Physik am Auto
So kurz sollte der Bremsweg sein

Zu den wichtigsten Sicherheitskomponenten im Auto zählen die Bremsen. Im Ernstfall müssen sie in der Lage sein, das Fahrzeug auf dem kürzestmöglichen Weg zum Stillstand zu bringen.

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Foto: Scholz, Ingolf Pompe

Die Ursachen für viele schwere Unfälle auf Schnellstraßen sind überhöhte Geschwindigkeit, mangelhafter Sicherheitsabstand und schlechte Reifen. Aufnahmen der Videowagen der Polizei zeigen deutlich, was sich auf den Autobahnen abspielt: Nahkampf auf der Überholspur, die Richtgeschwindigkeit schrumpft zum Mindesttempo, auf Kosten des Abstands wird aufs Gas gedrückt – so der Alltag auf deutschen Schnellstraßen.

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Das Problem

Brems- oder Anhaltewege eines Fahrzeugs werden in unterschiedlicher mathematischer oder optischer Form präsentiert. Vielfach sind die Wertangaben oder grafischen Darstellungen mathematisch nicht nachprüfbar. Was das Vertrauen in solche Angaben nicht steigert. Bestimmungen von Anhaltewegen beim Bremsvorgang reichen von Fahrschulangaben wie "gleich Tachoabstand" oder einer quadratischen Gleichung bis zu mathematisch peniblen Integralfestlegungen.

Eine einfach nachzurechnende Fahrschulaussage muss nicht falsch und eine wissenschaftlich komplexe Aussage nicht zwangsweise richtig sein. Ob Näherungsformel oder nicht – jede Aussage und Darstellung hat ihre Gültigkeit, sofern auch die Entstehung des Ergebnisses erklärbar ist.

Der Bremsvorgang

Für die Darstellung von Anhaltewegen sind zahlreiche Formeln im Umlauf, die unterschiedliche Genauigkeiten bei der Berechnung bewirken:

Die Kommastellen sind nicht die wirklich wichtigen Kriterien bei der Rechnung, sondern die tatsächlichen Brems- und Straßenverhältnisse. Bereits eine feuchte oder µ-split-Fahrbahn erzeugt eine größere Abweichung vom Bremsverhalten als eine Rechnung, bei der von einem geradlinigen Bremsweg und einer vorher festgelegten Bremsverzögerung ausgegangen wird.

Die Fahrschule

Aus der Schule sind lineare und quadratische Gleichungen bekannt, sodass darauf aufgebaut werden kann, ohne tiefer in die Materie zu steigen. Einzig der ungebremste Reaktionsweg und der Bremsweg sind die Größen der stark vereinfachten Formel zum Anhalteweg.

Reaktionsweg: RW = v : 10 • 3

Bremsweg: BW = v : 10 • v : 10 = v2 : 100

Gewaltbremsweg GW = (v : 10 • v : 10) : 2 = v2 : 100 : 2.

Mathematisch lässt sich die Gleichung der Parabel schreiben:

y = v2/100 + 3v/10 oder

y = 0,01 x2 + 3/10 x

Die Parabelgleichung ist nach oben geöffnet und geringfügig in Richtung negativem x verschoben.

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Scholz, Ingolf Pompe

Die Faustformel der Fahrschule lässt sich per App als Parabel darstellen.

Beispiel: v = 50 km/h

RW = 50 : 10 • 3 = 15 m, BW = 50 : 10 • 50 : 10 = 25 m

Anhalteweg = 15 m + 25 m = 40 m

Ausführliche Darstellung

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Scholz, Ingolf Pompe

Kurvenverläufe von Bremsweg und Verzögerung bei einer Vollbremsung.

Mit der Grafik im vorangegangenen Bild werden die einzelnen Berechnungsgrößen im Detail aufgelistet. Der Beginn des Bremsvorgangs wird auf die Erkennung der Gefahrenquelle festgelegt (= Fixierung des Objekts mit den Augen). Diese Nullpunktfestlegung ist durchaus nicht so einfach, wie sie klingt. Untersuchungen unterscheiden sich deutlich in Blickzuwendungszeit und Objektfixierung. Der Deutsche Verkehrsgerichtstag hat hier Richtwerte (Schätzwerte) festgelegt, die zu Anhaltewegberechnungen vor Gericht herangezogen werden können. Beispielsweise kann die Objektfixierung nur bei einem Blickwinkel von 1° erfolgen. Nicht nur ein Fahrzeug kann übersteuern, auch das Auge übersteuert: Es muss sich auf das Objekt erst einpendeln. Diese Vorgänge laufen zwar in Bruchteilen von Sekunden ab, aber viele Millisekunden werden schon mal zu einer Sekunde addiert.

Gefahrerkennungszeit

Die Gefahrerkennungszeit ist die Zeitspanne zwischen dem Wahrnehmen des Hindernisses und dem Erkennen als Gefahr. Ist dazu eine Blickzuwendung erforderlich, erhöht sich die Gefahrerkennungszeit um ca. 0,4 s.

Die Vorbremszeit tVZ ist die Zeitspanne zwischen Gefahrerkennung und dem rechnerischen Bremsbeginn. Sie beträgt ca. 0,8 bis 1,0 s und setzt sich wie folgt zusammen:

tVZ = tR + tU + tA + tS/2

Die Reaktionszeit tR ist die Zeitspanne zwischen dem Eintreten eines bestimmten Reizes und dem Beginn der ersten darauf gerichteten Handlung. Eine unbewusste Gefahrerkennung löst eine Spontanreaktion aus, sodass der Fahrer sowohl die Reaktionsstelle als auch die Position des Reaktionsanlasses um die jeweils in der Vorbremszeit zurückgelegte Strecke verschoben angibt. Für die Spontanreaktion benötigt der Mensch ca. 0,2 s. Muss eine Entscheidung zu einer zweckmäßigen Abwehrhandlung nach bewusster Gefahrerkennung getroffen werden (Wahlreaktion), beträgt die Reaktionszeit mindestens 0,3 s.

Gerade die Reaktionsdauer ist von persönlichen und äußeren Faktoren abhängig, z. B. trainierte Reflexhandlungen, Leistungsfähigkeit/Grad der Ermüdung, Aufmerksamkeit/Ablenkung, Gesundheitszustand, Voraussehbarkeit der Bremssituation, Auffälligkeit des Objekts und Lage des Objekts im Blickfeld. Die Umsetzzeit tU ist die Zeitspanne, die der Fahrer zum Umsetzen des Fußes vom Gaspedal auf das Bremspedal benötigt (ca. 0,2 s).

Die Ansprechzeit tA ist die Zeitspanne, die für die technische Übertragung des Pedaldrucks über das Bremssystem bis zum Wirksamwerden der Bremsung (vollständiger Aufbau des Anlegedrucks bzw. Beginn der Fahrzeugverzögerung) erforderlich ist.

Die Schwellzeit tS ist die Zeitspanne zwischen dem Wirksamwerden der Bremsung und dem Erreichen der voll wirksamen Bremsverzögerung a. Ersatzweise wird die Hälfte des Betrags der Schwellzeit (tS/2) als rechnerischer Bremsbeginn angenommen.

Gemäß EU-Ratsrichtlinie EWG 71/320 darf die Summe aus Ansprechzeit und Schwellzeit 0,6 s nicht überschreiten. Ein schlechter Zustand der Bremsanlage verlängert Ansprech- und Schwellzeit. Folgende Werte werden dafür allgemein angenommen: Pkw 0,1 bis 0,3 s, Lkw 0,2 bis 0,4 s, Lastzug/Sattelzug 0,4 bis 1,0 s, Motorrad (Fußbremse) 0,1 bis 0,3 s, Motorrad (Handbremse) 0,2 bis 0,3 s.

Die Bremszeit tB ist die Zeitspanne zwischen dem rechnerischen Bremsbeginn und dem Fahrzeugstillstand. Sie enthält die halbe Schwellzeit tS/2 (idealisierte Annahme zur Berechnung: nur halbe Schwellzeit, aber volle Verzögerung) sowie die Vollbremszeit (tV), in der die volle Verzögerung tatsächlich wirksam ist.

tB = tS/2 + tV

Anhaltezeit tAH und Anhaltestrecke sAH: Die Anhaltezeit tAH ist die Summe aus Vorbremszeit tVZ und Bremszeit tB.

tAH = tVZ + tB

Durch Zusammenfassung lassen sich die Anhaltestrecke sAH und die Anhaltezeit tAH berechnen.

sAH= (v • tVZ) + v2/2a

tAH = tVZ + (v/a)

Die beiden Gleichungen gelten für Geschwindigkeitsangaben in m/s. Wird die Geschwindigkeit in km/h vorgegeben, ist der Umrechnungsfaktor 3,6 in die Gleichung einzubetten, um die Einheit m bzw. die Einheit s zu erhalten:

sAH = (v • tVZ /3,6) + v²/ (25,92 • a)

Im Nenner steht der Faktor 2, der mit dem Wert 12,96 zu 25,92 zusammengefasst werden kann:

tAH = tVZ + v/ (3,6 • a)

ESP Plus zur Optimierung nutzen

ESP verwendet leistungsfähigere Hydraulikpumpen, die schneller reagieren und die Reaktionszeit durch rechtzeitigen Aufbau des Bremsdrucks verkürzen. Entscheidend kann in Notbremssituationen sein, dass die Radarsensoren eines ACC ein Hindernis eventuell vor dem Fahrer erkennen. Durch vorsorgliches, leichtes Anlegen der Bremsen ohne Verzögerung wird damit die Bremsung schneller eingeleitet. Eine vergleichbare Notsituation signalisiert der Pedalsensor. Geht der Fahrer abrupt vom Gaspedal, erwartet das System eine Panikbremsung und bereitet sich darauf vor. Dieses leichte Anlegen der Bremsklötze macht eine weitere Zusatzfunktion, das Bremsscheibenwischen, möglich. Registriert ein Regensensor Nässe, kann das Entfernen eines Wasserfilms auf den Bremsscheiben einer verzögerten Bremswirkung vorbeugen.

Weitere Eingriffsmöglichkeiten mit ESP Plus sind: Ausgleich dynamischer Achslastschwankung bei hoher Beladung und radindividuelle Anpassung der Bremskraft. Informationen des Drehratensensors können dazu genutzt werden, im Gespannbetrieb Pendelschwingungen frühzeitig zu erkennen und sie durch gezieltes Bremsen zu mildern.

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Scholz, Ingolf Pompe

In einer Übersicht können die einzelne Größen rund um den Anhalteweg berechnet werden (mit MS Excel gestaltet).

Beispiele für Bremsverzögerungsgrößen a

Trockener/nasser Asphalt:

7,5–8,0 m/s² bzw. 6,0 m/s²

Trockene/nasse Betonfahrbahn:

7,5 m/s² / 7,0 m/s²

Nasse Betonfahrbahn (alte Bauart): 5,0 m/s²

Trockenes/nasses Pflaster (Verbundsteine): 7,0 m/s² bzw. 5,5 m/s²

Schneebedeckte Fahrbahn:

2,0–3,0 m/s²

Eis (abhängig von Eistemperatur):

0,5–2,0 m/s²

Motorrad (nur Hinterrad wird gebremst):

4,0 m/s²

Motorrad (nur Vorderrad wird gebremst):

6,5 m/s²

Motorrad und Auto (optimaler Bremseinsatz, beste Reibwerte): 10 m/s²

Bremsspuren

Umgekehrt kann – mit geringer Abweichung – aus der schwarzen Bremsspur eines Fahrzeugs, bei dem das ABS versagt hat oder keines an Bord ist, die Fahrgeschwindigkeit rechnerisch ermittelt werden. Aus der vereinfachten Annahme, dass der Bremsweg sB allein nach der Geschwindigkeit aufgelöst werden kann, erfolgt eine unkomplizierte Lösung und kann in dasselbe Tabellen- rechenblatt miteingebracht werden.

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Scholz, Ingolf Pompe

Reifenvergleich beim Bremsen auf Nässe.

Rechenbeispiel: Zwei Bremsspuren bei einer angenommenen trockenen Fahrbahn (a = 7,5 m/s2) zeigten eine Länge von 27 m.

Lösung: Da davon ausgegangen wird, dass eine Vollbremsung vorlag, wird die Vorbremszeit nicht berücksichtigt. Mit v = √ sB · 2 · a = √ 27 m · 2 · 7,5 m/s2 = 20,1 m/s2 ergibt sich eine Fahrgeschwindigkeit von 20,1 • 3,6 = 72 km/h.

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In Schweden wird der Sicherheitsabstand anschaulich in Erinnerung gebracht.

Für einfache Rechenarten hat man in Schweden eine Rechnung bereitgestellt, die durchaus beim gemütlichen Cruisen lösbar ist.

Geht man davon aus, dass der Leitpfostenabstand 50 m beträgt, so ergibt sich ein Mindestabstand von (50 m • 1,5 =) 75 m. Setzt man vergleichsweise die Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h (90 : 3,6 m/s) des Autos über 3 s an, so errechnet sich der Sicherheitsabstand mit

v = s/t

s = v • t = 90 : 3,6 • 3 = 75 m

Fazit

Zum Berechnen des Bremswegs gibt es also mehrere Möglichkeiten. Zusätzliche Faktoren, wie das Bremsmanöver in einer Kurve oder auf nasser Fahrbahn sorgen für Abweichungen. Die meisten Rechnungen gehen aber von einem geradlinigen Bremsweg aus. Zusätzlich verringert die Gefahrenerkennungszeit den tatsächlichen Bremsweg, da vom Erkennen der Gefahr und dem Auslösen des Bremspedals schon mal eine Sekunde vergeht. Es gibt also keine genaue Pauschale, wann man wie viel Abstand halten muss. Die Länge des Bremswegs hängt von mehreren Faktoren ab, die je nach Wetterbedingung, Bereifung und Fahrer variieren kann.