Verschenkte Sicherheit an Leitplanken
Fehlkonstruktion - Autos zu schwer für Leitplanken

Leitplanken können schwere Unfallfolgen reduzieren, indem sie verhindern, dass Fahrzeuge von der Straße abkommen. Allerdings werden die Schutzeinrichtungen nach völlig veralteten Vorschriften konstruiert, weil beim Testen von unzeitgemäß niedrigen Gewichten und geringen Fahrzeughöhen ausgegangen wird. So bleiben der Sicherheitsschutz weit unter den Möglichkeiten. Unfallforscher der Versicherungsbranche schlagen daher jetzt Alarm.

Crashed car with deflated airbags after accident finished on road crashed barrier
Foto: AdobeStock/Lubos

Sie rettet jedes Jahr viele Menschenleben – aber dafür steht sie ganz schön grau und unscheinbar am Straßenrand. Dabei kann die aus verschraubten Metallprofilen oder gegossenen Beton-Elementen bestehende Leitplanke ihren Erfolg sogar statistisch belegen: So hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft in einer umfangreich angelegten Studie Unfälle mit Personenschäden aus dem Jahr 2020 analysiert. Dabei kam heraus, dass das Risiko, tödlich zu verunglücken, beim Kontakt mit einer Leitplanke wesentlich geringer ausfällt als mit anderen Objekten am Straßenrand. Im Falle eines Anpralls gegen einen Baum steigt das Risiko einer tödlichen Verletzung beispielsweise um rund das Zweieinhalbfache.

Rücksicht hat Vorfahrt
Leitplanke
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Das spezielle Profil von Betonleitplanken kann ein Aufsteigen des Autos bewirken, es droht ein Überschlag.

Eine typische Metallleitplanke ist so ausgelegt, dass sie im Notfall nicht nur das Auto auf der Fahrbahn hält, sondern auch die Wucht des Aufpralls abmildert, indem sie sich verformt, vergleichbar mit der Knautschzone im Auto. Für diese Verformung ist allerdings Platz hinter der Fahrbahn erforderlich, der zum Teil nicht vorhanden ist.

In Verkehrssituationen, in denen sich Fahrbahnen beider Richtungen sehr nahe kommen – beispielsweise bei Autobahnbaustellen –, werden daher oft nicht verformbare Beton-Elemente verwendet. An denen kann das Fahrzeug nach einem Aufprall entlangschlittern und so die Bewegungsenergie langsam abbauen.

Leitplanke
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Schwere SUV walzen Leitplanken oft nieder oder schieben sie viel zu weit nach hinten.

Wie die Rückhaltesysteme gebaut werden müssen, welchen Anforderungen sie zu genügen haben, regelt unter anderem die europäische Norm DIN EN 1317. Für die Zulassung einer Schutzeinrichtung sind auch Crashtests vorgeschrieben. Je nachdem, wie die Planke hier abschneidet, sprich, wie viel Aufprall-Energie sie aufnimmt oder um wie viele Zentimeter sie sich nach hinten verschiebt, wird sie einer bestimmten Schutzklasse zugeordnet und für konkrete Einsatzzwecke freigegeben.

Tests mit 90er-Jahre-Autos

Doch die Crash-Anforderungen sind inzwischen mehrere Jahrzehnte alt, was man schon an der Auswahl der zum Test zugelassenen Fahrzeuge erkennt: So wird hauptsächlich mit Autos in drei Gewichtsklassen getestet – 900, 1.300 und 1.500 Kilo Gesamtgewicht. 2020 wog ein durchschnittlicher Neuwagen jedoch bereits über 1.600 Kilo (in unserer Bildergalerie sehen Sie die Top 20 der schwersten Neuwagen). Das heißt, selbst für ein Durchschnittsfahrzeug haben die Zulassungstests kaum noch Aussagekraft mehr. Autos unter 900 Kilo Gesamtgewicht spielen heute selbst im Kleinwagensegment so gut wie keine Rolle mehr. Auch der wachsende Anteil von SUV mit ihrem höheren Schwerpunkt oder die immer umfangreichere Airbag-Ausstattung finden in den Pkw-Versuchen keine angemessene Berücksichtigung. Die Tests müssen von den Leitplankenherstellern schließlich mit völlig veralteten Autos aus den 80er- und 90er-Jahren durchgeführt werden.

Leitplanke
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Je nach Anprallwinkel stellt sich der Kleinwagen unterschiedlich stark auf. Auch hier drohen Überschläge.

Tests mit aktuellen Autos

Die Unfallforscher der Versicherungen haben daher eigene Crashtests mit moderneren Autos durchgeführt. So wurde ein 2,1 Tonnen schwerer SUV gecrasht, ebenso ein 1,2 Tonnen schwerer Kleinwagen – teils mit unerfreulichem Ergebnis: Beim Aufprall des Kleinwagens gegen eine Metallleitplanke löste der Airbag so spät aus, dass der Kopf des Fahrers ihn verfehlte. Bei einem ähnlichen Aufprall gegen eine Betonschutzwand durchschlug der Kopf sogar die Seitenscheibe – ebenfalls am Airbag vorbei. Der schwere SUV wiederum verbog die Leitplanke um mehr als 1,5 Meter, was in manchen Verkehrssituationen zum Aufprall auf dahinter befindliche harte Objekte führen kann.

Leitplanke
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Ein schwerer und hoher SUV wird von einer Leitplanke häufig nicht aufgehalten.

Mit ihren Crashtests konnten die Versicherer zudem belegen, dass sich die Aufprallfolgen über Computersimulationen sehr präzise vorhersagen lassen. Dies führt zur Möglichkeit, teure Crashtests zu sparen und die Wirksamkeit der Schutzeinrichtungen stattdessen unter vielen verschiedenen Geschwindigkeiten und Aufprallwinkeln durchzurechnen. Die Simulationen ergaben beispielsweise, dass eine Leitplanke einen schweren SUV nicht aufhalten kann, wenn sie nicht hoch genug ist. Darüber hinaus droht Autos, die in sehr spitzem Winkel gegen eine Betonbarriere prallen, ein Überschlag.

Die Berechnungen lassen zudem Aussagen über die Belastung der Köpfe von Insassen zu – eine für die Abschätzung der Unfallschwere äußerst wichtige Angabe, die in den bisherigen Tests nicht korrekt erfasst wird, da keine Insassendummys vorgeschrieben sind. Nur so kann jedoch das Auslöseverhalten eines Airbags nach einem Leitplankenkontakt optimiert werden. Was die Simulationen ebenfalls nahelegen: Heutige Fahrzeuge mit stabilen Fahrgastzellen und mehreren Airbags schützen ihre Insassen so gut, dass eine Leitplanke ruhig härter gebaut sein darf, um ein Überfahren zu verhindern.

"Verletzungen könnten geringer ausfallen"

Siegfried Brockmann
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Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

Fragen an Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

Wie sind Sie auf die Thematik aufmerksam geworden?

Wir hatten einige Fälle, bei denen sich Fahrzeuge nach Kollision mit der Schutzeinrichtung überschlugen bzw. darüber hinweg"flogen". Autos und Kleintransporter sind ja in den letzten Jahren immer größer und schwerer geworden. Da stellte sich natürlich die Frage, ob bei den Anforderungen an Schutzeinrichtungen nachjustiert werden muss.

Lässt sich sagen, wie viele Verletzte oder Todesopfer durch bessere Leitplanken verhindert werden könnten?

Die amtliche Verkehrsunfallstatistik gibt uns leider nur rudimentäre Angaben. In der Studie wurde aber festgestellt, dass in etwa jedem zehnten Fall Schutzplanken über- oder unterfahren oder durchbrochen wurden und es bei Schutzwandanprall bei mindestens jedem zehnten Anprall zum Überschlag kam. Ich schätze daher grob, dass bei jedem zehnten Unfall mit Anprall gegen eine Schutzeinrichtung die Verletzungen zumindest geringer hätten ausfallen können.

An wen richten sich Ihre Forderungen?

Die Forderungen richten sich in erster Linie an die Normungs- und Genehmigungsbehörden, aber auch an die Straßenbaulastträger, welche die Entscheidungen für den konkreten Einsatz der Systeme treffen. Am Rande hat sich aber auch gezeigt, dass auch Fahrzeughersteller die typischen Anprallsituationen gegen Schutzeinrichtungen bei der Auslegung von Crash-Strukturen und der Auslösung von Insassenschutzsystemen wie Airbags stärker berücksichtigen sollten.

Erwarten Sie, dass der Gesetzgeber Ihre Anregungen rasch umsetzen wird?

Aus Erfahrung mit anderen Themen weiß ich, dass das jedenfalls nicht kurzfristig sein wird. Es kommt nun darauf an, dass die Normungsgremien sich der Sache annehmen. Wir haben ja auch gesagt, dass man nicht alles testen muss wie bisher. Mithilfe numerischer Simulation könnte man in vielen Fällen kostengünstiger und schneller die Systeme optimieren.

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Fazit

Die gute alte Leitplanke könnte noch mehr Leben retten und vor mehr Verletzungen schützen, wenn man sie klüger konstruieren würde. Die Unfallforscher der Versicherer richten sich daher mit konkreten Forderungen an den Gesetzgeber. Die wichtigste: Die Crashtests sollten endlich mit moderneren Fahrzeugen durchgeführt werden. Zudem müssen die Tests auch Kopfbelastungen der Insassen erfassen.

Darüber hinaus sollten möglichst viele Unfallszenarien über Computersimulationen nachgestellt werden. Dies verringert nicht nur Aufwand und Kosten. Verändert sich die Fahrzeugflotte in den nächsten Jahren noch weiter, etwa durch mehr Elektroautos oder Plug-in-Hybride, ließen sich die Tests schnell nachjustieren. Auch das Zusammenspiel aus Schutzplanke und Airbags kann auf diese Weise optimiert werden. Bleibt zu hoffen, dass die graue, unscheinbare Planke zumindest vom Gesetzgeber bald mehr Beachtung erhält.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

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