Im NSU 1000 C nach Italien
Auf zum Werkscampingplatz

1955 entsteht unweit von Venedig der Campingplatz NSU-Lido. Für viele Arbeiter aus Neckarsulm ist es das Urlaubsparadies. Michael Orth machte sich in einem NSU 1000 C nochmal auf den Weg, den in der Wirtschaftswunderzeit Millionen deutsche Urlauber unter die Räder nahmen.

NSU 1000 C, Italienreise
Foto: fact

Der Wagen ist klein, und die Erwartungen, die er transportiert, sind es ebenfalls. Zwischen Dackelgarage, Luftmatratze und Zeltheringen reisen sie im Kofferraum vorne. Hinten arbeitet der Motor. 1.000 Kubik, vier Zylinder und 40 PS. Nicht viel, aber genug. Damals war das ein gesunder Maßstab, um sich in aller Bescheidenheit doch mal etwas zu gönnen: die Erfüllung von ein bisschen Fernweh und Sehnsucht. Italia. Adria.

Warm würde es sein und sonnig. Gleich hinter den Zelten der Strand. So blau das Meer und darüber der Himmel so leicht und hell wie die Stimmung. Eine kühle Brise würde wehen. Abends kommen die Nachbarn mit einer Korbflasche Rotwein rüber, und leise und stolz und benommen noch von all der Exotik würde man von seinen Eindrücken erzählen. Wie isst man Spaghetti? Was ist ein Brokkoli? Eis heißt Gelato, die Währung Lira.

"Komm ein bisschen mit nach Italien", singen 1956 Peter Alexander und Caterina Valente, "komm ein bisschen mit ans blaue Meer, und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär." Auf deren letzten Metern führte ein Feldweg zu einem Campingplatz, den Ignazio Vok und sein Kumpel Angelo Macola im Vorjahr eröffnet hatten auf dieser Halbinsel, die sich 18 Kilometer lang von Osten vor die Lagune von Venedig schiebt.

Weil er NSU in Italien vertritt, nennt Vok den Platz NSU-Lido. Werksangehörige bekommen Rabatt. Viele der 6.500 Arbeiter, die NSU Mitte der Fünfziger beschäftigt, machen sich mit Mopeds namens Quickly, Max oder Superfox auf den weiten Weg, andere bepacken später den Prinz, um die Alpen zu bezwingen.

Im delftblauen 1000 C zappelt auf der Autobahn die Tachonadel um die drei roten Punkte, die zwischen 80 und 90 den Schaltzeitpunkt für den letzten Gang markieren. Der Motor klingt, als bräuchte er noch einen fünften, und mit dem würde man ihn nur zu gern erlösen von seinen Mühen. Im Allgäu prügeln dicke Tropfen die steile Frontscheibe, über die an dürren Ärmchen zitternd langsam die Wischer wandern. Tief hängt das Wetter jackenkalt über Deutschland, und spät erst geben am Fernpass die Wolken einen Blick auf die Berge frei, die sich dem kleinen NSU als große und graue, grimmige Wächter entgegenstellen.

Hinterm Brenner ist es besser

Doch so schüchtern, wie er blickt, und so zerbrechlich, wie er wirkt, ist der Wagen gar nicht. Schnell wandelt er die anfangs eher mitleidvolle Sympathie in ein fröhliches Gefühl von Zusammengehörigkeit und Unternehmungslust. Das bisschen Alpen muss im NSU nicht schrecken. Als natürliches Hindernis stehen sie längst nicht mehr zwischen fremden Welten. 1954 war die Visumpflicht entfallen, im Jahr darauf das erste Anwerbe-Abkommen von Deutschland und Italien unterzeichnet worden. In den Folgejahren zog es 4,5 Millionen Deutsche als Touristen in den Süden, wo das Leben dolce und die Landschaft bella seien. Die anderen, beinahe genau so viele, bewegte es als Gastarbeiter dort weg, weil sie in aller Süße und Schönheit leider kein Auskommen fanden. Hinterm Brenner ist es besser. Und mehr als die Hälfte der Strecke von Neckarsulm zum Lido ist schon geschafft.

Die alte Passstraße steigt zahm auf 1.370 Meter, dann kreuzt sie in Gries die Grenze von Tirol nach Südtirol, heute flankiert von Outlet-Wahn, Jackpot-Cafés und einer Tabledance-Bar, in deren Schaufenster beige Plastikpuppen in knappen Neon-Bikinis vor sich hin bleichen. Bloß weiter.

Vom Schnee in die Sonne

Runter erst ins Eisacktal und von dort steil hinauf in weiße Berge. Mit breiter Schaufel räumt vor dem Alpenrosen-Hof am Penser Joch Ende Juni ein Mann den Schnee, der in der Nacht gefallen ist. Immer wieder will ihm der Sturm den Hut vom Kopf blasen.

Auch dem NSU reißt er heftig an der Karosse. Doch nur 50 Kilometer später, hinter der Hässlichkeit des Betons von Bozen, schlägt einem das Land plötzlich den Süden um die Ohren, Palmen und das erste Licht des Tages berauschen beinahe – so wie zuvor die Leistung des alten Reisegefährten. Wunderbar elastisch dieser Motor, wie er sich im dritten Gang nach den Kehren wieder auf Drehzahl arbeitet. "Sieh mal", will man ihm anerkennend auf die Kunstlederpolster klopfend sagen, "wie die Leute lächeln, wenn wir vorbeifahren. Deinetwegen." Der große Prinz, der nur in den ersten Jahren so hieß, gewinnt ganz en passant nicht nur die Herzen der Passanten, sondern auch das des Fahrers. "Ich muss mich anstrengen, das hörst du ja", flüstert es zwischen dem Gedröhne aus dem Heck, "aber ich kriege das schon hin für dich."

Am Passo San Pellegrino, der das Trentino mit Venetien verbindet, warnt eine Tafel, dass der Berg sich nun mit einer Steigung von 14 Prozent dem NSU entgegenstellt. Ihn beeindruckt das kaum. Nicht mal ein Schlückchen Öl hat er sich für seine Anstrengung vom Vortag gegönnt. Ein bisschen Choke weckt ihn morgens auf für die letzte Etappe, nur rund 200 Kilometer noch.

Längst fühlt es sich an, als habe man unterwegs einen guten Freund gefunden. Längst ist die leicht zur Seite verdrehte Sitzposition zur Gewohnheit geworden. Und längst geht es nicht mehr darum, ans Meer, sondern dem kleinen Wagen noch näher zu kommen.

Sehnsucht nach Meer

Hinter Ponte nelle Alpi schiebt sich die Autobahn wie eine Gletscherzunge aus den Dolomiten vor ins Veneto, das unter der Hitze geplättet liegt. Die Wärme im Auto befördert Gedanken an Badehose, Sonnenmilch und eine kalte Zitronenlimo auf dem Strandlaken, als plötzlich im Gewurstel der Abfahrt hinter der letzten Zahlstation ein Schild auftaucht. Es ist braun, und vor dem Wort "Mare" kringeln sich blau die Wellen. Doch auch als nach einem weiteren Abzweig der Weg immerhin Via Adriatico heißt: kein Meer in Sicht. Aber: deutsche Discounter (sonntags geöffnet, frische Brötchen), Kreisverkehre, Zweckbauten, Vergnügungsparks, Kitschmärkte und Wälder aus Werbetafeln. Das ehemalige Urlaubsparadies wirkt heute auf den ersten Blick wie der Vorhof zur Touristen-Hölle.

Man spricht Deutsch

Von dort zweigt links eher unauffällig die Einfahrt zum Union Lido Park & Resort ab. Am Tor klärt eine riesige Tafel darüber auf, was hinter dieser Tafel zu tun und was zu lassen ist, damit auf 600.000 Quadratmetern weit über 11.000 Leute auf einmal einen angenehmen Urlaub verbringen können, anstatt sich täglich an die Gurgel gehen zu müssen.

Zwei hübsche Mädchen in Hellblau und Weiß begrüßen den NSU und seine Besatzung und erklären den Weg zum Stellplatz. Eine klebt ihm die Zugangsmarke an die Frontscheibe, und dann, hinter einem Wohnmobil aus Dänemark und vor einem vollgestopften Kombi aus Hamburg, rollt der 1000 C auf einen der größten Campingplätze Europas. Weit über eine Million Übernachtungen pro Jahr, 14 Sanitärgebäude, drei Waschplätze für Autos, eine Kirche und unter tausenden Pinien zig Lautsprecher, aus denen die Ansagen der Direktion tönen. Die Übernachtung kostet in der Hauptsaison für zwei Erwachsene mit Zelt und Auto um die 40 Euro pro Nacht. Mitte der Sechziger hätte man dafür 14 Tage bleiben können.

Zwischen fest installierten Wohnwagen und von Wäscheleinen umfriedeten Zelten schlurfen weiße, gebräunte und rote Menschen allen Alters und ungeachtet der körperlichen Verfassung spärlich bekleidet umher. Elektrowägelchen summen vorbei, Dauercamper wässern Geranien in Hängeampeln. Andere setzen die Badekappe auf, um sich in einer der Wasserlandschaften zu gymnastischen Gute-Laune-Übungen animieren zu lassen. Vor den Shopregalen überlegen Jugendliche, ob am Abend Eierlikör oder doch lieber Lemoncello die Stimmung heben soll. Eine Partie Boccia am Strand oder beim Minigolf genüsslich eine Zigarette in der Mittagshitze? "Gerhard, bist du eingecremt?" Und vielleicht wollen Finn und Jonas mit Papi in der Funnyworld auch noch mal eine Runde Miniauto fahren.

Bella Italia ist das natürlich nicht. Landestypisches findet sich allenfalls inszeniert in einer Kunstwelt, die den Gästen alles vor allem leicht macht und angenehm. Als neben dem NSU 1000 C das Zelt steht, kommt vom Strand ein älterer Mann. Er schaut auf den Wagen und fragt: "Sind Sie mit dem gekommen? Es ist jetzt 43 Jahre her, wissen Sie, da war ich selbst mit meinem NSU hier. War ein toller Wagen." Das stimmt nicht ganz. Er ist es immer noch.

Der NSU 1000 C

1957 stellt NSU den Prinz Typ 40 mit 600-Kubikzentimeter-Zweizylindermotor vor. 1963 folgt der Prinz 1000 mit Vierzylinder. Vier Jahre später entfällt parallel zur Einführung des TTS die Bezeichnung Prinz, der 650 kg schwere Wagen heißt nur noch NSU 1000. Der hinten quer über der Antriebsachse montierte, gebläsegekühlte OHC-Motor leistet 40 PS bei 5.500/min, gut für 131 km/h Spitze. Null auf 100 km/h in 18,5 Sekunden, Trommelbremsen rundum, Scheiben vorne auf Wunsch. Bis 1972 wurden insgesamt 195.726 NSU Prinz/1000 gebaut. 1967 lag der Grundpreis eines 1000 C bei 5.250 Mark. Heute bewegt sich der Wert für ein gutes Auto zwischen 6.000 und 7.000 Euro.