Mercedes Drive Pilot
S fährt jetzt auch von selbst

Schluss mit den Experimenten: Ab Mitte Mai 2022 können S-Klasse-Kunden den so genannten Drive Pilot zum Aufpreis von 5.000 Euro bestellen, der ihnen im Stau das Fortkommen abnimmt. auto motor und sport durfte die Technik erstmals auf öffentlichen Straßen ausprobieren.

Mercedes Drive Pilot
Foto: Mercedes-Benz AG

Noch am selben Tag, als Mercedes verkünden durfte, nun eine offizielle Zulassung für den Drive Pilot erhalten zu haben, klingelte bei auto motor und sport das Telefon: "Wollt ihr das nicht mal ausprobieren?" "Haben wir doch schon. Im EQS auf eurem Testgelände in Immendingen." "Sicher. Jetzt aber könnt ihr damit auf die Autobahn." "Bis gleich!" Treffpunkt: Center of Excellence am Mercedes-Werk Sindelfingen zwei Tage später, ein handelsüblicher Freitagnachmittag, schließlich braucht’s ja zumindest zählfließenden Verkehr, damit das Assistenzsystem tatsächlich dem Fahrer das Fahren abnimmt. Autonom nach Level 3, wie es so schön heißt.

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Die Technik wird nicht billig sein, auch wenn sie als Basis die Sensorik aller schon heute verfügbaren Assistenzsysteme nutzt, ergänzt um einen Lidar im Kühlergrill (eine Art dreidimensionaler Laserscanner), ein hochgenaues Positionierungssystem (erkennbar an einer Beule im Dach, die einige Ingenieure wegen der Optik "Kuhfladen" tauften. Das Management bevorzugt jedoch "Schogette", obwohl sich gleich um die Ecke der Stammsitz von Ritter Sport befindet) einer Kamera in der Heckscheibe und Mikrofone zum Erkennen von Blaulicht und anderen Sondersignalen von Einsatzfahrzeugen, sowie ein Nässesensor im Radkasten. Überdies liefert eine HD-Karte Informationen zu Straßengeometrie, Streckeneigenschaften, Verkehrszeichen sowie besonderen Verkehrsereignissen (beispielsweise Unfälle oder Baustellen).

Mercedes Drive Pilot
Mercedes-Benz AG
Als Basis nutzt die Technik die Sensorik aller schon heute verfügbaren Assistenzsysteme, ergänzt um weitere Sensoren, Kameras, Mikrofone und einen Lidar.

Dennoch: Ein erheblicher vierstelliger Betrag dürfte wohl fällig werden, wenn voraussichtlich im April der Bestellstart erfolgt. Andererseits: Allein an diesem Nachmittag übernehmen zwei Maybach- und zwei S-Klasse-Kunden im Center of Excellence ihr neues Fahrzeug, alle lassen Kennzeichen aus baden-württembergischen Landkreisen daran befestigen. Läuft offenbar. Und beim EQS, für den der Drive Pilot in der zweiten Jahreshälfte verfügbar sein wird, bestellt ohnehin die Mehrheit der Kunden das aktuelle Topmodell 580 4matic+. Eine gewisse Bereitschaft in Luxus und Technik zu investieren, scheint also vorhanden.

Pingelig aber relaxed

Heißt aber auch: Die Technik muss funktionieren, sonst nörgelt die anspruchsvolle Kundschaft. Na dann: Ablegen. Bei Schneeregen und Temperaturen um drei Grad Celsius über Null rollt der S580 los. Ja, ein 580er, also angetrieben vom Vierliter-V8-Biturbo-Triebwerk, hier mittels Integriertem Startergenerator mildhybridisiert und damit bis zu 523 PS stark – begleitet von dezenten, dennoch unverkennbaren, wabernden Bässen. Drinnen also: Kaminzimmer-Wohlfühlambiente. Draußen: Ungemütlich. Eigentlich würde der Drive Pilot jetzt gar nicht erst zum Dienst antreten, denn das System ist ein wenig pingelig, was seine Arbeitsumgebung betrifft. Es arbeitet ausschließlich auf Autobahnen, tätigt keine Spurwechsel, ausschließlich bis 60 km/h, nur bei Tageslicht, nicht in Tunneln und Baustellen, nur bei Temperaturen über drei Grad Celsius – klingt arg nach einem kleinen, alkoholfreien Radler (für die norddeutschen Leser: Alsterwasser).

Mercedes Drive Pilot
Dieter Rebmann
Wurde Drive Pilot aktiviert, ist alles erlaubt: Hände vom Lenkrad, Mails checken, oder – völlig verrückt – sich mit seinen Mitreisenden unterhalten und sie dabei ansehen.

Und dann? Tempolimiter auf 60 km/h einstellen, Hände vom Lenkrad und gemütlich an den Bodensee chauffieren lassen? Nein. Ein vorausfahrendes Fahrzeug, das ebenfalls nicht schneller als 60 km/h fährt, muss das System ebenfalls erkennen. Wozu das alles? Wegen einer Mischung aus gesetzlichen Vorgaben und eigenem Sicherheitsanspruch. Damit das heute überhaupt klappen kann, wurden beim Testfahrzeug die Zügel etwas gelockert, also die Temperaturbeschränkung herausgenommen und die Nässeempfindlichkeit reduziert.

Bei türkis alles erlaubt

Und als dann der Schneefall etwas nachlässt, der Verkehrsfluss auf der A81 in Richtung Süden allmählich verklebt, zeigt das Fahrerinformationsdisplay das vorausfahrende Fahrzeug in einem weißen Kringel mit dem Großbuchstaben A daneben, zusätzlich leuchten je eine LED oberhalb der Bedienelemente des Drive Pilot, die in der oberen Hälfte des Lenkrads stecken. Dort sind sie bequem mit den Daumen zu erreichen. Dann: Drücken, die Farben ändern sich ins türkisgrüne. Jetzt Hände vom Lenkrad, Blick von der Straße – alles erlaubt. Plus: Mails checken, TV schauen, eine kleine Pantomime aufführen oder – völlig verrückt – sich mit seinen Mitreisenden unterhalten und sie dabei ansehen. Tatsächlich bewegt sich die Luxuslimousine mit der ihr eigenen, entspannten Art vorwärts, keine hastigen Manöver, keine ruckartigen Lenkbewegungen, kein Orientierungsverlust.

Mercedes Drive Pilot
Dieter Rebmann
Der Drive Pilot arbeitet mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit, startet allerdings zunächst in einem extrem kleinen Arbeitsfenster zu einem voraussichtlich stattlichen Aufpreis.

Erst, als die Fahrerüberwachungskamera (Bevor jetzt Big-Brother-is-watching-Panik aufkommt: Gibt’s bei BMW schon lange. Haben Sie es gemerkt? Tja nun…) meine Augen nicht mehr erkennt, weil ich mein Mobiltelefon zwecks Filmaufnahmen davorhalte, schlägt Drive Pilot Alarm, bimmelt, blinkt rot, gibt mir ein paar Sekunden Zeit, zu übernehmen. Passiert nichts, würde die Technik einen Anhaltevorgang einleiten und einen Notruf absetzen. Ich übernehme kurz, dann zeigt das System wieder Funktionsbereitschaft an, ich übergebe. Im Fahrerinfomationsdisplay erscheint nun eine Kilometerangabe, die von 2,8 km beginnend rückwärts zählt. Warum? Weil in dieser Entfernung eine Baustelle folgt, vor deren Beginn wieder der Fahrer übernehmen muss. Alles irgendwie spooky? Och, ehrlich gesagt, gewöhnst du dich recht schnell daran, gerade weil der Drive Pilot mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit arbeitet. Darf er gerne häufiger.

Die S-Klasse rollt weiter, dann befiehlt der Lichtsensor aufgrund der Dämmerung, das Abblendlicht einzuschalten – und der Drive Pilot macht damit Feierabend. Was wären denn die nächsten Schritte des Systems? Oder kommt womöglich gleich Level 4? Das nicht, überhaupt werde es noch einige Jahre dauern, bis Fahrzeuge wirklich selbsttätig von A nach B fahren. Zunächst dürften in den nächsten Jahren Evolutionsstufen von Level 3 folgen, also das autonome Fahren bei widrigeren Wetterbedingungen oder bei Dunkelheit. Dann jedenfalls darf Mercedes gerne wieder durchklingeln.

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Ja, Autofahren von A nach B ist aktuell nur Zeitverschwendung.Nein, wer nicht fahren will, soll Zug fahren.

Fazit

Autonomes Fahren? Jep, funktioniert. Im normalen Straßenverkehr, nicht in einem choreographierten Testgelände-Szenario. Allerdings startet der 5.000 Euro teure Drive Pilot zunächst in einem extrem kleinen Arbeitsfenster zu einem voraussichtlich stattlichen Aufpreis. Aber hey, Navigationssystem, aufwändige Scheinwerfer-Systeme und Abstandsregeltempomat lagen zu Beginn ihrer Karriere schließlich auch nicht als Schnäppchen auf dem Wühltisch. Und wo finden sie sich heute? Oft schon in Kleinwagen, mit deutlich höherer Funktionalität als zu Beginn. Möge dem Drive Pilot eine ähnliche Zukunft bevorstehen – solange er sich auf Wunsch des Fahrers auch wieder abschalten lässt.