Wo stehen die Teams nach dem Le-Mans-Vortest?
Toyota eingebremst, Ferrari freut sich

24h Le Mans 2023

Der Countdown zum 24h-Rennen in Le Mans wurde am vergangenen Wochenende mit der technischen Abnahme und dem Vortest eingeläutet. Das große Thema im Fahrerlager war die neue BOP für die Hypercar-Topklasse, die am vergangenen Mittwoch herauskam. Ändert die BOP etwas an der Hackordnung in der Topklasse?

Ferrari 499P - Le Mans 2023 - Vortest
Foto: xpb

Le Mans feiert 2023 seinen 100. Geburtstag. Das größte und wichtigste Langstreckenrennen der Welt bereitet sich auf ein besonderes Spektakel vor: 300.000 Tickets wurden verkauft, fünf große Hersteller sorgen in der Topklasse für Wirbel, der französische Präsident Emmanuel Macron ist eingeladen, und Basketball-Superstar LeBron James wird die Startflagge schwenken.

Abseits der Boulevard-Themen interessiert die echten Fans vor allem eine Frage: Bekommen wir beim 24h-Rennen einen engen und harten Fight in der Hypercar-Königsklasse geboten? Kann der Neueinsteiger Ferrari den Platzhirsch Toyota unter Druck setzen? Wo steht Peugeot? Und haben die beiden LMDh-Hersteller Porsche und Cadillac eine Chance gegen die in der bisherigen WM-Saison dominierenden LMH-Rennwagen?

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BOP verschiebt Tangenten

Früher gab es erste Richtungsanzeigen für solche Fragen auf der Rennstrecke, und zwar beim Vortest. Auf den kommen wir später noch mal zurück, doch die Wettbewerbsfähigkeit der fünf Hypercar-Marken ist heuer auch eine direkte Ableitung aus der Balance of Performance (BOP). Am 31. Mai verabschiedete die FIA Endurance Commission eine neue BOP für die Hypercar-Klasse.

Das war erwartet worden, doch die Zahlen sorgten schon für Schockwellen: Die zwei GR010 Hybrid von Toyota müssen 37 Kilo zuladen und liegen damit am obersten Limit des Reglementgewichts. Auch Ferrari muss beim 499P Gewicht zuladen, aber nur 24 Kilo, die dritte Hypercar-Marke Peugeot blieb unangetastet. Mit dieser Neueinstufung in der LMH-Fraktion bringt man Ferrari näher an Toyota heran, gleichzeitig bremst man die LMH-Autos in Relation zu den LMDh-Wagen aus der IMSA-Serie ein.

Toyota GR010 Hybrid - Le Mans 2023 - Vortest
xpb
Die neue BOP bestrafte Toyota. Die Japaner müssen 37 Kilogramm in das Auto zuladen.

Die zwei LMDh-Hersteller Cadillac und Porsche müssen zwar auch Gewicht zuladen, aber nur elf bzw. drei Kilogramm. Mit dieser Korrektur bringt man Porsche näher an Cadillac heran. Zehn Kilo sind auf der langen Strecke in Le Mans etwa drei Zehntel. Da die LMDh weniger zuladen müssen, gleicht man auch die beiden Plattformen an: Der Rückstand von Porsche auf Toyota und Ferrari schmilzt damit theoretisch von zwei auf eine Sekunde.

Wie immer, wenn es um die BOP geht, fielen die Reaktionen sehr gemischt aus, diesmal aber aus zwei Gründen: Die Kritiker brachten formale Einwände gegen die BOP-Rochade vor, ebenso wie sportliche. Zunächst die formale Seite: Es gibt eine schriftliche Vereinbarung zum Thema BOP zwischen ACO/FIA und den Herstellern in der Topklasse, wo Grundregeln definiert sind. Das Dokument ist leider – oder besser: ganz bewusst – nicht öffentlich, sondern geheim.

Absprachen ignoriert?

Angeblich steht da erstens drin, dass es vor Le Mans nur eine markenspezifische BOP geben soll, um das ewige Sandbagging zu verhindern. Im Laufe der Saison sei alle zwei Rennen eine Plattform-BOP erlaubt, wo LMDh und LMH aneinander angepasst werden. Was jetzt passiert ist, widerspricht beidem: Die neue BOP ist ganz klar eine markenspezifische Anpassung, die aber auch Auswirkungen auf das Binnenverhältnis von LMH und LMDh hat. Einige Hersteller sagen, das sei gar nicht erlaubt, aber das können wir nicht überprüfen, weil die BOP-Regeln geheim sind.

Schaut man genauer in die Anpassung und die Begründung der BOP, ist etwas anderes auffällig: Hersteller und ACO/FIA hatten verabredet, dass die BOP primär die "Performance-Potenziale" der Fahrzeuge anpasst, nicht die operative Qualität der Einsatzteams, zu denen zum Beispiel Strategie, Boxenstopps, Fahrerqualität oder Reifennutzung gehören. Im Fach-Englisch sind das die Performance-Parameter zweiter Ordnung. Gegenstand der BOP sollten aber primär die Performance-Parameter der ersten Ordnung sein, also das Fahrzeug und seine messbaren Grunddaten wie Gewicht, Schwerpunktlage, Leistung, Abtrieb und Luftwiderstand.

Ferrari 499P - Le Mans 2023
xpb
Ferrari setzte beim Le-Mans-Vortest mit dem 499P die Bestzeit.

Systemwechsel der BOP?

Wie begründen ACO und FIA diesen Systemwechsel bei der Fahrzeugeinstufung? Man habe allen Herstellern in der neuen Topklasse versprochen, dass sie eine Chance haben sollten, wettbewerbsfähig zu sein. Man gibt zu, dass in den ersten drei WM-Rennen die Performance-Unterschiede zwischen den Herstellern und auch zwischen den Plattformen größer gewesen seien als angenommen. Um einen fairen und ausgeglichenen Wettbewerb in Le Mans zu garantieren, sei man daher vom ursprünglichen BOP-Konzept abgewichen.

Diese formalen Aspekte sorgten natürlich für ein ziemliches Erdbeben im Fahrerlager, besonders bei Toyota, denn die Japaner wurden für ihre guten Resultate abgestraft, die aus Toyota-Sicht nicht auf einem Vorteil des Fahrzeuges beruhen, sondern auf den Faktoren Teamqualität und vor allem Reifennutzung. "Für mich sieht das eher wie eine Balance of Results aus, nicht wie eine Balance of Performance", so Toyota-Technikchef Pascal Vasselon.

Womit wir bei den sportlichen Folgen der neuen BOP angekommen sind: Im Prinzip rückt das Feld damit enger zusammen, was den Fans ja nur recht sein kann. Porsche-LMDh-Projektleiter Urs Kuratle rechnet die Konsequenzen durch: Ohne BOP-Anpassung hätte Porsche beim Nettospeed, basierend auf den Daten der ersten drei Rennen in Le Mans etwa acht Zehntel pro Runde auf Cadillac eingebüßt, 1,7 Sekunden auf Ferrari und 2,2 Sekunden auf Toyota.

Nach der BOP-Anpassung liegt man nur noch fünf Zehntel hinter Cadillac, auf die beiden LMH-Platzhirsche Toyota und Ferrari verliert Porsche jetzt etwa eine volle Sekunde pro Runde. Das alles immer unter der Voraussetzung, das keiner der Hersteller bei den Testfahrten seit dem letzten WM-Lauf in Spa einen größeren Sprung gemacht oder in den Rennen aktiv Performance verschleiert hat.

Porsche 963 - Le Mans 2023 - Vortest
Motorsport Images
Porsche hofft dank der BOP-Änderung näher an der Konkurrenz dran zu sein.

"Dieser Schritt war richtig und notwendig, aber es ist halt nur der halbe Schritt", so Kuratle. Der Grund für seine Interpretation: Porsche sei immer noch zu weit weg von Toyota und Ferrari, um aus eigener Kraft in Le Mans um den Sieg kämpfen zu können. Bei einem grünen Rennen ohne Gelbphasen und Probleme würde Porsche nach der BOP-Anpassung laut Simulation im Ziel etwa anderthalb Runden Rückstand haben, ohne BOP-Anpassung wären es drei Runden gewesen. Aus diesem Grund hatte Porsche dafür plädiert, auch eine Anpassung der Leistung vorzunehmen.

Man hätte zum Beispiel den LMDh-Autos zehn bis 20 PS mehr Leistung zugestehen können, dann hätte man zumindest auf dem Papier die Unterschiede zwischen LMH und LMDh fast auf null gestellt. Diesen letzten Schritt wollten ACO und FIA aber nicht mitgehen. "Unter regulären Bedingungen können wir Toyota und Ferrari nicht schlagen, auch nicht mit der neuen BOP", folgert Urs Kuratle.

Intern hat sich Porsche jetzt ein neues Ziel gesetzt, nämlich die konzeptgleichen Cadillac hinter sich zu lassen. Im Cadillac-Lager äußert man sich gar nicht zur BOP, weil das laut sportlichem Reglement der WEC seit diesem Jahr untersagt ist. Diese Regel wird übrigens von allen WM-Teilnehmern als ärgerlich und dumm eingestuft.

Ferrari ist trotz 24 Kilo mehr Gewicht happy. Man habe so vier Zehntel auf Toyota gutgemacht, was eine Verbesserung sei. Ferrari-Sportchef Antonello Coletta gibt allerdings zu bedenken: "Da die meisten Autos der Topklasse noch sehr neu sind, wird in Le Mans die Zuverlässigkeit viel wichtiger sein als der Speed."

Denn in der Tat haben alle Hersteller noch mit kleinen Zipperlein zu kämpfen, was man auch beim Vortest am letzten Wochenende wieder erkennen konnte: Porsche hatte ein Thema mit dem Brake-by-Wire-System, Toyota verlor Testzeit mit einem Elektrikproblem, ein Peugeot blieb auf der Strecke mit einem Hybridthema stehen. Will sagen: Die ganze Debatte um BOP und Rundenzeiten ist zwar verständlich, aber am Ende könnte es in der Tat passieren, dass der Hersteller siegt, der ohne größere Probleme mit einem Auto durchfährt. Und da die Abstände jetzt geringer sind, könnten mehr Hersteller von Problemen der anderen Hersteller profitieren.

Peugeot 9X8 - Le Mans 2023 -  Vortest
Motorsport Images
Peugeot bekam im Gegensatz zur Werks-Konkurrenz keine Zusatzgewichte verschrieben.

Vortest-Zeiten irrelevant?

Sie würden jetzt gerne erfahren, was beim Vortest sportlich passiert ist? Ganz ehrlich: Vergessen Sie es! Für Teams und Fahrer ist der Vortest bedeutsam, weil er die einzige Möglichkeit bietet, vor der Rennwoche auf dem Circuit de 24 Heures zu fahren. Da werden Setup-Einstellungen über- prüft, Aero-Konfigurationen gecheckt, der Reifenverschleiß kontrolliert und Bremsenpakete eingefahren. Die Rundenzeiten sind aber komplett sekundär. Ferrari markierte in der Topklasse die Bestzeit mit 3.29,504 min. – im Vorjahr lag die Qualifying-Zeit in der niederrangigen LMP2-Klasse bei 3.25,394. Noch Fragen?

Was die Hypercar-Topklasse betrifft, so hat sich trotz der BOP an den grundsätzlichen Vorhersagen nichts geändert: Die LMH-Autos von Toyota und Ferrari werden schneller sein als die LMDh-Autos von Cadillac und Porsche, Peugeot liegt weiter deutlich zurück. Die größte Änderung könnte darin bestehen, dass Ferrari näher an Toyota herangerückt ist, und dass die beiden LMDh-Autos näher an den LMH-Wagen dran sind – beides dank der neuen BOP.

Ob Ferrari das Defizit auf Toyota bei der Reifennutzung reduziert hat, bleibt abzuwarten. Wenn nicht, dann bliebe Toyota der Topfavorit, übrigens auch bei den operativen Faktoren wie Boxenstopps und Strategie. Mit 16 Autos in der Topklasse, darunter fünf große Hersteller, können sich die Fans auf jeden Fall auf ein spannendes Rennen einstellen, zumal es am Wochenende auch hin und wieder regnen soll.

Toyota - 24h-Rennen Le Mans - 2022
Toyota
Toyota gewann fünfmal in Folge. Die BOP-Anpassung und Wetterkapriolen könnten den Japanern 2023 einen Strich durch die Rechnung machen.

Und die anderen Klassen? In der LMP2-Kategorie sind 24 Autos genannt. Da hier Pro-Am-Fahrerpaarungen zum Einsatz kommen, spielt das Fahrer-Line-up eine große Rolle. Laut Papierform sind sicher die Hälfte aller LMP2-Teams so besetzt, dass sie vorne reinfahren können. In Wahrheit werden am Ende die etablierten LMP2-Teams das Rennen unter sich ausmachen, als da wären: United Autosports, Jota, WRT oder Prema Racing. Nur wenn die üblichen Verdächtigen patzen, öffnet sich die Tür für kleinere Teams wie Tower Motorsports, wo mit Ricky Taylor und René Rast zwei Top-Prototypen-Profis am Lenkrad drehen.

Der letzte GTE-Auftritt

Beim letzten Schwanengesang der guten alten GTE-Klasse wird es mit 21 Autos von Porsche, Ferrari, Aston Martin und Corvette sicher kunterbunt zugehen. Wie in der LMP2-Klasse hängt auch in der GTE-Am-Kategorie viel an der Qualität der Fahrerpaarungen, denn auch hier müssen sich Amateure und Profis am Lenkrad abwechseln. Auf der BOP-Seite sollte es eigentlich keine großen Überraschungen geben, denn die Autos sind wohlbekannt. Für jene GT-Teams, die auch in der WM starten, entfallen in Le Mans die Handicap-Gewichte.

So hat jeder Hersteller in der Regel zwei bis drei Autos in petto, die siegfähig sein sollten. Nach dem bisherigen Saisonverlauf ist das Corvette-Trio mit der Startnummer 33 (Catsburg/ Keating/Varrone) wieder stark einzuschätzen, allerdings haben Porsche, Aston Martin und Ferrari deutlich mehr Topautos am Start, sodass auch in der GTE-Am-Klasse viel davon abhängt, welches Team ohne technische Probleme, Unfälle, Strafen oder Reifenschäden durchkommt. Aber für welche Klasse gilt das in Le Mans eigentlich nicht?

GTE-Am - Le Mans 2023 - Vortest
Motorsport Images
In der GTE-Am-Klasse sind 21 Fahrzeuge von vier Herstellern genannt.

Eine besondere Erwähnung verdient hier sicher auch das Garage-56-Auto von General Motors, das vom Team Hendrick Motorsports eingesetzt wird. Der aktuelle NASCAR-Rennwagen Chevrolet Camaro ZL1 wird von Mike Rockenfeller, Ex-F1-Weltmeister Jenson Button und dem siebenfachen NASCAR-Champion Jimmie Johnson pilotiert. Das Trio markierte beim Vortest eine Bestzeit von 3.53,761 Minuten – und war damit schneller als alle GTE-Am-Autos, was so nicht unbedingt zu erwarten war.

"Unser Simulationen hatten Rundenzeiten von 3.55 Minuten vorausgesagt – plus minus drei Sekunden", erzählt Pilot Mike Rockenfeller. "Unsere Hoffnung besteht darin, dass wir im Rennen schon ein paar GTE-Am-Autos über die reine Pace schlagen können." Der ehemalige Audi-Werksfahrer stellt aber auch klar, dass es sich bei dem Projekt primär um eine coole Werbenummer für den NASCAR-Sport handelt. "Das Auto ist mega-spektakulär, und allein der Sound wird die Fans von den Sitzen reißen", sagt Rockenfeller. "Aber wir als Team haben uns natürlich auch sportlich einiges vorgenommen."

Chevrolet Camaro ZL01 - Le Mans 2023 - Vortest - Jenson Button
xpb
Mike Rockenfeller tritt mit dem ehemaligen Formel-1-Weltmeister Jenson Button und Jimmie Johnson in einem Camaro an.

Echte Schwachstellen gibt es angeblich keine mehr: der Powertrain funktioniert zuverlässig, dito die Bremsen, und an Leistung herrscht sicher kein Mangel. Der NASCAR-V8 hat etwa 200 PS mehr als die GTE-Am-Motoren, aber die braucht er auch, weil der Luftwiderstand wegen der Verwendung des normalen Cup-Heckspoilers eher grottig ausfällt. Das einzige echte Fragezeichen sind die Goodyear-Reifen, die bisher bei den Tests mit wenig Verschleiß glänzten. "Ich habe nur die Sorge, dass wir zuviel Reifen-Pickup aufsammeln, aber das können wir erst bei den Testfahrten und in den Trainings überprüfen", sagt Rockenfeller.

Le Mans: Anfang und Ende

Es ist also alles angerichtet für den 100. Geburtstag der großen alten Dame Le Mans: Die Hersteller sind (endlich) wieder in die Topklasse zurückgekehrt, wobei der Scheitelpunkt der Welle erst im nächsten Jahr kommt, wenn Renault, Lamborghini und BMW dazukommen. Die GTE-Autos geben ihren Ausstand, sie werden 2024 von den GT3-Wagen ersetzt. Und auch das LMP2-Kontingent wird 2024 stark schrumpfen, weil die Klasse auf WM-Ebene entfällt. Anfang und Ende – alles wie im richtigen Leben.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

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