McLaren-Teamchef Andrea Stella im Interview
„Budgetdeckel passt wie ein Maßanzug“

McLaren hat mitten in der Saison 2023 eine Wende geschafft, die man nicht für möglich hielt. Teamchef Andrea Stella verrät, was McLaren anders macht, was noch zu Red Bull fehlt und warum diese Autos so komplex sind.

Andrea Stella - GP Ungarn 2023
Foto: Wilhelm

Sie haben vor der Saison 2023 die Entwicklungsrichtung des Autos geändert. Mit wie viel Risiko war das verbunden?

Stella: Da gibt es zwei unterschiedliche Blickwinkel. Der eine ist die Entwicklung, der andere die Änderungen in der Struktur unserer Arbeitsprozesse. Beginnen wir mit der Entwicklung. Wir haben im Winter entschieden, mit dem Unterboden eine andere Richtung einzuschlagen, weil wir bei Windkanalversuchen festgestellt haben, dass wir mit dem alten Konzept in eine Sackgasse laufen. Das Grundkonzept des neuen Bodens wurde in Baku eingeführt. Es war zu spät, es zum Saisonbeginn zu tun, weil du den Boden für das erste Rennen dafür schon im Dezember absegnen musst. Noch wichtiger aber war der zweite Punkt.

Unsere Highlights

Welcher?

Stella: Wir haben die technische Organisation geändert. Peter Prodromou hat wieder die Leitung im Aerodynamikbüro übernommen. Er hat dann die Entwicklungsrichtung nicht nur für den Unterboden, sondern für das ganze Auto geändert. Wir haben uns das alte Auto angeschaut und zu uns gesagt: Das braucht eine Radikalkur in vielen Bereichen.

Hat es gereicht, nur die Spitze im Aerodynamikbüro neu zu besetzen?

Stella: Nein, die Änderungen waren viel umgreifender. Es hat die ganze Organisation in dieser Abteilung betroffen. Sie sollte viel effizienter zur Gesamtentwicklung beitragen. Ich kann Ihnen nicht im Detail sagen, was wir gemacht haben, aber es hat unsere ganze Arbeitsstruktur geändert. Das Ergebnis war, dass wir viel schneller entwickeln konnten als vorher. Das Projekt startete im März und hat beim GP Juli Anfang Juli zu einem Totalumbau des Autos geführt. Und noch einmal zwei Monate später hatten wir schon das Singapur-Upgrade am Auto. Zwischen der Version Baku und Singapur steckten vier Monate Arbeit.

Andrea Stella, Lando Norris & Oscar Piastri - GP Japan 2023
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McLaren-Teamchef Andrea Stella mit seinen beiden Piloten. Die Pokalsammlung in Woking ist 2023 ordentlich gewachsen.

Darf man das so übersetzen, dass jetzt die richtigen Leute an den richtigen Stellen sitzen?

Stella: Es ist eine Simplifizierung dessen, was passiert ist. Es geht auch darum, viele Entwicklungsrichtungen gleichzeitig zu verfolgen und sie dann zu kanalisieren. Wir haben genügend hervorragend ausgebildete Leute, um die Entwicklung in viele kleine Spezialdisziplinen aufzuspalten. So haben wir vielen unserer Ingenieure auch eine Perspektive gegeben, weil sie jetzt ihren speziellen Bereich leiten.

McLaren hat aggressiv mit vielen Upgrades über die Saison entwickelt. Wie schwierig war es für die Designabteilung und die Produktion, mit diesem Tempo Schritt zu halten?

Stella: Es war sicher Druck da. Aber wir haben schon früher solche Projekte gestemmt. Der Unterschied zu damals ist, dass wir es heute effizienter machen. Wir haben die Arbeitsschritte optimiert, uns gefragt: Wo waren wir schnell, wo zu langsam, wo gab es überflüssige Schleifen, wo hat die Zusammenarbeit zwischen Abteilungen nicht funktioniert? Früher haben wir die Bälle von einem Bereich in den anderen geschossen. Da blieben sie dann, bis sie weiter geschossen wurden. Diesen sequenziellen Prozess haben wir aufgelöst und mehr parallele Schritte eingeführt.

Wenn man sich die Liste der neuen Teile anschaut, die McLaren in der abgelaufenen Saison ans Auto gebracht hat, dann fragt man sich: Wie ist das möglich innerhalb des Budgetdeckels? Mussten Sie an anderen Stellen etwas opfern?

Stella: Wir mussten nichts opfern. Wenn wir uns die Upgrades mal genau anschauen, dann gab es diesen neuen Boden in Baku und danach zwei große Entwicklungsschritte in Österreich und Singapur. Das passte genau in das Budget, das wir vor der Saison für unsere Entwicklung bereitgestellt hatten. Tatsächlich war sogar noch etwas Geld übrig, dass wir in Las Vegas in Modifikationen am Heckflügel gesteckt haben. Es ging darum, den Luftwiderstand für schnellen Strecke zu reduzieren. Wir hatten in Spa Probleme damit, hatten dann für Monza einen Schnellschuss und für Las Vegas dann etwas Ausgefeilteres.

Red Bull - Formel-1-Test - Bahrain - 25. Februar 2023
ams

Zu Saisonbeginn lief bei McLaren noch nicht viel zusammen.

Muss man sich beim Budget entscheiden zwischen mehr Angestellten oder mehr Teilen?

Stella: Die zwei Hauptposten im Budget sind die Ausgaben für Arbeit und für Teile. Die teilen sich wiederum in den Bau des Autos und dann die Upgrades unter der Saison auf. In Bezug auf die Lohnkosten sind wir gut dabei. Wir zählen nicht zu den größten Teams im Feld. Dafür haben wir durch Kapitalinvestitionen operative Kosten gesenkt. Ein Beispiel ist der neue Windkanal, der es uns erlaubt, neue Teile effektiver zu testen. Der Windkanal ist jetzt bei uns im Haus. Wir müssen die Testabteilung nicht mehr nach Köln zu Toyota auslagern. Das spart uns einige Millionen. Bis jetzt sind wir noch nicht dazu gezwungen worden, die Personalkosten zu senken, um mehr Upgrades zu haben. Der aktuelle Budgetdeckel passt uns wie ein Maßanzug.

Wie weit waren Sie nach Ihrer eigenen Kalkulation zu Saisonbeginn und zu Saisonende von Red Bull weg?

Stella: In einigen Qualifikationen waren wir ganz nah dran oder wie in Katar oder Brasilien sogar schneller. Im Rennen fährt uns Red Bull speziell in der zweiten Hälfte der Stints davon. Da sind sie uns zwei bis vier Zehntel voraus. Das müssen wir über den Winter aufholen. Zu Saisonbeginn waren wir eine Sekunde in der Qualifikation und anderthalb Sekunden im Rennen langsamer.

Im Schnitt war Red Bull eine halbe Sekunde pro Runde schneller als 2022. Erwarten Sie nächstes Jahr eine geringere Steigerung und besteht dann die Chance, Red Bull einzuholen?

Stella: Wir sind noch nicht in dem Stadium, in dem sich die Entwicklungskurve abflacht. Ich glaube, dass wir nächstes Jahr noch einmal einen Zeitensprung sehen. Vielleicht wird in der zweiten Saisonhälfte nicht mehr so viel dazukommen. Rückblickend haben uns diese Regeln viele unterschiedliche Geometrien und Entwicklungsrichtungen geboten. Vor 2022 haben uns die meisten Leute erzählt, dass die Autos alle gleich aussehen werden. Diese Prognose war falsch. Ich sehe immer noch Möglichkeiten, Rundenzeit zu finden.

McLaren - F1-Technik - GP Frankreich 2022
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McLaren führte 2023 mehrere größere Umbaumaßnahmen durch - mit Erfolg.

Red Bull war der Konkurrenz mit einer speziellen Architektur von Chassis und Getriebe einen Schritt voraus. Haben das die anderen Teams übersehen?

Stella: Diese Features machen keine Rundenzeit. Sie schenken dir Volumen, das es dir erlaubt, mit der Aerodynamik mehr zu spielen. Du musst immer noch gute Aerodynamikentwicklung betreiben. Red Bull hatte den Weitblick, das Layout des Autos so auszulegen, um daraus mehr zu machen. Es wäre aber ihnen gegenüber unfair zu glauben, dass das die einzigen Trumpfkarten für ihren Erfolg waren. Sie sind schnell, weil sie im Gesamtentwurf, aerodynamisch wie mechanisch, einen besseren Job gemacht haben als alle anderen.

Sie haben erfolgreich fast alle Schwachstellen des Autos abgebaut, ohne die Stärken zu verlieren. Wie schwierig ist das mit diesen Autos?

Stella: Wir haben nicht explizit an den Schwächen des Autos gearbeitet, sondern einfach nur versucht, seine aerodynamische Effizienz zu verbessern. Deshalb beschweren sich unsere Fahrer immer noch über die gleichen Dinge. Es ist immer noch so schwierig zu fahren wie zu Beginn der Saison. Wir sind nur schneller geworden. Je mehr Grip du findest, desto besser wird die Fahrzeugbalance. Erst für nächste Saison werden wir uns spezifisch auf unsere Schwächen fokussieren. Wir konnten sie in dieser Saison nicht lösen, weil wir dafür bestimmte Bereiche des Autos hätten ändern müssen, die nicht zu ändern waren. Das ist etwas für nächstes Jahr.

Das Singapur-Upgrade sollte das Auto in langsamen Kurven schneller machen. Sie waren anfangs nicht zufrieden, doch mit der Zeit wurde es besser, auch ohne Upgrades. Wie war das möglich?

Stella: Wir haben mit dem Gesamtpaket mehr Grip gefunden. Das wirkte sich auf gebrauchten Reifen stärker aus als auf frischen. Auf gebrauchten Reifen geht das Auto relativ zu vorher besser durch langsame Kurven als auf frischen. Wir haben im Renntrim mehr auf Red Bull aufgeholt als in der Qualifikation. In Brasilien haben wir beispielsweise in den Kurven 8, 9 und 10 immer noch signifikant Zeit auf sie verloren. Im Rennen weniger. Das war aber nicht das Ergebnis einer speziellen Entwicklung, sondern einfach der Tatsache geschuldet, dass wir mehr Grip gefunden haben.

Lando Norris & Oscar Piastri - GP Katar 2023
McLaren

In der zweiten Saisonhälfte konnte McLaren ab und zu sogar Red Bull ärgern.

Sind die Groundeffect-Autos schwieriger zu verstehen?

Stella: Schon die Fahrzeuggeneration davor war sehr komplex. Aber aus anderen Gründen. Deshalb haben einige Teams über lange Jahre einen Vorsprung konserviert. Komplexität impliziert, dass es Spielraum gibt, etwas besser zu tun als dein Gegner. In dieser Generation Autos ist der Groundeffect das dominierende Element. Und da spielt sich viel im Bereich von Millimetern ab. Deshalb haben wir Phänomene wie Bouncing oder Bottoming. Deshalb musste die FIA bestimmte Grenzen setzen, wie stark die Autos auf der Straße aufsetzen dürfen, um die Fahrer zu schützen. Aus Sicht eines Ingenieurs sind diese Autos interessant. Das Bouncing ist immer noch nicht weg. Es ist einfach so, dass mit mehr Abtrieb auch wieder das Bouncing kommt, weil das Auto näher zur Straße liegt. Die Kunst ist es, Anpressdruck zu gewinnen, wenn das Auto hoch steht und Instabilität abzubauen, wenn man es tief fährt.

Welche Rolle spielt in Ihrer Analyse der Fahrer? Kann es sein, dass der McLaren so gut wie ein Red Bull ist und Verstappen einfach nur überragend?

Stella: Selbst ein überragender Fahrer, wie es Verstappen gerade ist, kann auch nur das tun, was ihm das Auto erlaubt zu tun. Wir müssen uns sagen: Die Kombination Verstappen und Red Bull ist schneller als wir. Die müssen wir schlagen. Der Red Bull ist gut genug, diese Ergebnisse möglich zu machen. Was wir in den meisten Fällen mit Lando (Norris) und phasenweise auch mit Oscar (Piastri) gesehen haben, war außergewöhnlich. Speziell in der Qualifikation. Aber es ist unmöglich, dass unser Auto, egal mit welchem Fahrer im Cockpit, im zweiten Teil der Stints so schnell wie Red Bull gewesen wäre. Der Red Bull hat die Reifen besser behandelt. Da kann man das Auto vom Fahrer trennen. Wo Verstappen den Unterschied macht ist, dass er diesen extrem hohen Standard immer abliefern kann. Auch unter schwierigsten Umständen. Im Regen in Zandvoort, oder als sich die Bedingungen im Q3 in Brasilien geändert haben. Verstappen zeigt, was dieser Red Bull kann, wenn er mit Perfektion bewegt wird.