhalt inklusive. Nein, verstecken brauchen sich diese beiden Italienerinnen nicht.

So viel kosten Lancia Aurelia und Alfa Romeo 1900

Die Produktionszahlen lassen es schon vermuten: Die Lancia Aurelia B10 ist mit 4.938 Exemplaren das deutlich seltener Automobil - vom Alfa Romeo 1900 wurden als Berlina und Berlina Super mehr als dreimal so viele Einheiten gebaut. Genau 17.234 der 1900-Limousinen liefen vom Band. In den Preisen schlägt sich das nur bedingt nieder: Ein Zustand 2-Alfa Romeo 1900 Berlina kostet rund 30.400 Euro, die Lancia Aurelia B10 ist mit 34.800 Euro rund 15 % teurer. Im Zustand 4 ist der Preisunterschied weniger deutlich: Der Alfa 1900 liegt bei 7.900 Euro, die Aurelia bei 7.300 Euro - rund 5 % mehr.

Fazit

Die Leichtigkeit, mit der beide Italo-Klassiker sich heute noch bewegen lassen, überrascht, ebenso deren 50er-Jahre-Charme. Dass diese auf den ersten Blick unscheinbaren Limousinen einst ernsthafte Sportwagen waren, spricht ebenfalls für sie. Optisch und vom Charakter her wäre der Alfa Romeo 1900 meine Wahl, wohingegen die Lancia Aurelia mich durch ihre eigenwillige Technik begeistert.

Technische Daten
Alfa Romeo 1900 Super Opel Insignia 2.0 Turbo Sport
Grundpreis37.920 €
Außenmaße4400 x 1600 x 1490 mm4830 x 1856 x 1498 mm
Kofferraumvolumen500 bis 1010 l
Hubraum / Motor1884 cm³ / 4-Zylinder1998 cm³ / 4-Zylinder
Leistung184 kW / 250 PS bei 5300 U/min
Höchstgeschwindigkeit155 km/h250 km/h
Verbrauch8,5 l/100 km
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Motor Klassik 05 / 2024
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Erscheinungsdatum 11.04.2024

148 Seiten