Psychologe zu Verhaltensweisen im Straßenverkehr
„Fehlverhalten in beide Richtungen“

Warum es Verkehrsteilnehmern schwerfällt, respektvoll miteinander umzugehen, erklärt der Psychologe und Leiter des Instituts für Verkehrssicherheit Don DeVol.

„Fehlverhalten in beide Richtungen“
Foto: Anja Wozikowski
Warum fällt es uns so schwer, uns in andere Verkehrsteilnehmer hineinzudenken?

Als Verkehrsteilnehmer nehme ich meine Umwelt, andere Personen und den Verkehr aus eigener Perspektive wahr. Ein Rollenwechsel ist aus drei Gründen schwierig: Erstens bedeutet es psychologischen und mentalen Aufwand, sich in die Rolle eines anderen Verkehrsteilnehmers hineinzuversetzen. Zweitens gibt es individuelle Unterschiede in der Empathie-Fähigkeit, welche einen psychologischen Rollentausch vereinfachen oder erschweren. Und drittens ist man im Straßenverkehr anonym unterwegs und bekommt keine direkte Rückmeldung über sein Verhalten. Wenn zum Beispiel jedes Mal eine Alarmglocke angehen würde, wenn man mit dem Auto zu dicht an einem Radfahrer vorbeifährt, würde das sicherlich helfen – aber das ist leider nicht der Fall.

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Eine Idee für ein neues Fahrassistenzsystem?

Warum nicht? Ich bin selbst begeisterter Rennrad-fahrer und bekomme oft mit, dass Autofahrer zu knapp an mir vorbeifahren. Viele Autofahrer sind sich nicht bewusst, dass dies ein Überholvorgang ist, bei dem auch der Gegenverkehr berücksichtigt werden muss. Das richtige Verhalten geht klar aus der neuen Abstandsregel (2,0 m außerorts, 1,5 m innerorts) hervor und fällt leichter, wenn man selbst öfter mit dem Fahrrad unterwegs ist.

Spielt aggressives Verhalten eine Rolle?

Bei Gefährdungssituationen spielt das neben mangelnder Aufmerksamkeit und Gedankenlosigkeit natürlich auch eine Rolle. Entsprechendes Fehlverhalten kann in beide Richtungen auftreten: Fahrradfahrer können bewusst provokativ nebeneinander fahren, um das Überholen zu erschweren. Umgekehrt sehen Autofahrer Fahrradfahrer manchmal eher als Hindernis statt als Verkehrsteilnehmer, wenn sie mit erhöhtem Aggressionspotenzial gestresst aus dem Büro kommen.

Kann man die Beziehungsverhältnisse zwischen den Verkehrsteilnehmern klassifizieren?

Grundsätzlich sehe ich nicht, dass es unterschiedliche Typen, Muster oder Rollen gibt. Die beiden eben beschriebenen Phänomene – gedankenloses Verhalten und bewusst provokatives Verhalten – treten aus meiner Sicht in allen Gruppen von Verkehrsteilnehmern auf.

Fahrassistenzsysteme werden immer komplexer. Besteht darin die Gefahr der Ablenkung?

Beim Thema Verkehrssicherheit sprechen wir von Warn- und Informationssystemen, wo ich durchaus noch ein großes Potenzial in der deutschen Automobilflotte sehe. Auf dem Weg zum hoch automatisierten Fahren ändern sich auch die Anforderungen an den Fahrer. Während vielleicht heute eine hohe Reaktionsschnelligkeit relevant ist, brauche ich in Zukunft zusätzlich ein verbessertes Arbeitsgedächtnis, um das Fahrzeug wieder übernehmen und bedienen zu können.

Auch Fahrradfahrer sind nicht immer rücksichtsvoll, Lasträder sorgen für neue Gefährdungssituationen. Wie begegnet man dem?

Die Zahl der Lastenräder steigt, und ihr Gefährdungspotenzial wird mittlerweile durchaus auch von den entsprechenden Institutionen für Verkehrssicherheit wahrgenommen. Dennoch würde ich das eher als ein Nischenthema innerhalb der Radfahrergruppe sehen. Aus meiner Sicht sollte man den Fokus eher auf die klassischen Radfahrer und auf die E-Bikes legen.

Sind Fahrradfahrer dann automatisch die "besseren" Menschen?

Nein. Sie sind sich auch ihrer Verletzlichkeit im Straßenverkehr oft nicht hinreichend bewusst. Bei einem Zusammenstoß kann es bereits bei 20 bis 30 km/h zu schweren Verletzungen kommen; 50 km/h sind oft schon tödlich. Sicherlich ein guter Punkt für weitere Appelle an die Radfahrer. Gott sei Dank hat sich die Quote der Helm Tragenden deutlich erhöht, aber es gibt auch hier nach wie vor viel Luft nach oben.

In Corona-Zeiten sind mehr Menschen vom ÖPNV auf das Auto umgestiegen; gleichzeitig wurde der Platz in den Städten auch durch Pop-up-Radwege enger. Hat darunter das Verhältnis zwischen Auto- und Fahrradfahrern gelitten?

Dafür gibt es keine Indizien. Aber natürlich ist der Platz begrenzt, und der Verkehrsraum befindet sich in einem Wandel – weg vom Fokus Auto hin zu einer gleichmäßigen Berücksichtigung aller Verkehrsteilnehmer. Der damit verbundene Mentalitätswandel braucht aber seine Zeit, und die bestehenden Straßenstrukturen aus den 1950er- und 1960er-Jahren können nicht von heute auf morgen geändert werden.

Bräuchten wir in Deutschland nicht auch ein anderes Führerscheinsystem, welches verhindert, dass Führerscheinneulinge Zugriff auf ein Auto mit über 500 PS bekommen? So wie bei den Motorrädern eben.

Da gebe ich Ihnen recht. In den 1980er-Jahren war ich dabei, als es in einem Forschungsprojekt um die Einführung des Stufenführerscheins ging. Die Ergebnisse der Studie haben den Nutzen klar aufgezeigt, aber das Konzept ist immer wieder aufgeweicht worden – zuletzt im Zweiräderbereich, wo Verkehrsminister Andreas Scheuer den Zugang zu schwereren Maschinen über den Pkw-Führerschein ermöglicht hat. Man kann mit 100 PS letztlich den gleichen Schaden anrichten wie mit 500 PS, aber die Einführung des Stufenführerscheins wäre sicherlich ein passender Mosaikstein. Wie bei allen Dingen ist es auch aus psychologischer Sicht sinnvoll, die Menschen Schritt für Schritt heranzuführen.

Welche Rolle spielt die Eigenverantwortung, damit das Miteinander besser gelingt?

Der überwiegende Teil der Kraftfahrer verhält sich – mal von Fehleinschätzungen abgesehen – völlig regelkonform. Zudem ist eine große Gruppe durchaus zugänglich für Aufklärung, sofern diese informativ gestaltet ist und ohne moralischen Zeigefinger daherkommt. Kampagnen wie "Runter vom Gas!" vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) haben einen hohen Wiedererkennungswert und Einfluss, und sie zeigen auch eine nachhaltige Wirkung. Für die Gruppe der hartnäckigen Verkehrssünder nützt hingegen nur der Dreiklang aus Gesetzen, Überwachung und Sanktionen. Neben Alkohol- und Drogenfahrern sind Fahrer mit hohem Punktestand diejenigen, die zu uns in die MPU kommen. Ohne Eingriffe und psychologische Inter- ventionsmaßnahmen ist es schwierig, diese Gruppe zu beeinflussen.

Brauchen wir eigentlich das Instrument der "Verkehrserziehung" über den Erwerb des klassischen Führerscheins hinaus?

Wir brauchen sogar lebenslanges Lernen. Es ist eigentlich unvorstellbar, dass man seinen Führerschein vor 30 oder 40 Jahren erworben hat und danach absolut nichts mehr machen muss. Seitdem hat sich vom Käfer und Trabbi bis hin zu der heutigen komplexen Verkehrssituation und den neuen Fahrassistenzsystemen doch einiges getan. Für den Erhalt der Fahrerlaubnis sollte lebenslanges Lernen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Tut sich hier auf politischer Ebene etwas?

Ja. Die Bundesanstalt für Straßenwesen beschäftigt sich schon seit Längerem mit der sogenannten zweiten Phase, weil insbesondere die jungen Fahrer mit dem Führerscheinerwerb ja noch nicht fertig sind. Hier passieren bedingt durch Alter und Unerfahrenheit noch viele Unfälle. Aber das ist aus meiner Sicht noch nicht genug. Auch für ältere Fahrer wird seit Längerem über sogenannte "Rückmeldefahrten" diskutiert, um ihnen – wie der Name sagt – eine Rückmeldung über ihre Fahrfertigkeiten zu geben. Warum sollte das Fahren nicht durch regelmäßige Auffrischungen begleitet werden, statt einzelne Zusatzprüfungen oder medizinische Tests durchzuführen?

Wir würden es begrüßen, wenn im Kontext des Führerscheinerwerbs auch ein Fahrsicherheitstraining absolviert werden müsste. Das macht Spaß und bringt viele Erkenntnisse für richtiges Benehmen im Straßenverkehr. Was halten Sie davon?

Ja, das ist sicherlich eine Möglichkeit. Alternativ wäre auch vorstellbar, nach einem gewissen Zeitraum einige Fahrstunden beim Fahrlehrer zu nehmen. Wir bieten auch verkehrspsychologische Tests an, die aber so gut wie nicht angenommen werden, weil der Zwang nicht da ist. Entsprechende Maßnahmen müssten daher schon in einem Regelwerk verankert werden. Dadurch könnte auch die Fahrsicherheit älterer Fahrer durch gezieltes Training länger erhalten bleiben bzw. aufgefrischt werden.

Vita

Don DeVol (Jahrgang 1952, geboren in Ohio, USA) ist Diplom-Psychologe und seit 2004 Leiter des Instituts für Verkehrssicherheit für den TÜV Thüringen. Außerdem ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP).