Die Motorsportpläne von Lotus
Neu Lotus-Blüte oder Spekulationsblase?

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Singular und Plural können oft einen großen Unterschied machen: Lotus schießt aus allen Rohren und an allen Fronten. Führt das zu einer neuen Blüte des britischen Sportwagenherstellers - oder handelt es sich vielleicht eher um Blütenträume?

Lotus 2010 IndyCar at LA Auto Show
Foto: Lotus

Bescheidenheit sieht anders aus: Kein Automobilhersteller der Welt fährt derzeit größere Geschütze auf als die kleine Firma Lotus. Auf dem Pariser Autosalon präsentierten die Briten ein Feuerwerk von fünf neuen Modellen, die bis 2015 auf die Straßen rollen werden. Parallel drückt Lotus im Motorsport auf die Tube: In der Formel 1 übernehmen die Briten Anteile des ehemaligen Renault-Teams, in der Indy-Car-Serie steigt Lotus mit eigenem Motor 2012 zum Hauptdarsteller auf. Im GT-Sport setzt Lotus auf eine Flügelspannweite, die von GT4 über GT3 bis zu GT2 reichen wird. Und schließlich wird Lotus mit einem LMP2-Prototypen nach Le Mans zurückkehren

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Da muss man schon beim Lesen kräftig durchschnaufen. Viele in der Branche fragen sich angesichts der opulenten Wachstumsstrategie: Wer soll das alles bezahlen? Im Geschäftsjahr 2008/2009 hat Lotus ein Minus von knapp 18 Millionen Euro eingefahren. Im Gegenzug wurde bekannt, dass der Mehrheitseigentümer – der malayische Automobilproduzent Proton – gut 800 Millionen Euro in das Aufpäppeln der britischen Sport-Ikone investieren wird. Doch irgendwie scheinen die Proportionen nicht zu stimmen: So rechnen global agierende Autokonzerne für die Entwicklung eines neuen Modells mit Kosten von einer Milliarde Euro – Lotus will aber gleich deren fünf auf den Markt streuen. So ist der Spott im Moment ein steter Begleiter der Lotus-Hyperaktivität: „Offenbar will Lotus in jeder Rennserie an den Start gehen, die es gibt“, spöttelt beispielsweise der Technikchef des gegenwärtigen F1-Partners von Lotus, Mike Gascoyne. „Das ist erstaunlich für eine Firma, die Verluste schreibt. Da kann man nur Glück wünschen.“

Welche Strategie steckt dahinter?

Die Frage lautet: Verfolgt Firmenboss Dany Bahar eine nachhaltige Strategie mit dem Ziel, die Traditionsmarke Lotus zu reanimieren und gegen Porsche, Ferrari und Aston Martin aufzustellen? Oder soll Lotus als aufgehübschte Braut irgendwann an der Börse verscherbelt werden, um rabiat Kasse zu machen? Lotus als lieblose Spekulanten-Luftblase oder als neuer Sportwagen-Leitstern? Immerhin hat Lotus im Verlauf der letzten Monate harte Fakten geschaffen – auch beim Thema Motorsport. Beispiele: Lotus hat im Dezember 50 Prozent des ehemaligen Renault-Formel-1-Teams übernommen. Lotus hat ebenfalls im Dezember den Bau eines Indy-Car-Motors für 2012 verbindlich zugesagt. Lotus wird ab März 2011 mit einem GT2-Auto gegen Porsche, Ferrari und Konsorten antreten. Lotus wird 2012 mit einem LMP2-Prototypen in Le Mans starten. Lotus baut auf dem Firmengelände in Hethel, Norfolk, für Testzwecke eine FIA-Rennstrecke mit zwölf Boxen. Und die Lotus-Sportabteilung erhält 2012 neue Gebäude, die fünf Mal so groß ausfallen wie die gegenwärtigen Anlagen.
 
Auch die Anstrengungen auf der Business-Seite sind nicht zu leugnen. Firmenboss Dany Bahar hat seit seinem Amtsantritt im Jahr 2009 den Laden umgekrempelt. Der vormalige Ferrari- und Red Bull-Manager setzt beim Bau der Straßenautos konsequent auf Outsourcing: Nur Chassis, Antriebsstrang und Aufhängung werden in Zukunft noch in Hethel gefertigt. Alle anderen Baugruppen wurden an externe Zulieferer abgetreten. Die Motorenpalette stammt vom japanischen Auto-Giganten Toyota, mit dem Lotus eine spezielle Verbindung pflegt: Lotus darf die Motoren durch die eigene Tochterfirma Cosworth modifizieren, und sogar die Japaner selbst führen Änderungswünsche von Lotus durch. Gerüchten, laut denen das englisch-japanische Bündnis am Bröckeln sei, weist Firmenboss Dany Bahar zurück: „Unser Verhältnis ist sehr gut. Zwar denken wir über den Bau eigener V8-Motoren für den Esprit nach, aber das ändert nichts an unserer erfolgreichen Kooperation mit Toyota.“

Neues Expertenteam bei Lotus

Für großes Aufsehen in der Automobilwelt sorgte die Abwerbungskampagne von Lotus. Binnen eines Jahres besetzte Bahar alle entscheidenden Führungspositionen neu. „Wir haben 24 Topmanagern einen Job angeboten – und 23 haben angenommen“, sagt Bahar stolz. „Und der eine, der abgelehnt hat, bereut seine Entscheidung.“ Bahar hat keine Leichtgewichte angeheuert: Claudio Berro (Fiat) und Miodrag Kotur (Ferrari) leiten die Sportabteilung. Produktionsvorstand Michael Och kam von Porsche, COO Stephan Pathenschneider wurde von AMG abgeworben. Marketing-Chef Andreas Schlegel kam von Aston Martin, Cheftechniker Wolf Zimmermann von AMG, und Berater Karl-Heinz Kalbfell arbeitete früher bei Maserati und BMW. Das neue LMP2-Auto für Le Mans wird von Paolo Catone entworfen, der zuvor für Peugeot den erfolgreichen 908-LMP1 zeichnete.
 
„Was glauben sie, warum diese Topleute ihre guten Jobs aufgaben und zu Lotus gekommen sind?“ fragt Bahar. „Um mir einen Gefallen zu tun? Sicher nicht! Sie haben das Potenzial der Marke Lotus erkannt. Etwas zu bewegen ist oftmals eine größere Motivation als das Geld der Großkonzerne. Bei Lotus können diese Menschen Geschichte schreiben.”
 
Das wird auch nötig sein, denn noch steckt die Lotus-Nummer in den Kinderschuhen. Bahar bemüht die Vergangenheit, um seine Vision zu erklären: „Wenn sie 60 Jahre zurückblicken, dann sehen sie, dass nur Ferrari und Lotus eine vergleichbare Tradition und ein ähnliches Erbe vorweisen können. Bei beiden Firmen ging es primär um den Rennsport. Enzo Ferrari und Colin Chapman interessierten sich nie wirklich für die Straßenautos.“ Auf diesem Fundament will Bahar aufbauen: „In den letzten 15 Jahren war die Lotus-Historie nichts weiter als ein tiefes schwarzes Loch. Wir müssen wieder an die große Ära der Lotus-Sportwagen anknüpfen. Der Esprit war so ein Auto. Wir müssen sozusagen ins Jahr 1985 zurückreisen, um die Zukunft neu zu bestimmen.“

Wie der Kleinserienhersteller die Kosten stemmt

Visionen sind das eine, Geld das andere. Woher kommen die Abermillionen für die geplante Modelloffensive von Lotus Cars? Da wäre die Tochter Lotus Engineering, die über 700 Ingenieure beschäftigt und ein hoch profitables Unternehmen ist, das praktisch für alle großen Automobilhersteller der Welt Ingenieursleistungen erbringt. Dazu hat Eigentümer Proton zusammen mit einem Bankenkonsortium 800 Millionen Euro für die Offensive bereitgestellt. Bahar rechnet anders als die großen Volumenhersteller, wo die Entwicklung eines neuen Autos bis zu einer Milliarde Euro verschlingen kann. „Wir setzen auf ein radikales Gleichteile- und Plattform-Prinzip, ergänzt um Outsourcing bei der Produktion“, erklärt Bahar. „Daher entwickeln wir genau genommen nicht fünf neue Modelle, sondern nur zweieinhalb, weil 50 Prozent aller Teile identisch sind. Für einen Kleinserienhersteller sinken die Entwicklungskosten so auf ein akzeptables und machbares Niveau.“
 
Porsche ist für Bahar die Benchmark im Sportwagensektor – und die große Chance. „Marken wie Porsche entfernen sich von ihren Ursprüngen, gleichzeitig steigen sie in die unteren Fahrzeugsegmente ein, in denen sie bisher nicht vertreten waren. Lotus war immer stark in diesem Segment – und darauf können wir aufbauen.“ Lotus will bei Design, Dynamik, Leistung und Qualität zu den direkten Wettbewerbern aufschließen – und sie dann beim Preis unterbieten.
 
Freilich gibt es auch kritische Stimmen. Die neue Elise, die 2015 erscheint, wird wegen des Gleichteileprinzips ihre Tugend als federleichter Spaßwagen wohl einbüßen. Angeblich soll die neue Elise über 1.300 Kilogramm wiegen – über 300 Kilo mehr als das aktuelle Modell. Da wird vielen Lotus-Fans der Appetit vergehen. Das Auffächern auf fünf Modelle ist sozusagen die Gegenstrategie zu Aston Martin oder Ferrari, die mit weniger Modellen, aber mit mehr Volumen operieren. „Wir glauben, dass wir nie mehr als 3.000 oder 4.000 Autos pro Modell absetzen können“, so Bahar. Also musste die Angebotspalette auf fünf Modelle aufgefächert werden. Bei einem angestrebten Absatzziel von 6.000 bis 8.000 Autos hofft Lotus, in naher Zukunft zirka 1.500 Fahrzeuge pro Modellreihe verkaufen zu können.

Lotus-Pläne im Motorsport

Nicht minder unbescheiden fallen die Zielsetzungen im Motorsport aus. In der Indy-Car-Serie setzte man im ersten Schritt auf eine Kooperation mit dem KV Racing Team von Kevin Kalkhoven, dem Miteigentümer von Coworth, die wiederum in die Motorenentwicklung für Lotus eingebunden sind. Weil Amerika für Lotus ein wichtiger Markt ist, war das Indy-Car-Engagement 2010 ein Publikumsträchtiger Schachzug. Die Indy-Car-Serie setzt ab 2012 auf ein neues Chassis- und Motorenreglement – und Lotus sprang buchstäblich in letzter Sekunden auf diesen Zug: Kurz vor der Deadline verpflichtete man sich als dritter Hersteller neben Chevrolet und Honda zum Bau eines Motors. Damit wird Lotus zu vergleichsweise günstigen Preisen – die Projektkosten sollen laut Motorsport-Direktor Claudio Berro weniger als 5 Millionen Euro betragen – schlagartig zu einem Schwergewicht im amerikanischen Topmotorsport.
Sportkoordinator Miodrag Kotur offenbart, dass Lotus einen hochrangigen Formel 1-Ingenieur verpflichten konnte, um den Indy-Car-Feldzug zu leiten. Den Namen will der Italiener freilich noch nicht preisgeben. Gleichzeitig hat die Entwicklung des IndyCar-Motors Rückwirkungen auf das Straßengeschäft, denn Lotus denkt weiter darüber nach, auch selbst Motoren zu bauen. „Der Motor ist das Herz eines  Sportwagens“, sagt Bahar. „Daher müssen wir darüber ernsthaft nachdenken. Im Motorsport können wir lernen, wie es geht.“ Bahar schließt nicht aus, dass der Indy-Car-Motor sogar direkt in die Straßenautos wandern könnte.
 
Ebenfalls im Dezember zündete Lotus mit der 50-Prozent-Übernahme des ehemaligen Renault-F1-Teams die zweite Stufe. Der langfristige Plan könnte auf eine Komplettübernahme hinauslaufen. Überlagert wird der Coup durch den Streit mit dem aktuellen Lotus-F1-Team des malayischen Airline-Besitzers Tony Fernandes. Lotus bekam das Branding bisher umsonst, doch dieser Deal wurde vor der Übernahme der Amtsgeschäfte durch Bahar eingefädelt. 2011 sollen die Renner des neuen „echten“ Formel 1-Teams in der klassischen schwarz-goldenen Lackierung der 80er Jahre antreten – und natürlich weiter vorn im Feld mitblasen als das diesjährige F1-Team.

Lotus kämpft gegen Ferrari und Porsche

Auch im GT-Sport drückt Lotus das Gaspedal bis aufs Bodenblech: Für den GT4-Evora liegen bereits über 20 Bestellungen vor. Das GT2-Programm ist abgesegnet, das österreichische Jet-Alliance-Team wird den GT2-Evora in der Le Mans Serie 2011 einsetzen. Auch ein GT3-Ableger auf Basis des GT4-Evora spukt im Kopf von Sportchef Berro herum, der aber noch zuwarten will: „Die GT3-Klasse ist in den vergangenen Jahren immer teurer geworden, und die Sportbehörde FIA hat sichtlich Mühe mit der Balance-of-Performance.“
Auf der Kundensportebene boomen auch die insgesamt sechs Lotus Cup Challenges, die für vier verschiedene Lotus-Modelle ausgeschrieben sind. Mit Starterzahlen von über 50 Autos kommt die momentan noch sehr kleine Motorsportabteilung allerdings an ihre Belastungsgrenzen, denn die 30-Mann-Truppe muss bis März auch das GT2-Auto auf die Beine stellen. Berro macht sich diesbezüglich keine Illusionen: „Wir müssen unsere Gegner wie Ferrari und Porsche respektieren. Die fahren seit 45 Jahren Autorennen – deren Vorsprung können wir nicht an einem Tag aufholen.“
 
Der Schritt in die LMP2-Klasse macht bei vernetzter Sichtweise ebenfalls Sinn, denn die kleinen Prototypen sollen ab 2011 auch mit GT2-Motoren an den Start gehen. Daher wird der Lotus-LMP2 mit dem Evora-GT2-V6-Motor ausgerüstet. Dazu muss der Motor von Quer- auf Längseinbau adaptiert werden. Berro verhandelt noch mit dem Le-Mans-Veranstalter, ob der LMP2-Motor in Saug- oder Turbokonfiguration kommen wird. „Das LMP2-Auto soll im September 2011 zum ersten Mal getestet werden“, offenbart Berro. „Das Debüt erfolgt beim Petit-Le-Mans-Rennen in Road Atlanta.“
 
Beim Thema LMP1 windet sich Firmenboss Dany Bahar sichtlich: „Wer in Le Mans Erfolg haben will, muss durch die Hintertür eintreten und sehen, wie er in diesem Geschäft zurechtkommt. Für uns macht es im Moment keinen Sinn, gegen Audi oder Peugeot anzutreten, deren Budgets im Bereich zwischen 60 und 80 Millionen Euro liegen.“ Damit beweist Bahar dann doch so etwas wie Bescheidenheit. Noch.