Mercedes-AMG One
1.063 PS treffen auf 1.695 kg

AMG bringt mit dem Hyper-Hybrid One einen aktuellen Formel 1-Antrieb auf die Straße.

Mercedes-AMG ONE
Foto: Mercedes-AMG

Okay, von irgendeiner britischen Bastelbude hätten wir so etwas erwartet, nicht aber von einem bierernsten Großkonzern wie Daimler. Doch nach drei Jahren absoluter Dominanz in der Motorsport-Königsklasse kannte man 2017 in Affalterbach offenbar keine Grenzen mehr und beschloss, eine aktuelle Formel 1-Maschine zu nehmen und drumherum ein Hypercar zu konstruieren. Straßentauglich. Project One war geboren. Dann aber passierte lange erst einmal nichts. Weil das mit der strengen Euro 6d-Abgasnorm nicht so klappen wollte. Weil der 1,6-Liter-V6 auch mit handelsüblichem Super Plus statt bloß mit renntauglichem Spezial-Sprit laufen sollte. Weil für den Motorstart natürlich nicht immer eine Horde mit Laptops bewaffneter Ingenieure anrücken kann, sondern dafür ein Knopfdruck wie in jeder Serien-C-Klasse genügen muss.

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Verglichen mit dem Monoposto-Boliden aus Brackley ist der Einstieg in den 1.256 Millimeter flachen One (das "Project" wurde irgendwann gestrichen) geradezu entspannt. Das motorsportartig aussehende Lenkrad (mit Airbag!) surrt dir elektrisch entgegen, genauso die Pedalerie, allerdings mechanisch. So hockst du da, in einer mit wenigen Polstern ausstaffierten Mulde, integriert ins Carbon-Monocoque, und drückst den Startknopf.

Beim Vorstart: Kats heizen

Doch ehe die M101 genannte Maschine anspringen darf, müssen vier Metallkats mit 16 kW Leistung auf etwa 500 Grad vorgeheizt werden, um die Abgase des Sechszylinder-Turbos ab der ersten Kurbelwellenumdrehung effektiv reinigen zu können. Euro 6d, Sie erinnern sich. Bis dahin darfst du schon mal elektrisch losfahren oder vertreibst dir die Zeit beim Zappen durch die Touchscreen-Menüs. Losfahren? Elektrisch? Richtig, denn allein mit den 574 PS der F1-Maschine hätte der One bereits auf dem Papier alt ausgesehen. Im Vergleich mit anderen Hypercars erst recht. Also musste neben MGU-H (E-Motor des Abgasturboladers, 90 kW) und MGU-K (E-Maschine an der Kurbelwelle, 120 kW) mehr von dem Elektrogedöns her. Und so bekam das 4.828 Millimeter lange Hypercar zwei je 120 kW starke Synchronmaschinen nebst Getrieben an die Vorderachse. Stromversorgt von einem direktgekühlten 8,4-kWh-Akku mit 800 Volt Spannung, den du per Kabel in mehreren Stunden oder via Verbrenner auf zwei Nürburgring-Runden wieder aufladen kannst. Macht summa summarum Gewicht. Vollgetankt, ohne Fahrer.

Die Knöpfe und Touch-Tasten am Lenkrad für Multimedia (ja, so etwas gibt's hier auch) und andere Spielereien sind bekannt, genauso wie die Fahrmodi-Regler. Ein paar Klicks und das Strat 2-Programm liegt an, im Fahrerlager auch Party-Modus genannt, mit dem Hamilton und Kollege Bottas vor ein paar Jahren für die superschnelle Quali-Runde die letzten Reserven aus ihrem F1-Hybridantrieb pressten. Den musst du im One mit der rechten Schaltwippe bestätigen, bis die Karosserie abgesenkt ist (vorn 37 mm, hinten 30 mm), der Doppelheckflügel steil steht, die Louvers auf den Radhäusern ausklappen.

Jetzt springt auch der Verbrenner an, klingt bei Leerlaufdrehzahl nach irgendwas zwischen kurz vor Motorschaden und rasselndem Mähdrescher. Ein weiterer Zug an der rechten Lenkradwippe, klack, erster Gang. Kurze Skepsis: Wir schalten automatisiert, weil ein Doppelkuppler trotz des langen Hecks nicht mehr reingepasst hätte. Jetzt aber los, die 55 Liter Super Plus nicht verkommen lassen. Extra für den One hat Michelin ganz spezielle Pilot Cup 2 R (MO1) gebacken. Selbe Dimension wie für den GT Black Series, hier aber so konstruiert, dass das höhere Fahrzeuggewicht, der extreme Abtrieb und eine Vmax von 352 km/h möglich sind, ohne dass das Gummi gleich in Fetzen fliegt.

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Letzte Worte von Mercedes-Legende Bernd Schneider.

Ohne Wanken, kaum Nicken

Auffällig nach bloß zwei, drei Kurven: Der One bewegt sich nicht. Okay, er lenkt schon, und das sehr unaufgeregt und fein, mit kleinen Winkeln. Aber das Wanken und Nicken wurde ihm quasi abgewöhnt, dank extrem steifer Fahrzeugstruktur und liegender Feder-Dämpfer-Elemente (Push-rod) rundum, ohne Querstabis. Das merkst du besonders beim Umsetzen, zum Beispiel aus der AMG-Arena heraus oder im Schumacher-S. Einfach zurücklenken und der kurvenäußere 285er-Semislick vorn klinkt sich wieder ein, der Aufbau folgt prompt, ohne spürbare Verzögerung.

Apropos, so langsam wäre ein Tritt aufs Bremspedal angebracht, denn mit den angezeigten 250 km/h kommen wir nicht heile durch die Goodyear-Kehre. Einmal die linke Wade angespannt, zweimal an der Schaltwippe gezupft und im Nu sind mit den gelochten Carbon-Keramik-Bremsscheiben (vorn: 398 mm, hinten: 380 mm Durchmesser) über 150 km/h abgebaut, schiebt der One durch die leicht überhöhte 180-Grad-Rechts. Großartig, wie ruhig das Hypercar beim Bremsen bleibt, weil das ABS im Trockenen fein regelt, die Kräfte trotz der leicht schmutzigen Anbremszone perfekt verteilt werden. Allerdings ist das Pedal recht weich, erinnert mehr an einen Sport-, denn an einen Rennwagen. Ein Tribut an die rekuperierende Hybridtechnik.

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Hydraulisch ausfahrbare Flügel, Doppeldiffusor und große Gitter für die Motorraum-Entlüftung.

Am Kurvenausgang hilft das Heck ganz leicht schlupfend mit, den One früher gerade zu stellen, obwohl der Reifenfülldruck vorn inzwischen auf 2,6 bar angestiegen ist, das Fahrzeug bei engeren Radien stärker untersteuert. Optimal wären 2,1 bar. Zweiter Gang, sechstausend Touren und leicht ans Gas. Vorzeitig Drehmoment nachkippen brauchst du hier nicht, weil die MGU-H schon dann an der Welle zwischen Turbine und Verdichter dreht, wenn noch gar kein Abgasstrom anliegt, die MGU-K zusätzlichen Boost an der Kurbelwelle liefert. Klingt alles ziemlich kompliziert, ist es auch, merkst du aber nicht. Was du spürst, ist Schub. Unmittelbar. Brachial. Immer. Leider kannst du‘s im Auto niemandem erzählen, denn in der gar nicht mal so engen Kanzel ist es lauter als bei Wacken in der ersten Reihe.

Aber Lärm ist auch das hier nicht, eher ein Konzert, mit bis zu 11.000 Umdrehungen. Elftausend! Die F1-Maschine im Monoposto darf sogar 4.000 Touren höher drehen, kann aber auch öfter zur Revision. Im One dagegen soll der M101 immerhin 50.000 km halten. Also, kurz durchladen, warten, bis die LEDs im Lenkrad von grün (ab 9.000 /min) über rot (9.500 /min) auf blau (ab 10.000 /min) springen, dann Wippe ziehen und feststellen, dass so ein Doppelkuppler schon besser gewesen wäre. Das ASG schaltet zwar schnell, aber eben mit Unterbrechung, und die kannst du speziell am Kurvenausgang mit noch etwas Lenkwinkel nicht gebrauchen. Okay, man könnte ob des enormen Elektro-Schubs auch einen Gang höher fahren, doch dann würde wiederum Leistung fehlen, weil das mit 3,5 bar Maximaldruck aufgeladene Maschinchen hinterm Hintern gedreht werden will. Doch das ist Klagen auf hohem Niveau und – anders als wir das von Getrieben dieser Art in anderen Sportlern gewohnt waren – bringt der Schaltvorgang keine Unruhe ins Auto. Immerhin.

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Das Cockpit des Mercedes-AMG One.

Also, dritter Gang. Schub. Vierter. Im Schumacher-S gehen wohl Sekunden verloren, weil der extrem hohe Abtrieb in Kurven erst einmal surreal ist (liegt über dem des AMG GT3-Rennwagens), du dich an das Aero-Potenzial des One mit all seinem Flügel- und Diffusorwerk drauf und drunter erst gewöhnen musst, bevor du es ausreizen kannst. Auch der schnelle Advan-Bogen ginge natürlich voll, riskierst du aber nicht, knapp 280 km/h vor der Veedol-Schikane sind auch trotz Gaslupfer genug. Ein paar Kilometer weiter aber, in die Ford-Kurve hinein, da bist du plötzlich eins mit dem Auto. Spät auf der Bremse, hohes Kurveneingangstempo, mit leichtem Zwischwenspurt-Slide am Ausgang und sauber in die Rechts, bevor es wieder runter nach Müllenbach geht. Noch einmal den Zweiten und Dritten ausdrehen, bis elftausend, wobei der V6 ab etwa 9.500 /min in eine ganz neue, hellere Tonfrequenz wechselt. Und dann hast du immer noch 1.500 Umdrehungen übrig. Herrlich.

Luft raus, Strom alle

Große Irritation auf der Start-Ziel-Geraden, weil der Einssechser nur noch zäh nach oben dreht, als wäre die Luft raus, der Turbo abgeraucht. Oder der Strom alle. Tatsächlich, der Akku ist leer, bis auf das letzte Wattstündchen. Genau so ist der Strat 2-Modus angelegt, voller Leistungsabruf über eine Runde auf allen gängigen F1-Strecken. Ohne Rekuperation, alles für die Bestzeit. Die darf ich heute nicht setzen, doch die handgestoppten 2:03 min auf der spontanen Taxirunde mit Bernd Schneider am Steuer (alte Reifen, 70 kg Ballast auf dem Beifahrersitz) zeigt das Potenzial des Hyper-Hybrid. Ein rund 400 kg leichterer AMG GT3 mit Maro Engel hinterm Steuer schaffte an selber Stelle im Qualifying der GT World Challenge 2021 eine 1:54,6 min. Auf Slicks.

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Der Sitz ist fix. Dafür kommt dir die Pedalbox per Hebelzug entgegen.

Doch Zahlen sind nicht alles beim One, der in ein paar Wochen das erste Mal in eine Privatgarage rollen wird. In Deutschland. Es gibt sicher schnellere, stärkere, auch teurere Hypercars. Doch nur der One hat einen modernen Formel 1-Antrieb. Das gab es noch nie und wird es höchstwahrscheinlich auch nie wieder geben. Ein technisches Meisterwerk, das übrigens aus Großbritannien kommt. Nicht aus einer Bastelbude, sondern aus der Kleinstserienfertigung von Multimatic, einem kanadischen Kohlefaser-Spezialisten, der schon Ikonen wie den Ford GT und den Valkyrie von Aston Martin aus der Taufe hob.

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Fazit

Auf die Idee musst du erst einmal kommen, einen aktuellen, extrem komplexen Formel-1-Antrieb auf die Straße zu bringen. AMG hat’s gemacht und mit dem One einen Hyper-Hybrid kreiert, der zwar extrem ist, sich aber so einfach fährt wie jede C-Klasse – nur eben verdammt viel schneller. Und lauter. Die Kombi aus extremer Sitzposition, aerodynamischem Grip und 11.000 Kurbelwellenumdrehungen ist einzigartig und macht den One schon jetzt zur Legende.

Technische Daten
Mercedes AMG One
Grundpreis2.750.000 €
Hubraum / Motor1599 cm³ / 6-Zylinder
Höchstgeschwindigkeit352 km/h
Die aktuelle Ausgabe
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

148 Seiten