Reifen
So entsteht ein Reifenprofil

Vom Computer auf die Straße: Die ersten Prototypen eines neuen Reifens werden auch heute noch in aufwendiger Handarbeit hergestellt – ein Selbstversuch.

Reifenprofile, Reifenschnitzer
Foto: Thiemo Fleck

„Schneid’ nicht so tief“, warnt Janni, „du könntest die Karkasse verletzen!“ Janni muss es wissen, der Grieche ist einer von 17 professionellen Reifenschnitzern in den Versuchswerkstätten von Continental. Das Schnitzen von Profilen ist nach wie vor gängige Praxis zur Herstellung von Reifenprototypen. Der Selbstversuch zeigt: Handwerkliches Geschick allein genügt nicht; es erfordert Training und Erfahrung, die Rillen, Kanäle und Einschnitte aus dem Rohling, dem Glattreifen chirurgisch präzise herauszuarbeiten. Die Werkzeuge, Messer genannt, sehen aus wie Hobel und verfügen über elektrisch beheizte, unterschiedlich geformte Klingen. Je nach Form und Breite des Profileinschnitts werden u- oder v-förmige und für besonders breite Kanäle auch eckige Klingen eingesetzt. Speziell die gleichmäßig geschwungenen Lamellen sind eine Herausforderung.

Reifen entstehen zuerst virtuell

Bis zu 40 Arbeitsstunden kann es dauern, bis das stark lamellierte Profil eines komplexen Winterreifens herausgearbeitet ist. „Selbst wenn wir für eine komplette Versuchsreihe Reifen schnitzen müssen, ist das billiger als eine komplette Form herstellen zu lassen“, so Burkhard Wies, Leiter der globalen Pkw-Reifenentwicklung bei Conti.

Lange bevor ein neuer Reifen unterm Messer Gestalt annimmt, muss er einige Entwicklungsschritte durchlaufen. Zuerst werden die Entwicklungsziele definiert: Soll es ein Winter-, ein Sommer-, ein Sport-, oder ein Leichtlaufreifen werden? Abhängig davon werden die Unterkonstruktion, die Karkasse, sowie seine Seitenwand- und Laufstreifenmischung definiert. Parallel dazu entsteht aus Längs- und Querrillen das Profil.

Der Zielkonflikt: Für gute Kurven- und Bremseigenschaften auf trockener Bahn soll die Kontaktfläche des Reifens zur Fahrbahn möglichst groß sein. Für bestmögliche Wasserableitung, etwa um Aquaplaning zu verhindern, ist aber das Gegenteil der Fall. Dann sind tiefe Rillen und Kanäle von Vorteil. Bei Winterreifen werden zusätzlich Lamellen in die Profilblöcke eingeschnitten. Während bei Sommerreifen allein die Kanten der Profilblöcke für Verzahnung sorgen, gelingt es mit Lamellen, die Anzahl der wirksamen Greifkanten zu vervielfachen. Die traktionsrelevanten Kanten quer zur Fahrtrichtung können so über 2,5 Meter Gesamtlänge erreichen.

Länge, Form und Ausrichtung der Lamellen spielen eine Rolle

Nicht nur die Länge der Lamellen spielt ein Rolle, sondern auch deren Form und Ausrichtung. Sind die Einschnitte etwa quer zur Fahrtrichtung angebracht, verbessert sich primär das Brems- und Traktionsverhalten der Reifen. Längs verlaufende Einschnitte würden hingegen die Seitenführung und das Lenkverhalten der Reifen optimieren. Schräg verlaufende, wellenförmige oder Zickzack-Einschnitte bilden den besten Kompromiss aus beidem.

„Bei aller Liebe zur Lamelle müssen wir auch die Blocksteifigkeit im Auge behalten“, erklärt Wies. „Glatte Einschnitte lassen die Stege zwischen den Lamellen stark kippen, das hilft uns nicht weiter. Deshalb haben wir die sogenannte adaptive Sinuslamelle entwickelt, bei der sich die Stege bei Belastung gegeneinander verspannen. So bleibt der Block trotz vieler Einschnitte stabil. Die Herausforderung ist, die Balance zwischen Grip und hoher Blocksteifigkeit zu finden.“

Von der hohen Schule der Reifenkonstrukteure bin ich als reifenschnitzender Novize noch weit entfernt. Unter meinem Messer entsteht gerade eine experimentelle Mischbereifungs-Kombination für Hecktriebler. Längs laufende Einschnitte für eine lenkwillige Vorderachse, quer zur Fahrtrichtung verlaufende Einschnitte für maximale Traktion hinten. Wie in realer Entwicklungspraxis wurde das Reifenprofil zuvor per Computer-aided Design am Rechner erstellt, optimiert, anschließend auf eine Schablone und zuletzt mit Markierstift auf den Rohling übertragen. Jetzt wird geschnitten.

Test-Teams erproben Reifen

Bei größeren Stückzahlen übernimmt diese Arbeit auch mal ein moderner Schnitzroboter. „Doch in der Zeit, die wir für die Programmierung des Automaten brauchen, sind locker zwei, drei Reifen geschnitzt“, meint Rainer Hein, Leiter der Versuchsreifen-Schnitzerei bei Continental. Pro Jahr verlassen rund 2.000 Reifen seine Werkstatt – mit den unterschiedlichsten Zielen: Fahrversuche auf Schnee, Eis, nassem und trockenem Asphalt. Mehr als 160 Stunden penibler Schnitzarbeit können in einem Versuchsreifensatz stecken. Bei der Erprobung können die Muster schon nach wenigen Kilometern verschlissen sein.

Was zählt, sind die Ergebnisse. Dafür sorgen die Test-Teams, die rund um den Globus jede Reifen-Neuentwicklung unter Realbedingungen erproben. Je früher neue Erkenntnisse über die Prototypen in die Reifenkonstruktion zurückfließen, desto besser. Ist die Reifenbackform erst einmal hergestellt, sind Änderungen extrem teuer.

Meine Versuchsreifen sind nun auf einem BMW 3er montiert. Wie erwartet, schiebt er auf Schnee und Eis mächtig an und lenkt zunächst auch willig ein, doch Bremsen und Fahrstabilität enttäuschen. Der BMW übersteuert heftig – spaßig, aber im Alltag praktisch unfahrbar. Schön, dass es solche Experimente gibt.