Bloch erklärt
Die 9 größten Fahrwerk-Irrtümer

Wie wichtig Fahrkomfort ist, merken wir erst wenn er fehlt. Wie kommt er zustande? Welche Komponenten sind wichtig? Und ist ein Luftfahrwerk immer komfortabler als eine Stahlfederung? Da gibt es eine Menge Irrtümer und die klären wir auf.

Irrtum #1

Über den Fahrkomfort entscheiden nur Federn und Dämpfer

Nein, wenn sich der Entwickler nur um Feder und Dämpfer kümmern müsste, hätte er erheblich mehr Freizeit. Wenn wir Geräusch- sowie Motorvibrations-Komfort außen vor lassen und uns nur auf die Karosserieschwingungen durch Fahrbahnanregungen konzentrieren – das was landläufig eben unter Fahrkomfort verstanden wird – gibt es eine ganze Kaskade von beeinflussenden Komponenten:

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Grundsätzlich besitzt jedes Auto eine Luftfederung, denn im elastischen Reifen befindet sich Luft und die übt je nach Druck eine härtere oder weichere Federwirkung aus. Ein gewissenhafter Autotester schaut sich daher zuerst die Reifen und deren Luftdruck an, bevor er den Komfort beurteilt. Die Räder hängen wiederum an der Aufhängung und hier sind nicht nur Federn und Dämpfer entscheidend, sondern auch der Aufbau und die Lenkerstruktur. Arbeitet hier eine Einzelradaufhängung, eine flexible Halbstarrachse (Verbundlenkerachse) oder eine Starrachse eingesetzt? Welche Stabilisatoren verbinden die Radseiten und wie flexibel sind diese ausgelegt? Welche Lenker wurden wie aufgebaut und welche Elastomere wurden in deren Lagern eingesetzt. Verbiegt sich die Karosserie wie ein Joghurtbecher in der Sonne oder ist sie steif und kalkulierbar? Selbst die komfortabelste Auslegung dieser Komponenten bringt nichts, wenn eine steife Holzbank anstelle eines weichen Sessels den Po malträtiert. Schon mal versucht mehrere aneinander gehängte Masse-Feder-Systeme in ihrem Schwingungsverhalten zu kontrollieren? Eben, das ist eine Mammutaufgabe.

Bentley Continental GTC 2019, Innenraum, Sitze, Fond
Richard Pardon - Bentley
Das beste Fahrwerk nutzt wenig, wenn die Sitze hart wie Holzbänke sind. Ganz so opulent wie bei Bentley muss es aber freilich auch nicht sein.

Irrtum #2

Das ganze Auto ist gefedert

Das wäre schön, denn ein großes Problem für den Fahrkomfort sind die sogenannten ungefederten Massen. Vereinfacht gesagt sind das alle Massen, die am unteren Ende von Feder und Stoßdämpfer hängen und damit direkt den Fahrbahnunebenheiten folgen. Streng genommen wäre der Begriff ungedämpfte Massen besser, da nicht deren Federung das große Problem ist, sondern sie wieder zur Räson zu bringen (Schwingungsdämpfung).

Dröseln wir die "ungefederten" Komponenten etwas auf: Das Rad gehört vollumfänglich zu den ungefederten Massen. Die Bremsen zählen ebenfalls zu den ungefederten Massen, so lange es sich nicht um Spezialkonstruktionen abseits des Rades handelt. Federn und Stoßdämpfer zählen wie Lenker und Antriebswelle zum Teil zu den ungefederten Massen. Eine Starrachse gehört dagegen komplett zu den ungefederten Massen. Ziel des Entwicklers ist es, diese Massen besonders klein zu halten, da sie direkt den Fahrbahnunebenheiten folgen und mit steigender Masse einen immer höheren und damit schwerer zu bedämpfenden Krafteintrag mit sich bringen. Idealerweise ist bei einem Auto das Verhältnis zwischen ungefederten und gefederten Massen besonders groß.

06/2019; Ultima RS
Ultima Sports
Die Räder gehören, ebenso wie die Bremsanlage, zu den ungefederten Massen.

Irrtum #3

Der Fahrkomfort eines Autos wird über weiche oder harte Federn eingestellt

Nein, die Feder alleine übt nur einen eingeschränkten Einfluss auf den Fahrkomfort aus. Grundsätzlich hat sie erst einmal den Auftrag das Auto elastisch in der richtigen Höhe zu positionieren und damit auch den möglichen Federweg zu definieren. Eine Feder allein isoliert keine Schwingungen, sondern gibt sie mit einem verdammt hohen Wirkungsgrad weiter. Die Federrate beeinflusst dabei nur die Geschwindigkeit des Krafttransfers. Zusammen mit einer Masse entwickelt die Feder eine isolierende Wirkung, wenn die Frequenz der Anregungsschwingung so hoch ist, dass die Masse aufgrund ihrer Trägheit den Schwingungen schwer folgen kann.

Das ist der Grund, wieso schwere Autos es beim Komfort einfacher haben als leichte Autos. Es kann aber auch der umgekehrte Fall eintreten, dass eine Schwingung sogar verstärkt wird. Das passiert, wenn sich ein Masse-Federsystem auf seiner Lieblingsfrequenz aufschaukelt, also in Resonanz gerät. Ebenso schlimm ist es, wenn der maximale Federweg bei einem harten Stoß aufgebraucht wird und das Auto auf den meist aus Gummi gefertigten Anschlagpuffern auf Block geht. Beides der GAU für den Fahrkomfort. Wer sein Fahrwerk komfortabler machen möchte, erreicht dies nicht einfach über den Tausch der Federn.

Irrtum #4

Die Stoßdämpfer sind nur für die Fahrsicherheit verantwortlich

Die Fahrsicherheit, also die Wahrung des beständigen Bodenkontakts der Räder ist eine wesentliche Aufgabe der Dämpfer. Ohne diese würde sich ein Auto besonders bei hohem Tempo aufschaukeln wie ein Schiff in einem Orkan. Ohne Bodenkontakt gibt es keinen Grip und keine Traktion und damit auch kein Beschleunigen, Bremsen und Lenken. Aber die Schwingungsdämpfer sind zudem extrem komfortrelevant. Je mehr Energie sie von der Fahrbahnanregung in Wärme umwandeln, desto weniger kommt bei den Passagieren an. Leider ist das Zusammenspiel zwischen Federn und Dämpfern komplex und fast immer ein Kompromiss zwischen optimalem Bodenkontakt und gutem Komfort. Je höher die Dämpfung ist, desto weniger werden Schwingungen isoliert. Der Mensch nimmt aber eine gewisse Schwingung komfortabler wahr, als ein abruptes Beenden der Schwingung.

Mercedes S-Klasse, W220, Vorderachse, Dämpfer
Daimler AG
Das Zusammenspiel zwischen Federn und Dämpfern ist komplex und fast immer ein Kompromiss zwischen optimalem Bodenkontakt und gutem Komfort.

Der Fachmann bezeichnet ein Auto als unterdämpft, wenn es zu stark nachschwingt, weil die Dämpfung unterhalb des zur schnellen Beruhigung notwendigen Niveaus liegt. Als überdämpft bezeichnet er es, wenn die Dämpfung ein zu hohes Niveau hat und damit die Schwingung zu abrupt stoppt – was sehr unkomfortabel wirkt. Die grundsätzliche Dämpfungswirkung wird bei einem üblichen Hydraulikdämpfer durch die Flussgeschwindigkeit des Öls bestimmt (hoch niedrige Dämpfung, niedrig hohe Dämpfung). Zudem wird noch zwischen Zug- und Druckstufe unterschieden. Die Druckstufe muss die Federbewegung nach oben dämpfen. Die Zugstufe dämpft die Bewegung nach unten.

Irrtum #5

Adaptive Dämpfer passen sich automatisch perfekt an die Fahrbahnsituation an

Ja, es gibt ein Automatikprogramm bei jedem Dämpfer, aber dieses ist erst einmal ein Kompromiss. Wer wirklich besonders sportlich oder komfortabel fahren will, muss seinen Wunsch vorher über die Fahrmenüwahl mitteilen. Um die Dämpferhärte zwischen sportlich und komfortabel zu variieren gibt es zwei Haupttechniken:

1. Die Regelung von Hydraulik-Ventilen, um das Öl schneller (niedrige Dämpfung) oder langsamer (hohe Dämpfung) durchflutschen zu lassen.

2. Magnetorheologische Systeme bei denen eine mit winzigen Metallpartikeln durchsetzte Flüssigkeit durch das Anlegen von Strom seine Viskosität ändert. Je nach Technik erfolgt die Dämpferanpassung zwischen 100 bis 1.000 mal pro Sekunde. Diese Systeme können nicht nur den Komfort verbessern – vor allem wenn Sportreifen gewählt wurden -, sondern sich auch in gewissen Grenzen gegen Wanken stemmen. Zusammen mit einer Stahlfederung sind den Möglichkeiten von adaptiven Dämpfern aber Grenzen gesetzt.

Mercedes-AMG CLA 45, Interieur, Fahrmodus
Hans-Dieter-Seufert
Wer wirklich besonders sportlich oder komfortabel fahren will, muss seinen Wunsch vorher über die Fahrmenüwahl mitteilen.

Irrtum #6

Eine Luftfederung ist immer komfortabler als Stahlfederung

Irrtum. Ein klassisches Stahl-Fahrwerk kann bei einem nicht zu stark beladenen Auto hervorragenden Komfort liefern. Werden hochwertige Komponenten eingesetzt, so kann der Komfort sogar besser sein, als bei einer Luftfederung. Das liegt vor allem an der geringen inneren Reibung (Harshness) einer guten Stahlfeder. Bei einem Dämpfer spricht man übrigens vom Losbrechmoment, bei dem im Idealfall nur eine geringe Kraft aufgebracht werden muss um den Dämpferkolben aus der Haft- in die Gleitreibung zu bewegen. Gute Feder-Dämpfer-Komponenten zeichnen sich unter anderem durch schnelles Ansprechverhalten aus.

Eine Luftfeder besteht dagegen nicht nur aus Luft, sondern diese steckt in einem Balg (ähnlich einem Reifen) und der kann erstaunlich störrisch und damit anregungsignorant sein. Die Optimierung der Balg-Flexibilität ist daher ein ganz wichtiger Komfortpunkt. Jedoch reguliert eine Luftfederung im Gegensatz zu einer Stahlfederung das Niveau des Autos. Damit behält das Auto auch bei Beladung die gleichen Federwege. Zudem kann die Luftfederung abhängig von der Beladung und Komfortwünschen die Federkonstante einstellen. Autos mit einem großem Unterschied zwischen Leer- und Maximalgewicht profitieren sehr von einer Luftfederung.

Irrtum #7

Ein komfortables Auto ist für alle Passagiere gleich komfortabel

Das wäre schön, ist in der Praxis aber schwer umzusetzen. Grob gesagt wird der Komfort besser, je weiter entfernt der Passagier von den Achsen sitzt. Die Front-Passagiere sitzen eher in der Mitte des Autos, die im Fond eher auf der Hinterachse. Der Schulbus-Effekt: Hinten sitzen die Coolen, aber auch die die bei einer mächtigen Queranregung am meisten aus den Sitzen gehoben werden. Jedoch kann der Entwickler durch aktives Setzen der Schwingungsknoten auch auf der Hinterbank einen sehr guten Komfort erreichen. Nicht unwichtig, wenn der Chef hinten thront. So schwankt der Komforteindruck je nach Achs-Konfiguration zwischen vorne und hinten schon mal stark. Aber auch zwischen Fahrer und Beifahrer ergeben sich oft Differenzen, da der Fahrer über das Lenkrad nochmal Schwingungen (Stößigkeit) spürt, die dem Beifahrer verborgen bleiben.

Irrtum #8

Komfort und Sportlichkeit sind zwei unvereinbare Antipoden

Für ein Standard-Fahrwerk ohne Regelung gilt das auch heute noch und die Aufgabe des Entwicklers ist es einen – dem Charakter des Autos entsprechenden – Kompromiss herauszuarbeiten. Wobei ein zu hartes Fahrwerk auch für ein sportliches Auto schlecht ist, da die Räder auf welliger Fahrbahn zu oft den Bodenkontakt verlieren. Moderne Fahrwerkstechnik ermöglicht es nun, die beiden Gegensätze zu vereinen. Grundsätzlich ist vor allem der Stabilisator der Antichrist des Fahrkomforts. Denn er verbindet als mehr oder minder unflexible Stange die Radseiten und schränkt damit die Freiheitsgrade einer Einzelradaufhängung wieder ein.

McLaren 570S, Fahrbericht, Rennstrecke, 10/2015
McLaren Automotive
Ein zu hartes Fahrwerk auch für ein sportliches Auto schlecht, da die Räder auf welliger Fahrbahn zu oft den Bodenkontakt verlieren.

Aber er macht das nicht ohne Grund: Damit stemmt sich der Stabilisator bei Kurvenfahrt gegen das Wanken und damit starke Radlastdifferenzen. Über die Wahl des Stabilisators lässt sich sogar das grundsätzliche Fahrverhalten eines Autos (über- oder untersteuern) beeinflussen. In der Kurve ist er also wichtig, auf der Geraden für den Komfort aber hinderlich. Aktive Stabilisatoren können daher hydraulisch oder elektrisch nicht nur die Stabilisatorhärte beeinflussen, sondern ihn sogar komplett entkoppeln. Die Mercedes e-Active Body Control verzichtet sogar komplett auf einen Stabilisator, da die Wankkontrolle über eine blitzschnelle, radgetrennte elektrohydraulische Niveauregulierung erfolgt. Die dafür notwendige Leistung stellt ein 48-Volt-Bordnetz zur Verfügung. Ein so geregeltes Auto schafft es sogar, sich bis zu einem Grad in die Kurve hinein zu legen.

Irrtum #9

Ein Fahrwerk kann nicht in die Zukunft schauen

Früher konnten Fahrwerke in der Tat nur reagieren und nicht agieren. Bei der e-Active Body Control von Mercedes scannt eine Stereo-Kamera in der Frontscheibe seitengetrennt den Untergrund und kann so ein erstaunlich präzises Bild der kommenden Fahrbahnunebenheiten erstellen.

Auf der Basis dieser Infomationen bereitet sich das Auto aktiv elektrohydraulisch auf die kommenden Aufgaben vor. Es agiert, anstatt nur zu reagieren. Das funktioniert vor allem bei tieffrequenten Anregungen hervorragend. Bei hochfrequenten Radschwingungen ist es jedoch ebenso machtlos. Und einen weiteren Haken hat dieses beeindruckende Zukunftssystem: Es kostet zum Beispiel beim Mercedes GLE mit fast 8.000 Euro Aufpreis – mehr als ein kompletter Dacia Sandero in der Basisversion.

Fazit

Sie sehen also: Was man gemeinhin als "Fahrkomfort" versteht, wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Hoffentlich konnten wir ein paar Vorurteile ausräumen. Live-Anschauungsmaterial gibt es übrigens im Video, ganz oben im Artikel.