Der Chrysler 300 im Fahrbericht
Mischung aus Sportwagen, Flugzeug und Boot

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Mit dem neuen 300 und seinem Hemi-V8 reanimiert Chrysler eine Legende, die vor fünfzig Jahren begann - die 300 Letter Cars. Motor Klassik hat dem Amerikaner einen Besuch abgestattet und eine Runde gedreht.

Chrysler 300
Foto: Reinhard Schmid

Die Zahl war nicht zufällig gewählt. Das lang gestreckte Coupé, das Chrysler im Januar 1955 (manche Quellen nennen auch den 10. Februar) der Öffentlichkeit vorstellte, hieß schlicht und einfach 300. Und die Zahl bezeichnete die Leistung des 5,4 Liter großen Hemi-V8: 300 bhp (Brake Horse Power). Das entspricht nach DIN rund 304 PS. Kein Wunder, dass die Chrysler-Leute stolz auf die Leistung ihres Achtzylinders verwiesen.

300 PS Höchstleistung gab es bis dahin nicht

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Der Hemi-Motor war zwar keine Neuheit, er debütierte bereits 1951 in den normalen Chrysler-Modellen mit demselben Hubraum und 180 PS. Aber 300 PS Höchstleistung hatte es bis dahin in einem amerikanischen Großserien-Fahrzeug nicht gegeben. Doch nicht nur die schiere Gewalt des V8 beeindruckte das Publikum. Fast noch mehr Aufsehen erregte das neuartige Design, entstanden unter der Federführung des Stylingchefs Virgil Exner.
 
Unter Chrysler-Boss K. T. Keller galt noch die Devise, dass ein Mann aufrecht sitzend mit Hut in ein Auto passen müsste. Sein Nachfolger Tex Colbert und Exner sahen das anders. Exner schuf für die 55er Modellpalette eine lange, gestreckte Linie, die bald unter dem Schlagwort "Forward Look" bekannt wurde. Am eindrucksvollsten wirkte der neue Look beim teuren Chrysler New Yorker in der Hardtop-Version. Die New Yorker-Karosse ergab dann angereichert mit einem leicht getunten 331-Hemi und dem fetten Chromgrill des Topmodells Imperial den 300.

Die Namensgebung ist leicht verwirrend
 
Zu dem Buchstaben C in der Typenbezeichnung kam der 300 übrigens eher zufällig. Schon 1952 gab es eine Ghia-Studie mit Hemi-Motor, die C 200 hieß. In Anlehnung an das Ghia-Cabriolet wurde das neue Coupé intern C 300 genannt, allerdings nie offiziell. Erst der 300 des Modelljahrs 1956 hieß 300 B. Also ist der C 300 in Wahrheit der 300 A, hieß aber eigentlich nicht so. Noch Fragen? Jedenfalls war der C 300 der Auftakt der so genannten Letter-Car-Reihe, die bis zum 300 L von 1965 fortgesetzt wurde. Allerdings nicht immer als Hemi. Der musste ab 1959 dem billiger zu produzierenden Wedge Head-Achtzylinder mit konventionellen Brennräumen weichen.
 
Im 300 von 1955 steckt der Achtzylinder mit den halbkugeligen Brennräumen. Er blubbert leise durch die zweiflutige Auspuffanlage vor sich hin. Mit dumpfem Unterton, aber ohne wirklichen Hinweis auf seine Potenz. Die Power-Flite-Automatik bietet nur zwei Übersetzungsstufen, aber das ist dem Triebwerk ziemlich egal. Schon bei einem leichten Tritt auf das Gaspedal brüllt es gut gedämpft auf und lässt die schmalen Diagonalreifen aufwimmern. Wenn's sein muss, düst der 300 in zehn Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h und läuft 210 km/h schnell.

Der Chrysler 300 hätte mit einem Porsche 356 Carrera mithalten können
 
Wohlgemerkt, das war 1955. Ein Mercedes-Benz 300 Adenauer oder ein BMW 502 hätten nicht den Hauch einer Chance gehabt. Der Chrysler bot die Fahrleistungen eines Flügeltürers oder Porsche 356A Carrera - mit dem Raumangebot und dem Gewicht einer Oberklasselimousine. Die unspektakuläre Gelassenheit des 300 ist heute noch fast so beeindruckend,wie sie 1955 gewesen sein muss, als "Motor Trend"-Redakteur Walt Woron den Chrysler als eine "Mischung aus Sportwagen, Flugzeug und Boot" beschrieb.
 
Natürlich ist die Lenkung indirekt. Die Bremsen sind dem Gewicht und Speed des 300 kaum gewachsen, und das gestraffte Fahrwerk ist immer noch viel zu weich. Aber das stört heute auf den ruhigen Straßen der vornehmeren Viertel von Auburn Hills genau so wenig wie damals. Rund 4.000 Dollar musste ein Gentleman beim Chrysler-Händler auf den Tisch legen, um einen 300 zu erwerben. Das war etwa so viel, wie eine Cadillac-Limousine kostete. Aber es waren über 3.000 Dollar weniger als etwa für einen 300 SL oder einen Facel Vega - ebenfalls mit Chrysler-Motor. Zudem geriet die 300-Aufpreisliste ausgesprochen kurz. Man konnte für 617 Dollar die Kelsey-Hayes-Speichenräder ordern, dazu die Servolenkung für 112, eine Heizung für 92 und ein Radio für 128 Dollar. Aufpreispflichtig waren zudem die elektrisch verstellbaren Sitze und die elektrischen Fensterheber.
 
So ausgestattet mutierte das schnelle Coupé zum Luxusliner, der nicht von ungefähr "The Banker’s Hot Rod" genannt wurde. Heute hat Chrysler wieder einen 300 mit Hemi-V8 im Programm,lieferbar als Limousine und Kombi. Da bleibt nur ein Wunsch an die Amerikaner offen: einen neuen Hemi 300 als zweitüriges Hardtop-Coupé.