Windkanal-Entwicklung bei Audi von 1982 bis heute
Schon der Audi 100 war ein Meilenstein

Mit Dr. Moni Islam, dem Aerodynamik-Chef von Audi, erklären wir die Grundlagen der Aerodynamik und finden im Windkanal heraus, warum der Audi 100 C3 ein aerodynamischer Meilenstein war und ob der e-tron GT ebenfalls das Zeug dazu hat, einer zu werden

Audi Windkanal Entwicklung von 1982 bis heute
Foto: Hendryk Meyer / Audi

Was die einen auf der Nordschleife mit immer schnelleren Rundenzeiten für straßenzugelassene Fahrzeuge austragen, findet an anderer Stelle in den Windkanälen statt. Beide Felder eint, dass sie nicht einfach nur einen Messwert ermitteln, sondern dieser auch eine hohe Medienwirksamkeit genießt. Heißt: Wir Automobilisten hören zu, wenn eine neue Bestmarke vermeldet wird. Auf der Nordschleife setzte die zuletzt Mercedes mit dem formeleinzigartigen AMG One. Im Windkanal gab mit dem EQS zuletzt ebenfalls ein Wagen mit Stern den Ton an. Seinen Luftwiderstandsbeiwert von 0,20 wollen aber jüngst die Amerikaner von Lucid mit dem Air-Basismodell (0,197) unterboten haben. Der Wettstreit ist so real, wie es die Auswirkungen des cW-Werts auf diverse Fahrzeugeigenschaften sind.

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Neu ist die Idee eines strömungsgünstigen Fahrzeugs natürlich nicht. Schließlich präsentierte der Flugzeugkonstrukteur Edmund Rumpler schon 1921 ein Fahrzeug, wie es sich so ein Ingenieur, dessen Schaffen maßgeblich von der Aerodynamik bestimmt ist, eben vorstellt. Auf der Deutschen Automobilausstellung in Berlin stand 1921 der Tropfenwagen, der aussah wie ein durch einen Science-Fiction-Film getuckertes Fischerboot, dem auch noch Räder gewachsen waren. Rumpler versuchte, die aerodynamisch optimale Tropfenform auf ein Auto zu übertragen, was einen noch nach heutigen Maßstäben beachtlichen cW-Wert von 0,28 ergab. Ganz abgesehen davon, dass die damaligen Straßen die Effizienz und Geschwindigkeitsvorteile der aerodynamischen Karosserie kaum zur Geltung kommen ließen, zeigt der Rumpler auch direkt, warum wir heute nicht in fahrenden Tropfen unterwegs sind: Der im Heck schmal zulaufende Wagen besaß nämlich keinen Kofferraum, was nur ein Grund für seine Erfolglosigkeit war. "Das ist ein typischer Bereich, in dem ein Kompromiss gefunden werden muss", erklärt Dr. Moni Islam und deutet auf die schmal nach hinten zulaufende Fahrgastzelle des e-tron GT. Islam leitet die Aerodynamik- und Aeroakustik-Entwicklung
bei Audi und weiß, dass die Aerodynamik in Einklang mit Design und Innenraumgestaltung stehen muss, sodass am Ende im Falle des e-tron GT ein halbwegs nutzwertiger viertüriger Elektrosportwagen entsteht und eben kein fahrender Tropfen.

Das A und cw

Aber eins nach dem anderen: Was hat es denn nun mit diesem cW-Wert auf sich? "Der cW-Wert drückt die aerodynamische Güte eines Körpers aus, also wie verlustarm ein Körper umströmt wird", weiß Moni Islam. Das Produkt aus der Stirnfläche des Körpers, der Luftdichte und der Geschwindigkeit im Quadrat mal 0,5 ergibt den Luftwiderstand. Konkret bedeutet das: In der Entwicklung sind Stirnfläche und cw-Wert die Faktoren, die die Ingenieure beeinflussen können. Heißt also: Ein in der Stirnfläche größeres Fahrzeug erzeugt bei gleichem Luftwiderstandsbeiwert automatisch einen größeren Luftwiderstand. Dennoch kann auch ein großer Wagen mit einem guten Luftwiderstandsbeiwert glänzen. Anders gesagt: Selbst ein voluminöser SUV kann bei cleverer Auslegung cW-günstiger sein als eine flache Limousine. Wichtig ist dabei auch, dass sich der Luftwiderstandsbeiwert bei einer Baureihe über alle Varianten hinweg ändern kann. Räder, Reifenbreiten und Karosserieteile beeinflussen den cW-Wert signifikant. So geben alle Hersteller bei Elektroautos in der Regel einen Reichweitenbereich an. Gleiches gilt für den Verbrauch. Die Werte decken alle Konfigurationen ab, von der strömungsgünstigsten bis zur -ungünstigsten. Beim e-tron GT Quattro ist das eine Reichweite zwischen 458 und 501 Kilometern nach WLTP. Ein paar Kreuzchen in der Aufpreisliste können also bis zu 43 Kilometer Reichweite kosten. Gerade bei einem Elektrofahrzeug ist ein möglichst niedriger Luftwiderstand essenziell, weil bei ihm wesentlich weniger Gesamtenergie zur Verfügung steht als bei einem Auto mit Verbrennungsmotor. Jedes cW-Hundertstel kostet wertvolle Reichweite. Dementsprechend wichtig ist die Entwicklung einer strömungsgünstigen Karosserie.

Dafür nutzt Audi nicht nur den Windkanal, sondern auch CFD-Simulationen. Für den Scrabble-Punktesammler: "CFD" bedeutet "Computational Fluid Dynamics", was im Deutschen als "numerische Strömungsmechanik" für nicht weniger Spielpunkte gut ist. Dabei werden strömungsmechanische Prozesse rund um die Karosserie simuliert. Dr. Moni Islam bezeichnet das Simulieren als "zweites wichtiges Standbein neben dem Windkanal". Für beide Entwicklungsmethoden würden die Ressourcen "gleichwertig eingesetzt", so Islam. Der Vermutung, dass das Betreiben von ein paar Computern für die CFD-Simulationen deutlich günstiger als der Betrieb des mächtigen Windkanals mit seinem beeindruckenden Fünf-Meter-Rotor sei, erteilt Audis Aerochef eine Absage: "Unsere Simulationsressourcen erfordern mindestens so viel Budget wie der Windkanal. Hinter diesen Simulationen steht ein sehr mächtiges Rechenzentrum. Wir nehmen etwa 60.000 Prozessorkerne in Anspruch." Auf der anderen Seite zieht der Windkanal bei voller Leistung rund 2,5 Megawatt Strom. Verzichten könne man aber auf keines der beiden Entwicklungsinstrumente, erklärt Islam.

Genug der Theorie: Der e-tron GT steht im Windkanal bereit. "Wir Aerodynamiker haben gern eine lange, schlanke und flache Karosserie. Das bietet die besten Voraussetzungen für einen guten cW-Wert. Danach sehen wir uns den Aufbau des Greenhouse an. Eingezogene Kabine, flache Frontscheibe, flache Heckscheibe, das sind die Proportionen, die uns beim Grundkonzept weiterhelfen." Vergleichen wir also Moni Islams Aussagen mit dem e-tron: Länge? 4,99 Meter, Haken dran. Höhe? 1,41 Meter: kein Supersportler, aber im SUV-Zeitalter durchaus flach. Nur schmal ist der Elektrosportler mit seinen 1,96 Metern nicht.

Audi Windkanal Entwicklung von 1982 bis heute
Hendryk Meyer / Audi
Gute Grundform: Die flache Grundform und die sich nach hinten verjüngende Fahrgastzelle bieten gute aerodynamische Voraussetzungen.

Flach im Wind

Die im Fachjargon als Greenhouse bezeichnete Fahrgastzelle läuft sichtlich schmal in Richtung des Hecks zu. Das bringt zum einen die breiten Hüften des e-tron zur Geltung, sorgt aber auch für eine bessere Umströmung. Heck und Frontscheibe stehen betont flach. Diese Grundeigenschaften legen die Basis für ein aerodynamisches Auto, können aber nicht bei jedem Fahrzeug implementiert werden, schließlich verlangen die Kunden nicht nur nach Sportlern wie dem e-tron GT, sondern vor allem nach geräumigen, aber eben auch kastigen SUV. Da hilft nur Detailarbeit. Die vier wichtigsten Hebel? "Die Räder eines Fahrzeugs bilden mindestens ein Drittel, teilweise mehr, des gesamten Luftwiderstands ab", erklärt Islam. Dementsprechend spielt es eine große Rolle in der Entwicklung, welche Radgrößen zum Einsatz kommen. Breite, Höhe und Felgendesign: Alles hat einen Einfluss. Infolgedessen setzen viele Elektrofahrzeuge auf futuristisch anmutende, weil stark verkleidete Felgendesigns, die luftwiderstandserhöhende Wirbel unterbinden können.

Die sogenannten Air-Curtains verfolgen ein ähnliches Ziel. Durch kleine Einlässe in der Front wird die Luft kontrolliert an die Fahrzeugseite geführt. Auch hier ist die Vermeidung von Wirbeln zentral, die eine sehr dreidimensional gestaltete Front wie die des e-tron GT ohne derartige Hilfsmittel erzeugen würde. Zu weiteren Tricksereien ist der ausfahrbare Heckspoiler imstande. "In der niedrigeren Stellung erreichen wir das cW-Optimum, und wenn eine bessere Fahrdynamik gefragt ist und der Auftrieb reduziert werden soll, steht der Heckspoiler steiler", beschreibt Audis Aerochef die Funktion der aktiven Aerodynamik. Dazu gehört auch der steuerbare Kühllufteinlass an der Front, der sich nur bei Bedarf öffnet. Um zu zeigen, was die ganzen Simulationen und Windkanalläufe bringen, rollen die Audi-Jungs nun eine weitere Gerätschaft in die Halle.

Raucher in der Strömung

Mithilfe der Rauchlanze können im Windkanal aerodynamische Phänomene sichtbar gemacht werden. Nach kurzer Zeit läuft der Rotor auf der gewünschten Drehzahl, sodass exakt 50 km/h Windgeschwindigkeit im Messraum anliegen. Moni Islam hält die Rauchlanze an den Air-Curtain. Der Rauch fließt in einem sauberen Strahl aus dem Radkasten heraus und am Rad vorbei. Als Nächstes qualmt es am Außenspiegel: "Der Außenspiegel ist ein Teil, das wir sehr intensiv optimieren. Hier kann man schön sehen, wie klein der Nachlauf ist." "Nachlauf" bezeichnet den Windschatten hinter dem Spiegel. Die Luftströme sollen möglichst schnell und verwirbelungsfrei hinter dem Spiegel wieder zusammengeführt werden. Tatsächlich erstreckt sich der turbulent rauchende Bereich hinter dem Spiegel über lediglich zwei bis drei Handbreiten. "Wenn Sie möchten, können Sie es gern mal selbst probieren." Da sagt man doch nicht Nein. Inzwischen hinter dem Auto angekommen, gilt es nun, den Nachlauf des Fahrzeughecks und den Abriss der Strömung am Heckspoiler zu prüfen. Auch hier gilt wie bisher: Wirbel vermeiden! Aber wie schon beim Spiegel löst sich der Rauch sauber vom Heckspoiler und trifft etwas weiter hinten wieder mit dem Luftstrom zusammen, der den Weg unter dem Fahrzeug hindurch, entlang des komplett verkleideten Unterbodens, gewählt hat und mithilfe des Diffusors sauber ausgeleitet wurde.

All diese Maßnahmen tragen zum cW-Wert von bis zu 0,24 bei. Von dieser Marke war Audi schon 1982 gar nicht so weit entfernt. 0,30 lautete der cW-Wert des damaligen Aerodynamik-Weltmeisters. Warum? "Weil er die Aerodynamik von Anfang an in der Fahrzeugentwicklung als Priorität hatte", weiß Moni Islam. Kenner werden aber bereits entdeckt haben, dass das gezeigte Exemplar wohl kaum den Rekordwert produzieren würde, denn auch damals war der cW-Wert eine Frage der Ausstattung, oder besser gesagt: eine Frage von deren Abwesenheit. Für das Basismodell gab es nur den linken Außenspiegel und die nach heutigem Verständnis eher notradigen 165er-Reifen mit aerodynamisch optimierten Radzierblenden. Unser 1990er-Exemplar hingegen steht auf sportlicheren 205er-Reifen und erleichtert das Einparken mit einem rechten Außenspiegel.

Grundform und Details

Wie beim e-tron richtet sich die Grundform nach der Aerodynamik: lang, nicht zu breit, nicht zu hoch und eine leicht nach hinten eingezogene Fahrgastzelle. Dennoch zeigen die Maße, dass man an gewisse Platzvorgaben der Innenarchitekten gebunden war. Der kantige Mercedes W 123 war kaum höher und dazu noch schmaler. Seine Kastigkeit und sein sehr rudimentärer aerodynamischer Entwicklungsstand bedingen aber einen cW-Wert von 0,44. Der auf den ersten Blick ebenfalls recht kantige Audi hat da noch ein paar Aero-Tricks auf Lager. Da wäre zum einen die – alle Scrabble-Fans bitte wieder mitschreiben – Kühlerumfeldabdichtung, die gezielt Luft in den Kühler leitet und sie nicht wahllos durch den Motorraum wirbeln lässt. Weiter unten sorgt ein kleiner Frontspoiler für eine bessere Strömung am Unterboden, und auch der oder die Außenspiegel, je nach Ausstattung, erfuhren aerodynamische Optimierung. Die Produktion wurde seinerzeit mit den flächenbündigen
Scheiben ringsum herausgefordert – Front und Heckscheibe mussten eingeklebt werden –, die aber damit deutlich weniger Verwirbelungen erzeugen.

Um zu zeigen, wie ernst man es schon damals mit der Aerodynamik meinte, holt Moni Islam ein kleines Geheft aus dem Youngtimer. "Die Kollegen von damals haben diesen Entwicklungsbericht geschrieben. Da steht sehr genau drin, wie das Fahrzeug entwickelt wurde." Denn der C3 war nicht nur für die weitere Aerodynamikentwicklung selbst maßgeblich, sondern auch für die Entwicklungsmethoden. Im Bericht finden sich zahlreiche Beschreibungen, Graphen und Tabellen auf den fast 100 Seiten. Kurven zeigen den Verlauf des cW-Werts bei sinkendem Anstellwinkel der Frontscheibe oder bei Erhöhung des Kofferraumdeckels.

Audi Windkanal Entwicklung von 1982 bis heute
Hendryk Meyer / Audi
Trotz seiner kastigeren Form ist der Audi 100 nicht allzu viel unaerodynamischer als der moderne e-tron GT.

Viel Methodik und Wissen, die laut Moni Islam auch in die Aerodynamikentwicklung moderner Fahrzeuge einfließen. Mit dem Q6, dem e-tron Avant und dem, was eines Tages aus den Sphere-Konzepten entstehen soll, hat Audi einige batterieelektrische Fahrzeuge für die nahe und etwas fernere Zukunft in der Pipeline. Wie geht es bei diesen Fahrzeugen aerodynamisch weiter? "Die Aerodynamik wird auch in Zukunft sehr wichtig sein. Es werden einige sehr gute cW-Werte in den kommenden Fahrzeugen zu sehen sein. Aber grundsätzlich wollen wir immer ein schlüssiges Gesamtfahrzeugkonzept erarbeiten. Dazu gehört, dass der cW-Wert zum Fahrzeug passt, ohne andere wichtige Eigenschaften zu verletzen", schließt Dr. Moni Islam. Ob Audi in das cW-Rennen mit Lucid und Mercedes einsteigt, bleibt abzuwarten. Aber einen Tropfenwagen von Audi wird es wohl erst mal nicht geben.

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Jede Menge. Ich würde mich auch hinter den Fahrer setzen - Hauptsache wenig Verbrauch.Keine. Ich fahre nicht oft schnell, aber wenn mir beim Einsteigen der Hut vom Kopf fällt, stört mich das jeden Tag.

Fazit

Ab 100 km/h ist der Luftwiderstand der größte Fahrwiderstand. Es ist also zentral ihn mit einer guten Aerodynamik möglichst gering zu halten. Der Audi 100 C3 zeigt, wie groß die Bedeutung der Aerodynamik schon vor vierzig Jahren war. Für den e-tron GT ist sie essenziell für seine allgemeine Nutzbarkeit, da die Aerodynamik entscheidend seine Reichweite beeinflusst.