Bugatti Veyron Grand Sport und VW Karmann Ghia
Schnellstes Cabrio trifft entschleunigten Urahn

Größer könnten die Unterschiede kaum ausfallen: Als ein Karmann Ghia noch den Gipfel an Sportlichkeit im VW-Angebot markierte, waren Extremisten wie der 1.200 PS starke Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse undenkbar – das schnellste Cabrio der Welt.

Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse, VW Karmann Ghia, Heckansicht
Foto: Hersteller

Wer auf der Suche nach Extremen ist, verirrt sich eigentlich nicht ins östliche Niedersachsen. Außer er hält Grünkohl mit Pinkel schon für eine Grenzerfahrung. Im einstigen Zonenrandgebiet ist es zwar extrem flach, extrem ruhig und im Frühjahr 2013 auch extrem kalt, ansonsten jedoch ausgesprochen unextrem. Gäbe es da nicht nördlich von Wolfsburg das Dörfchen Ehra Lessien samt VW-Testgelände. Hier soll ein 1.200 PS starker Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse mit einem Profi-Rennfahrer am Steuer erst den Geschwindigkeitsrekord für straßenzugelassene Cabrios knacken, bevor wir den knapp zwei Millionen Euro teuren Luxussportler selbst durchs Oval mit seinen Steilkurven und der neun Kilometer langen Geraden jagen. Wie war das mit ruhig und unspektakulär? Nur gut, dass wir uns zur Einstimmung langsam ans Offenfahren herantasten. Sehr langsam, um genau zu sein: Wir machen uns mit einem 50 PS starken Karmann Ghia nach Ehra auf, VWs sportlichem Topmodell von einst.

Karmann Ghia repräsentiert italienische Leichtigkeit

Erstaunlich, dass es den ab 1955 gebauten Karmann die ersten beiden Jahre nur als Coupé gibt. Flache Silhouette, ein vom Scheinwerfer bis zum Türgriff durchgehaltener Kotflügelschwung und das windschnittig auslaufende Heck: Der Ghia lockert die schweißtreibenden Jahre des deutschen Wirtschaftswunders mit italienischer Leichtigkeit auf und wirkt auch heute noch wie gemacht für eine Oben-ohne-Variante. Unser roter 2+2 ist der letztgebaute, das VW-Museum hat ihn vom Osnabrücker Karmann-Werk geschenkt bekommen, wo er knapp 20 Jahre lang vom Band lief. Angesichts immer kürzerer Modellzyklen heute ein unfassbar großer Zeitraum.
Sein Baujahr 1974 markiert zugleich den Wendepunkt der VW-Geschichte: Lang hält man der Käfer-Technik die Treue, die VW fast in den Ruin treibt. Ghia-Nachfolger Scirocco kommt im Frühjahr 74 auf den Markt, kurz darauf der Golf. Statt Heckmotor und Plattformrahmen heißt es von nun an Frontantrieb und selbsttragende Karosserie.

Unser Ghia lässt freilich nur zu gut erahnen, warum sich viele schwertaten mit dem Abschied vom Boxer. In Zeiten kaum mehr unterscheidbarer Downsizing-Motoren verbreitet sein prasseliger 1.600er die Geborgenheit eines Gewitterregens im Zelt-Unterschlupf. Vor allem bei offenem Dach, dessen Mimik noch Handarbeit erfordert: Zuerst muss die heizbare Heckscheibe entriegelt und eingeklappt werden, dann die beiden Spannhaken an der Windschutzscheibe gelöst, bevor man das Verdeck nach hinten plumpsen lassen kann, wo es von einer Druckknopf-Persenning geschützt wird.

Zur Belohnung winken ein unverbauter Blick gen Himmel und Frischluft in beliebiger Menge: Die steile und weit entfernte Windschutzscheibe wird ihrem Namen schon bei Ortstempo nicht mehr gerecht, bei 80 tobt ein Orkan durchs Cockpit. Die Höchstgeschwindigkeit soll 140 km/h betragen, was wir angesichts zwei Grad Außentemperatur und der Heizleistung auf Teelicht-Niveau einfach mal ungeprüft glauben. Auf dem Weg nach Ehra führt uns der Ghia dafür stolz seine sonstigen Talente vor wie die Verwindungssteifigkeit seines Rahmens, die entspannte Sitzposition und eine erstaunlich präzise Lenkung.

Auf dem Testgelände fremdelt er jedoch ein wenig angesichts der geballten VW-Prominenz der Neuzeit und versteckt sich zwischen der Phalanx von Phaeton-Limousinen. Mit ihnen hat Bugatti "Multi-Owner" an die Strecke gebracht, Menschen, die mindestens drei Bugatti besitzen. Der Rekordhalter nennt elf Stück sein Eigen, über Namen spricht man jedoch nicht.

Über Technik schon, weshalb wir erfahren, dass die niedrigen Temperaturen für Temporekorde eher hinderlich sind. Bei über 400 km/h wird schon die Dichte der Luft zum relevanten Faktor. 20 Grad mehr machen etwa fünf km/h aus. Der Rekordversuch mit dem Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse gelingt trotzdem; mit 408 km/h fliegt der 16-Zylinder nur wenige Meter an den Zuschauern vorbei. Was sich anfühlt wie ein ICE, der mit Topspeed durch eine U-Bahn-Station donnert. Gleich bin ich dran.

Bei 377 km/h endet der Selbstversuch im Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse

Noch einmal tief durchatmen, den Motor des Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse per Startknopf anlassen, Gangwählschalter auf D, und los gehts. Das DSG kuppelt den acht Liter großen W16 erstaunlich sanft ein, die Lenkung geht so leicht wie im Passat – damit könnte meine Mutter zum Einkaufen fahren, denke ich mir. Nur die näher kommende Steilkurve hemmt den aufkeimenden Übermut. Doch Bugatti-Testfahrer Pierre-Henri Raphanel auf dem Beifahrersitz spricht mir gut zu: Die Neigung der Kurve ist so berechnet, dass ich bei 200 km/h die Hände vom Steuer nehmen kann. Was tatsächlich funktioniert.

Aber Tempo 200 ist ja erst Halbzeit in einem Bugatti, und wir sind noch im vierten Gang, der bis 257 km/h reicht. Am Ende der Steilkurve: Vollgas. Felix Baumgartners Sprung aus dem All – ein Bauchplatscher vom Einmeterbrett dagegen. Der brutale Schub des Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse presst uns tief in die Ledersitze und passt so gar nicht zum Tempo, das der Digitaltacho anzeigt. Bei Nenndrehzahl ziehen die vier Turbolader 3,8 Tonnen Luft pro Stunde; kommt deshalb so wenig davon im Cockpit an? Oder spüren wir den Wind nur nicht, weil wir mit Staunen so ausgelastet sind?

Wir schalten in den Fünften, der reicht bis Tempo 313, die mittlere der drei Spuren in Ehra wird langsam schmaler, der knapp zwei Tonnen schwere Allradler Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse lässt sich jedoch immer noch leicht auf Kurs halten. Dann der sechste, der geht bis 377. Wir merken, wie sich die Machtverhältnisse allmählich verschieben. Der Pilot wird zum Passagier, das Lenkrad dient nur mehr der Beruhigung. Ernsthaft kontrollieren? Auf stärkeren Seitenwind reagieren? Eine Illusion. Wir lassen es gut sein, pressen den Sechsten nicht voll aus und gehen in den Siebten.

Langsame Autos wirken normalerweise noch langsamer, wenn man direkt davor aus einem schnellen gestiegen ist. Im Karmann geht es uns auf der Rückfahrt überraschenderweise nicht so, der Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse spielt einfach in einer komplett anderen Liga.

408 km/h: Bugatti Veyron Grand Sport Vitesse mit Cabrio-Weltrekord

Jetzt also auch der Rekord für offene Straßenfahrzeuge: Mit dem chinesischen Rennfahrer Anthony Liu am Steuer schafft der Veyron Grand Sport Vitesse unter Aufsicht des TÜV exakt 408,84 km/h – kein Cabrio war je schneller. Mit 431 km/h hat es die geschlossene Variante 2010 als "schnellstes Auto der Welt" ins Guinness-Buch geschafft. Zwischenzeitliche Meldungen, wonach der Rekord wegen eines im Serienfahrzeug verbauten Speedlimiters aberkannt werden müsse, haben sich nach Prüfung als unbegründet herausgestellt.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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