Fahrrad-Infrastruktur in Deutschland
Der große Fahrrad-Städtereport

In der Pandemie meiden viele Pendler den ÖPNV und bevorzugen das eigene Auto oder steigen auf das Rad. Doch in welchen Städten klappt das Zusammenspiel zwischen den Verkehrsteilnehmern bereits – und wo noch nicht? Ein Blick auf die Landkarte.

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Foto: Shutterstock/Peter Varga

Stadtgetümmel, morgendlicher Pendlerverkehr. Mittendrin: ein Pedelec-Fahrer. Vorbildlich fährt er auf dem Radweg am rechten Fahrbahnrand. Doch vor ihm kommt ein Zweirad ohne E-Motor nicht wirklich vom Fleck. Zum Überholen ist der Radweg zu schmal. Nur kurz auf die Autospur, denkt er sich. Plötzlich Hupen, Reifen quietschen, Stille – das war knapp. Der Notbremsassistent eines dicht dahinter fahrenden Pkw verhinderte Schlimmeres.

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Ein Schreckmoment für beide Seiten. Und das, obwohl sich beide Verkehrsteilnehmer so weit wie eben möglich die ihnen zur Verfügung stehende Infrastruktur teilten. Leider kein Einzelfall. Nicht immer enden Situationen wie diese, die ein User im Rahmen einer Umfrage auf dem Instagram-Kanal von auto motor und sport schilderte, so glimpflich.

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Die fünf am besten (gelb) und am schlechtesten (rot) bewerteten Großstädte.

Häufig zu wenig Platz

Laut Destatis hat sich die Zahl der Pedelec-Unfälle im ersten Halbjahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent erhöht. Ein Problem, das auch Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, erkannt hat: "Wir müssen uns der Herausforderung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten stellen – auch auf Radwegen gibt es nicht mehr nur die eine Geschwindigkeit." Die Teilnehmer des Fahrradklima-Tests ziehen ein ähnliches Fazit: Neben der zu geringen Breite der Radwege für problemloses Überholen (Note 4,7)* bewerten sie außerdem die sichere Führung an Baustellen (4,7) als mangelhaft. Beides hat zur Folge, dass Radler an genannten Stellen auf die Pkw-Spur ausweichen und dort bei Autofahrern für reichlich Schweißperlen auf der Stirn sorgen. Keine Dauerlösung! Was also dagegen tun?

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Karlsruhe festigt zum wiederholten Mal seine Spitzenposition unter den Großstädten ab 200.000 Einwohner. Außer Dresden und Bremen haben sich alle Großstädte über 500.000 Einwohner gegenüber 2018 verbessert.

In Nordhorn scheint man eine Lösung gefunden zu haben: Separieren lautet die Antwort. Heißt konkret: Während sich Radfahrer im "roten Netz" den Platz mit Autofahrern weiterhin teilen müssen, stellt ihnen die Stadt mit dem "grünen" Pendant ein für den Radverkehr ausgearbeitetes Wegenetz abseits der Hauptverkehrsstraßen zur Verfügung. Eine spezielle Stadtstruktur macht es möglich: "Man war hier eng mit der Textilindustrie verwoben, da brauchte man viel Wasser. Daher gibt es viele Kanäle", erklärt Thimo Weitemeier, Stadtbaurat in Nordhorn.

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Zentrales und verbindendes Element zugleich: das „grüne Netz“ in Nordhorn. Abseits der Hauptverkehrsstraßen bildet es das Rückgrat der Rad-Infrastruktur.

Entlang dieser Wasserstraßen platzierte die Stadt das baulich vom Pkw-Verkehr getrennte "grüne Netz" – und berücksichtigt das System auch bei zukünftigen Baumaßnahmen. Dabei sollen Auto- und Radverkehr nach Möglichkeit schon im jeweiligen Wohngebiet getrennt werden, um durchgängig ein hohes Sicherheitsniveau zu erreichen. In der Praxis sieht das dann so aus: Der Radverkehr wird in Richtung Zentrum organisiert, wohingegen die Pkw-Ausfahrt in entgegengesetzter Richtung angeordnet wird. Allen voran Kinder nutzen das "grüne Netz" auf dem Weg zur Schule. Das beruhigt auch die Autofahrer. "Wir versuchen nicht, das eine gegen das andere auszuspielen. Am sichersten ist man im getrennten Netz unterwegs. So entlastet man auch die Autofahrer", stellt Weitemeier klar. Die Zahlen des Fahrradklima-Tests geben ihm recht. Die Kategorie "Konflikte mit Kfz" bewerten die Anwohner vor Ort mit 3,0. Zum Vergleich: Der Mittelwert bei Städten zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern liegt mit 4,26 deutlich darüber. Auch das Fahrrad- und Verkehrsklima erhält die ordentliche Note 2,1. Mit ein Grund, weshalb die Stadt in ihrer Kategorie den ersten Platz belegt – es geht doch!

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Göttingen und Nordhorn belegen die obersten Plätze bei den Städten mit 100.000 bis 200.000 beziehungsweise 50.000 bis 100.000 Einwohnern.

Lösung: breitere Radwege?

Doch natürlich eignet sich nicht jede Stadtstruktur für ein derartiges Netzkonzept. Alternativ können neue, breite Radwege für mehr Sicherheit sorgen. So geschehen in Frankfurt am Main. Verkehrsdezernent Klaus Oesterling erklärt: "Wir haben neue Fahrradwege auf Hauptverkehrsstraßen geschaffen, die nach holländischem Vorbild rot eingefärbt wurden."

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Rainer Rueffer
Nur noch zwei statt bisher vier: Autofahrer mussten auf der Friedberger Landstraße in Frankfurt je Richtung eine Spur an die Radfahrer abgeben.

Die Wege nehmen natürlich reichlich Platz im ohnehin schon begrenzten Raum in Anspruch, doch erste Umfragen kommen zu einem positiven Fazit: Mehr als die Hälfte der Anwohner einer betroffenen Straße begrüßt den neuen Radweg. Immerhin 14 Prozent geben an, nun weniger mit dem Auto zu fahren. Die Folge: weniger Verkehr, was auch den Autopendlern aus dem Umland zugutekommt, die berufsbedingt nicht auf den eigenen Pkw verzichten können.

Schon jetzt beurteilen die Frankfurter das Radverkehrsnetz daher mit der Note 2,5. Damit sie sich künftig noch besser orientieren können, will Oesterling außerdem deutlich mehr Schilder aufstellen: "Zukünftig werden wir in ganz Frankfurt mit mehreren Tausend Wegweisern die Radwege flächendeckend beschildern." Ein Projekt, von dem auch Autofahrer profitieren – denn planlos umherfahrende Radfahrer auf den Autospuren lassen die Unfallzahlen weiter steigen und sorgen für Ärger. Dabei wäre mehr Rücksichtnahme gerade jetzt so wichtig, macht Oesterling klar: "Wir brauchen ein entspannteres Verhältnis der Verkehrsteilnehmer unter- und miteinander. Vor allem während Corona, wo es mehr Menschen wieder ins Auto und auf das Fahrrad gezogen hat."

Durch biegsame Poller geschützter Radfahrstreifen in der Holzmarktstraße in Berlin Mitte Am Ende d
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In der laufenden Legislaturperiode stehen in Berlin 200 Millionen Euro für den Radverkehr zur Verfügung, die die Stadt unter anderem in Protected Bike Lanes – hier zu sehen auf der Holzmarktstraße – investiert .

Stichwort Corona: Der Sonderpreis als Großstadt, die seit Beginn der Pandemie am meisten für den Radverkehr getan hat, geht in diesem Jahr nach Berlin. 80 Prozent der Befragten sahen in der Hauptstadt "handfeste Signale für mehr Fahrradfreundlichkeit". Gemeint sind damit unter anderem Fahrradstraßen, verkehrsberuhigte Zonen oder die Einrichtung der viel diskutierten Pop-up-Radwege: "Im vergangenen Jahr sind kurzfristig 27 Kilometer Pop-up-Radwege hinzugekommen", heißt es aus der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz in Berlin. Die Stadt meldete auf den improvisierten Strecken bis zu 250 Prozent mehr Radfahrende als im Vergleichsmonat des Vorjahres.

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Flo
In Eindhoven zeigen Kästen an, ob Radler bei gleichbleibendem Tempo die Grünphase der nächsten Ampel erreichen.

Gleichzeitig entflammte eine Debatte über die teilweise irreführende Kommunikation und deutliche Sicherheitsmängel. Denn kaum erreichen die neuen Wege Einmündungen und Kreuzungen, wird es für beide Seiten wieder so gefährlich wie zuvor. Nach einem tödlichen Unfall auf einem dieser Wege sprach Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, von der Gefahr einer "Scheinsicherheit". Der Experte warnte vor einem gewachsenen Leichtsinn der Radfahrer, aus dem höhere Geschwindigkeiten an den Gefahrenstellen resultieren würden. Geplant sind deshalb künftig auch geschützte Radfahrstreifen – Protected Bike Lanes genannt: "Für das Radverkehrsnetz werden wir an allen Hauptverkehrsstraßen Berlins bis 2030 möglichst separierte Radfahrstreifen einrichten", teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit.

Spitzenreiter Karlsruhe

Ein paar Schritte weiter ist man schon in Karlsruhe. Die Fächerstadt steht zum wiederholten Mal beim Fahrradklima-Test ganz oben. So dürfen sich die Badener nicht nur als Entdecker des Fahrrads – bereits Karl Drais, der Erfinder des Urfahrrads, stammte aus Karlsruhe –, sondern auch als fahrradfreundlichste Großstadt Deutschlands bezeichnen: "Karlsruhe läuft Münster gerade den Rang als Fahrradstadt Nummer eins ab", beurteilt Rebecca Peters, Vize-Bundesvorsitzende des Fahrradclubs ADFC, das Ergebnis.

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Stadt Karlsruhe
Die Fahrradstation Süd in Karlsruhe bietet Stellplätze für mehr als 600 Zweiräder.

Und das liegt nicht nur an der für Radfahrer angenehm flachen Rheinebene: Die Teilnehmer bewerten sowohl die gesamte Rad-Infrastruktur (2,1) mit Fahrradstraßen als auch die unkomplizierte Erreichbarkeit des Stadtzentrums (1,9) als überdurchschnittlich positiv. Auch das Angebot an öffentlichen Fahrrädern scheint mehr als ausreichend zu sein (2,1). Das ist insofern interessant, als Karlsruhe bereits als die Carsharing-Hauptstadt in Deutschland gilt. So macht es den Teilnehmern der Umfrage in Karlsruhe nicht nur deutlich mehr Spaß als Stress, durch die Stadt zu fahren, auch das Konfliktpotenzial mit Autofahrern liegt dank einer für beide Seiten ordentlich ausgebauten Infrastruktur deutlich unter dem bundesweiten Schnitt – so sollte es sein!

Außer für die baulichen Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, von der am Ende beide Seiten profitieren sollen, plädiert Helmut Dedy vor allem weiterhin für mehr Verständnis füreinander: "Gegenseitige Rücksichtnahme ist für alle Verkehrsteilnehmer wichtig und schafft mehr Sicherheit." Auch das Bundesverkehrsministerium kommt zu diesem Schluss – und fördert deshalb Mobilitätserziehung von klein auf. Im gemeinsamen Projekt "MoBild" von Humboldt-Universität und TU Berlin sollen Kinder und Jugendliche neben der Vermittlung von Verkehrsregeln lernen, selbstbestimmt Mobilitätsentscheidungen zu treffen.

Mit Erfolg? Das werden die Ergebnisse künftiger Fahrradklima-Tests erst noch zeigen. Bis dahin müssen schlüssige Lösungen folgen, die weder den Auto- noch den Fahrradverkehr aus der lebendigen Stadt vertreiben. Aber wir wissen ja jetzt, wie diese aussehen können.

Mindestens eine Radlänge Vorsprung

Ein schwebender Verkehrskreisel, ein selbstleuchtender Radweg und eine über 200 Meter lange Fahrradschlange – ein Blick über die Landesgrenzen hinweg macht deutlich: Was in Deutschland zukünftig erst noch entstehen muss, gehört bei europäischen Nachbarn schon lange zum Stadtbild.

Schwebender Kreisel

Hovenring eine Art Kreisverkehr Brücke für Zweiräder und Fußgänger über einer verkehrsstarken Stra
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Aufgehängt mit 25 Abspannseilen an einem 70 Meter hohen Pylon, gilt der Hovenring in Eindhoven als der weltweit erste schwebende Kreisverkehr für Radfahrer. Elf Millionen Euro hat das Bauwerk gekostet, das seit seiner Eröffnung im Sommer 2012 täglich bis zu 5.000 Radfahrer – räumlich von der darunterliegenden Pkw-Kreuzung getrennt – befahren.

Selbstleuchtender Radweg

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STABG

Um die Sicherheit auf nächtlichen Radwegen zu erhöhen, haben polnische Wissenschaftler einen Asphalt entwickelt, der im Dunkeln blau leuchtet. Auf einer etwa 100 Meter langen Teststrecke in der Kreisstadt Lidzbark Warmiński kommt der Belag bereits seit einigen Jahren zum Einsatz. Dank seiner fluoreszierenden Oberfläche speichert der Belag tagsüber Energie und emittiert diese nachts in Form von Licht. Der Splitt leuchtet also komplett ohne Strom – und das bis zu zehn Stunden in der Nacht. Damit eignet sich das Material auch für Radwege in bislang unbebauten Natur- oder Tierschutzgebieten, in denen keine elektrische Beleuchtung erlaubt ist.

Fahrradschlange Kopenhagen

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Sie ist knapp 220 Meter lang, vier Meter breit und 5,1 Millionen Euro teuer: Die Cykelslangen – zu Deutsch: Fahrradschlange – ist eine für den Radverkehr gebaute Brücke, die sich in bis zu sechs Metern Höhe über das innere Hafenbecken Kopenhagens schlängelt. 2014 eingeweiht, trennt die Cykelslangen seither nicht nur den Auto- vom Radverkehr, sondern Letzteren auch von den Fußgängern. Der Weg – mit orange eingefärbtem Quarzsand versehen – soll auch bei Nässe für reichlich Rutschfestigkeit sorgen. Eine integrierte Beleuchtung macht das Befahren der Brücke auch bei Nacht möglich. Etwa 9.000 Radfahrer nutzen die Verbindung täglich.