Mercedes 230 E (1982) im Test
Wie schlägt sich der W 123 im Test von heute?

"Der Alte im Test" in Hockenheim, ist das nicht in etwa der wilde Partykeller von auto motor und sport? Warum daimlert denn dann ein onkelig-spießiger Mercedes 230 E um die Senke? Na, Freunde, der W 123 wird 45 und hat sich mit den Jahren eine Alterswilde zugelegt, mit der er mit von der Party sein muss.

Mercedes 230 E W 123, Exterieur
Foto: Hans-Dieter Seufert

Für 48 Minuten steht die Zeit heute früh still. So lange zieht sich an diesem Donnerstag die Dämmerung von den ersten grauen Lichtschemen des Tages bis zu jener Röte, die erst schwach hinter den Hügeln aufglimmt, um sich dann ins Gleißende aufzuhellen, wenn die Sonne sich über die Berge hebt. Doch all das erscheint wie ein langer, ununterbrochener Moment, derweil sich das Land mit seinem wechselnden Horizont dir mit Tempo 120 wie ein Film entgegenspult.

Unsere Highlights

Im Mercedes W 123 verbinden sich nicht nur Minuten zu einem Augenblick, sondern Jahre zu einem überspannenden Gefühl – dem der Geborgenheit. Es beginnt wie hier ja immer, als der Tag noch Nacht ist. In der Tiefgarage. Im fahlen Licht der Neonröhren. Und genau in der Sekunde, als die Fahrertür ins Zapfenschloss ffffumppt – und das mit einer Endgültigkeit, die dich kurz zweifeln lässt, ob du das Draußen aus- oder dich drinnen eingesperrt hast. Doch gleich bist du dir sicher: Sicherer als hier könntest du nicht sein.

Ein Schlüsseldreh, beim zweiten Klick springt die Öldruckanzeige auf 3 bar, es ist wie ein Versprechen, dass alles gut werden wird. Ein Klick weiter, und der Anlasser rempelt den 2,3-Liter-Benziner wach. Den Wählhebel durch die Zickzack-Kulisse von "P" auf "D" führen, links den Hebel für die Feststellbremse ziehen, die sich mit diesem typischen "Klonk" löst. Fuß von der Bremse, und der Wagen – man muss ihn Wagen nennen, "Auto" klänge zu gewöhnlich – rollt aus der Parkbucht, kurvt ohne Eile hoch zum Rolltor. Obwohl du nicht ergründen kannst, warum du das heute und tatsächlich wohl zum allerersten Mal so machst, wartest du nicht nur, bis das Tor sich ganz aufgespult hat, sondern sogar, bis das rote Warnlicht daneben erlischt. Dann erst biegst du ein in diese Nacht, diese Straßen und eine Reise mit gewissem Ausgang.

123 – die Nummer sicher

Mercedes 230 E W 123, Exterieur
Hans-Dieter Seufert
Seine Premiere feierte der W 123 am 29. Januar 1976 in Südfrankreich.

Schließlich ist der W 123 eines der gewissenhaftesten Autos seiner Zeit. Für seine Entwicklung nutzen die Mercedes-Techniker die fortschrittlichsten Erkenntnisse – ihre eigenen nämlich aus der Entwicklung der S-Klasse W 116. So erhält auch das Mittelklassemodell eine Crash-optimierte Karosserie mit verstärkten Profilen und Türholmen sowie aufprallgeschütztem Tank, horizontale statt vertikale Scheinwerfer und dazu viele durchdachte Details. Auch die Vorderachse an doppelten Querlenkern ist neu, während die Schräglenker-Hinterachse und sämtliche Motoren bis auf den neuen 2,5-Liter-Sechszylinder vom Vorgänger Strich-Acht stammen.

Genau acht Jahre nach dessen Debüt startet im November 1975 die Serienproduktion, Premiere feiert der W 123 erst am 29. Januar 1976 in Südfrankreich. Was auch keine Neuigkeit mehr ist, denn außer dem Käfer gibt es wohl kein Auto, das von seinen Fans so tief ergründet wurde. Und das in einer Nerdigkeit, der es nicht immer gelingt, sich als Kompetenz zu inszenieren. So wie gestern, als Otto und ich den 230 E bei Frank von Mercedes Classic abholten:

Frank: "Das wäre dann der 230 E." Otto (entzückt): "Zwodreißig! Eh! Serie 2! In 740! Und so ein Kassengestell! Moment, lass mal schauen, was der an Extras hat! 426, 466, 536, 673: Servolenkung und Getriebe automatisch mit Mittelschaltung, Zentralverriegelung, Antenne mechanisch, Batterie mit größerer Kapazität."

Seb (tadelnd): "Und, Otto, 876, Fondbeleuchtung mit Türkontakt."

Frank (irritiert): "Woher wisst …?"

Otto (stolz): "Aus den Preislisten, die wir als Jugendliche lasen!"

Frank (verstehend): "Klar, dass ihr zwei Traumprinzen dieses Jahr bei ams den 75. feiert und nicht 2022 beim deutschen ‚Playboy‘ den 50."

Doch wir hören ihn kaum, weil wir beim Einsteigen darüber fachsimpeln, dass die Diesel die Hirschmann-Radioantenne vorne rechts tragen, die Benziner hinten links – wegen des elektromagnetischen Feldes der Zündanlage. Obacht, sagen Sie, der 240 D von Gabis Vater hatte die Antenne ganz sicher hinten links. Dann wissen Sie nun, dass der Herr Gabivater die automatische Antenne bestellt hat, die wegen des Platzbedarfs immer hinten war – na, mit solch einem charmanten Detail kann man selbst bei einem Klassentreffen per Skype/Teams die sachten Bande zu Gabi wieder fester knüpfen! Das hat doch einen viel persönlicheren Bezug zu ihr und dem 123 als die Sache mit der Lenkradschaltung für iranische Polizist…, ach, die kannten Sie schon?

Ja nun, mit rund 2,7 Millionen Stück einschließlich Coupés, T-Modellen und langen Achtsitzern ist der 123 bis heute der erfolgreichste Mercedes. Anfangs liegt die Lieferzeit bei drei Jahren. 1980 übertrifft er bei uns den Golf bei den Jahresneuzulassungen um 1.360 Exemplare – das einzige Mal in der Karriere des VW.

Ein Start für ein fernes Ende

Mercedes 230 E W 123, Exterieur
Hans-Dieter Seufert
Dann fahren wir rüber zum Ring: ausladen, wiegen, die Messgeräte einbauen und raus auf die Strecke.

Wo wir grad so ins Erzählen gekommen sind, sind wir schon in Hockenheim angekommen. Otto und Hans-Dieter warten an der Tankstelle. Dort verschafft die Erhabenheit des Mercedes unserem Auftritt den Anschein einer nur selten erlangten Respektabilität. Nun streng nach Plan: tanken, waschen, Baguettes kritisch betrachten und mit der Chefin schäkern.

Dann fahren wir rüber zum Ring: ausladen, wiegen, die Messgeräte einbauen und raus auf die Strecke. Zuerst erheben wir die Tachoabweichung, die nicht weniger sein dürfte als Teil des gesamtheitlichen Sicherheitskonzepts des Wagens. Denn die Nadel streift in solch bedeutungsvollem Orange über die Zahlen des großen Tachos, dass man ihr nicht weniger als absolute Präzision unterstellt und alle Angaben glaubt.

Dabei eilt sie der wahren Geschwindigkeit voraus, baut so einen rund achtprozentigen Sicherheitspuffer ein. Schließlich muss jeder km/h, den der Wagen nicht tatsächlich, sondern nur in der Imagination seines Fahrers erlangt, später nicht von der Bremsanlage wegverzögert oder gar von der Knautschzone aufgekrumpelt werden. Ach, bei Mercedes dachten sie die Sachen schon zu Beginn von einem fernen, doch womöglich plötzlichen Ende her.

Wir stehen nun auch ganz am Anfang – dem der Beschleunigungsgeraden. Linken Fuß aufs Bremspedal, rechten aufs Gas, Bremse lösen und, und, und … und dann passiert nicht so wirklich viel Dramatischeres, als dass sich der 230 E in Bewegung setzt. Nur mit einem kleinen Stöhnen und einem kurzen Knicks mit der Hinterachse. Doch zu großer Eilfertigkeit ist der klangdezente, fünffach kurbelwellengelagerte und um 15 Grad geneigt eingebaute 2,3-Liter mit den 136 PS kaum gestimmt – erst recht nicht mit Automatikgetriebe. Schon auf der Herfahrt hatte es das Überraschungsmoment selten auf seiner Seite, wandlerte in routinierter Prinzipientreue durch die vier Stufen. Geschaltet wird dann, wenn immer schon geschaltet wurde, und ohne sich von der Einmischung eines Kickdowns arg beeindrucken zu lassen.

Mercedes 230 E W 123, Motor
Hans-Dieter Seufert
Zu großer Eilfertigkeit ist der klangdezente, fünffach kurbelwellengelagerte und um 15 Grad geneigt eingebaute 2,3-Liter mit den 136 PS kaum gestimmt.

Dann jedoch, als Otto in "L" anfährt, beim Beschleunigen selbst die Stufen anwählt – über "S" bis "D" –, lässt sich der Antrieb in Drangfülle versetzen. Die ist umso erstaunlicher, weil sie jene des 230 E vom ersten Test übertrifft, der bei uns im Herbst 1980 für nullhundert mit 10,9 Sekunden drei Zehntel länger braucht. Sollten Sie das für eine komplette Nebensächlichkeit halten, möchten wir Ihnen uneingeschränkt beipflichten. Aber doch hinzufügen, dass es ja nur selten die Hauptsächlichkeiten sind, denen es gelingt, eine kleine Zwischenheiterkeit hervorzurufen.

Das ganze, gar nicht mehr wenige Tempo gilt es nun wieder einzubremsen – ohne ABS, obwohl es das ab 1980 optional gibt. Daher hält Otto die Bremsen knapp unter der Blockiergrenze. Derart könnerhaft verzögert, steht der 230 E aus 100 km/h nach wackeren 42,4 Metern.

Sodann rüber zur ersten Übung der Fahrdynamik, dem doppelten Spurwechsel, bei dem er, tja, doppelt die Spur wechselt – und zwar in einer uneiligen Umsichtigkeit, in welcher ihn selbst das milde Heckdrücken beim Zurücklenken in die dritte Gasse keineswegs erschüttert. Es ist ein ziemliches Gekurbel, doch die Entwickler der Lenkung rühmten stets gerade deren Verreißsicherheit. Was eine ebenso vorteilhafte wie unstrittige Umschreibung für die bemerkenswert indirekte Übersetzung der Kugelumlaufkonstruktion ist.

Mercedes 230 E W 123, Exterieur
Hans-Dieter Seufert
Es ist ein ziemliches Gekurbel, doch die Entwickler der Lenkung rühmten stets gerade deren Verreißsicherheit.

Du drehst weit über die Mittellage hinaus am großen Steuer, bevor die Lenkung diese Aufforderung zu einem Richtungswechsel zu unterstützen beginnt. Jene Trägheit bremst den W 123 beim Slalom, dem ständigen Hin und Her zwischen den Pylonen, noch mehr ein als das Wanken. Wer meint, seine Dynamikanwandlungen noch weiter treiben zu müssen, erlebt endlich, wie der Wagen in besonnenes Untersteuern schubbert. Doch wozu die Hektik einiger eingesparter Sekunden bei einem Wagen, der seine Zeit in Jahrzehnten bemisst – mit denen sich die Bedeutung von Preis und Verbrauch sehr relativiert.

Wir starten zur Heimfahrt, auf der uns der 230 E mit Komfort und Geborgenheit umschmeichelt. Genau darin liegt das Wesen dieses Mercedes, denn egal wie weit du von daheim entfernt bist, beim Einstieg in den W 123 bist du zu Hause – vom ersten Moment an.

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Vor- und Nachteile
Karosserie
grandios übersichtlich vom Stern vorn bis zu den letzten kleinen Flossenausläufern
kühler Einrichtungsstil, dessen gouvernantenhafte Strenge jede Ambition zu ausschweifender Romantik auf der knautschigen Rückbank erkalten lässt
Cockpit duldet nur nachweislich notwendige Bedienelemente und keinerlei Klamauk
Fahrkomfort
eine Federung, die Abfedern von Unbillen als ihre Aufgabe versteht, nicht Verbreiten sogenannter sportlicher Härte
unbequeme Sitze steigern schon nach kurzen Fahrten gesundheitsfördernden Bewegungs- und Dehndrang
Antrieb
ist ebenso ausreichend wie unaufdringlich vorhanden
Fahreigenschaften
servointensivierte, völlig verreißsichere, indirekte Übersetzung schult Eilfertigkeit im Drehen am Lenkrad
230 E schenkt Hitzköpfigen durch starkes Wanken Illusion, im Grenzbereich zu fahren, lange bevor er erreicht ist
Sicherheit
Doofe Frage! Die ist doch das Lebensthema des W 123
Umwelt
hatte stets viel Zeit, sich an die Präsenz eines W 123 zu gewöhnen, er kam, um zwei, drei Jahrzehnte zu bleiben, bevor er weiterzog, um anderswo ewig jung zu altern
Kosten
waren nur dann hoch, meinte man, ihn für ein vermeintlich moderneres und günstigeres Auto verkaufen zu müssen

Fazit

Wir haben nur fünf Sterne. Zwei gibt es für die Solidität, die Dynastien überspannt, einen, da er das Wesentliche maximiert und jeden Überfluss meidet, einen für kuschlige Sicherheit, einen für Komfort.