Interview mit Andreas Tschiesner
"Autohersteller geraten unter Margendruck"

Als Senior Partner und Leiter der Automobilberatung von McKinsey & Company in Europa hat Tschiesner die Automobilbranche im Blick. Steigende Investitionen ins autonome Fahren und in den Branchenwandel lassen die Gewinne schmelzen.

Andreas Tschiesner, Senior Partner von McKinsey & Company
Foto: McKinsey
Was sind Ihre neuesten Erkenntnisse bezüglich autonomen Fahrens?

Wenn wir auf die Zukunft der Mobilität schauen, ist das autonome Fahren der größte singuläre Trend. Warum? Aktuell stammt der größte Teil des Profits in der Automobilindustrie immer noch aus dem klassischen Fahrzeuggeschäft. Die Gewinne werden aber durch die gesetzlich geforderten Umweltauflagen und die Elektrifizierung sinken. Und wir denken, dass es den Autoherstellern nicht gelingen wird, die höheren Kosten in Entwicklung und Produktion durch höhere Fahrzeugpreise an die Kunden weiterzugeben. Die Autohersteller geraten also in einen klaren Margendruck durch die Elektrifizierung ihrer Fahrzeugpalette. Aber jetzt die gute Nachricht: Das autonome Fahren verspricht ein Marktpotential von 1,6 Billionen Dollar im Jahr 2030 – und davon wird sich die Automobilindustrie ihren Anteil sichern.

Unsere Highlights
Wie werden die Autohersteller den Margendruck noch auffangen?

Auf alle Fälle durch Connectivity Services, die dem Kunden zusätzlich zum Fahrzeug angeboten werden. Das setzt Tesla über seine Over-the-air-Updates schon sehr erfolgreich um. Wir gehen davon aus, dass die Hersteller hier die Chance haben, mehrere Hundert Euro pro Fahrzeug und pro Jahr zu verdienen.

Wie und wo wird einem normalen Autofahrer das autonome Fahren erstmals begegnen?

Der Kunde wird den Übergang Schritt für Schritt vollziehen. Wer heute ein neues Auto kauft, kommt durch die Sicherheitssysteme schon mit Assistenten in Berührung. Und wenn er im Stau einen Stau-Assistenten nutzt und seine Vorteile schätzen lernt, tastet man sich automatisch an die Fortschritte im automatisierten und später ans autonome Fahren heran. Gleichzeitig werden die Menschen in bestimmten Bereichen erstmalig mit vollautomatisierten Fahrzeugen – den sogenannten Robocars – in Berührung kommen. Die ersten großen Robocar-Flotten sind für die Jahre 2020 bis 2022 angekündigt. Das wird zunächst erst in fest definierten Stadtbereichen und in wenigen Städten sein und nur bei gutem Wetter, aber die Menschen werden die Technologie kennen lernen.

Welchen Autohersteller sehen Sie da vorne?

Wenn man auf die wichtigsten Faktoren schaut, sehen viele Analysten Googles Tochterunternehmen Waymo am weitesten vorne. Die hohe Anzahl an Testkilometern und die massiven Investitionen ins autonome Fahren sprechen eine deutlich Sprache. Wir sehen weltweit etwa 15 bis 20 Unternehmen, die massiv ins Thema autonomes Fahren investieren, um vorne zu sein. Langfristig wird wahrscheinlich aufgrund des regulatorischen Drucks nur eine Handvoll an so genannten Mobilitäts-Ökosystemen überleben.

Dann dreht es sich künftig mehr um Kunden-Plattformen als um den reinen Fahrzeugbau?

Ja, in die Zukunft geschaut, wird der Fahrzeugbau wahrscheinlich an Bedeutung verlieren. Das sogenannte Ökosystem, also der direkte Zugang zu möglichst vielen Kunden, wird künftig am wichtigsten werden. Und eines ist auch sicher: China wird sich sein eigenes Ökosystem schaffen. Ein Beispiel: Die chinesischen Regulationsbehörden werden nicht zulassen, dass zentimetergenaue Karten-Daten in ausländischen Besitz gelangen.

BMW und Mercedes haben ihre Robotaxis für 2021 angekündigt. Wenn man aber genau hinhört, haben die Ingenieure noch ziemlich viel Arbeit zu leisten, bevor die Fahrzeuge auf die Straße können. Das klingt eigentlich nicht nach einer Einführung im Jahre 2021 …?

Die Autohersteller müssen eben genau diese Dualität abbilden: Sie müssen ein tolles Premium-Fahrzeug entwickeln und gleichzeitig auch Fortschritte in der Funktionalität generieren. Das kostet wahnsinnig viel Energie, personelle Ressourcen und Investitionsmittel.

Wie teuer werden die Systeme sein, wenn sie marktreif sind?

Die Recheneinheit, die in einem echten Robocar verbaut wird, kann von den Kosten her ganz andere Dimensionen erreichen. Wir haben ausgerechnet, dass so ein System für ein Robotaxi zunächst über 100.000 Euro kosten könnte. In einem normalen Privatauto wird der Preis wohl eher bei 4.000 bis 5.000 Euro liegen, um für die einzelne Kundschaft attraktiv zu sein. Wir reden also über die gleiche oder ähnliche Funktionalität, die aber einen komplett anderen technischen Aufbau dahinter hat. Das macht es unserer Meinung nach so kompliziert und für die Autohersteller auch so schwierig.

Welches der beiden Fahrsysteme ist dann schneller fertig?

Bei einem Robocar ist es sehr unklar, was man damit wirklich abdecken kann. Hier ist eigentlich eine gemeinssame europäische Strategie wie beim Airbus nötig, damit die Besten zusammenarbeiten und ein „Best-of-Produkt“ zusammen entwickeln können. Und da sehen wir die Premiumanbieter hoffentlich in der Zusammenarbeit. Und dann bräuchte man noch die Kooperation in der Plattform – ähnlich wie bei der Star Alliance in der Luftfahrt. Weder BMW noch Mercedes werden es wohl alleine schaffen, so eine Kunden-Plattform jeweils alleine und weltweit aufzubauen. Und in China müssen beide ohnehin mit örtlichen Unternehmen wie Didi und Uber kooperieren. Aber auch in China sind die Geschäftsmodelle dahinter noch sehr unsicher.

Mit welchem Fahrzeug-Hersteller wird sich Waymo Ihrer Meinung nach verbünden?

Auf absehbare Zeit wird Waymo wohl keine Autos bauen. Wenn deren Fahrsystem einmal fertig ist, gibt es Auftragsfertiger, die in der Lage sind, so genannte „Purpose built Vehicles“ zu bauen. Die werden nicht die Anmutung eines deutsche Oberklasseautos haben, sondern auf bestimmte Mobility Services zugeschnitten sein.

Sollen die Autohersteller also ihre Entwicklung von autonomen Fahrsystemen zurückfahren und ihre Architektur so bauen, dass sie offen für Unternehmen wie Waymo ist?

Im Moment sehen wir noch sehr viel Offenheit zwischen neuen Anbietern und der traditionellen Autoindustrie. Wie gesagt – kein Anbieter kann die notwendigen Investitionen alleine stemmen. Nur wer zusammenarbeitet, wird gewinnen.

Wie bewerten Sie neue Player wie Byton und Nio, die im Prinzip voll auf autonomes Fahren setzen und im Falle von Nio auch keinen Autohersteller mehr hinter sich haben?

Wir haben eine ganz spannende Berechnung gemacht: ein normaler Autohersteller verdient pro zurückgelegtem Passagierkilometer ungefähr einen Euro-Cent. Unsere Analysen zeigen auch, dass beim autonomen Fahren zwischen 15 und 20 Cent realisiert werden können. Die Laufleistung der Robocars liegt in der Größenordnung von 100.000 Kilometer pro Jahr, während ein normales Auto etwa 17.000 Kilometer pro Jahr an Laufleistung hat. Das ist also ungefähr Faktor sechs in der Jahresnutzungsintensität. Die beiden Startups, Byton und Nio, sind aus meiner Sicht innovative Fahrzeughersteller, die doch auch stark über das Produkt kommen. Diese Differenzierung zu den klassischen Fahrzeugherstellern wird eine ziemlich starke Rolle spielen.

Sind die nötigen Investments in die vier Mega-Trends CASE für die klassischen Autohersteller überhaupt zu stemmen?

Nach unseren Analysen muss ein Autohersteller, um diese vier Trends – Connectivity, autonomes Fahren, Sharing und Elektromobilität – entsprechend mit Produkten und Services zu bedienen, etwa 70 Milliarden Dollar über zehn Jahre investieren. Das Investitionsvolumen fließt in batterieelektrische Plattformen, Batteriekapazitäten, aber auch ins autonome Fahren.

Geht in Ihren Prognosen in den nächsten Jahren eigentlich der Individualverkehr zurück – als Auswirkung der Robocars?

Das ist eine sehr spannende Frage und wir haben versucht, dies in allen großen Städten der Welt zu simulieren: wie viele Passagierkilometer werden heute zurückgelegt versus wie viele werden wohl im Jahre 2030 zurückgelegt? Wir sehen hier, dass die Mobilität weiter ansteigt, durch die robuste Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Mobilitätsbedarf. Natürlich wird die Anzahl an Privatautos in den großen Städten mit hohem Einkommen zurückgehen. Dieser Rückgang wird aber durch den höheren Fahrzeugabsatz in Ländern wie China, Lateinamerika oder Indien kompensiert.

Droht dann der totale Verkehrsinfarkt bis 2030?

Die individuelle Mobilität steigt in Summe an und wir sehen, dass der öffentliche Nahverkehr unter Druck kommt. Es ist unwahrscheinlich, dass in neue Straßenbahnlinien oder neue Buslinien investiert wird. Sondern eher in flexiblere Shared-Robocars, die genau wissen, dass da gerade acht Leute in zwei Straßenzügen in eine Richtung fahren möchten.

Sind die Städte also mit der Verkehrsplanung überfordert?

Städte werden in Zukunft noch viel stärker als heute als Organisator der urbanen Mobilität auftreten – quasi als Dirgent eines Orchesters von privatem Autoverkehr, Shared Mobility und Robotaxen sowie Mikromobilität. Und: Auch der Lieferverkehr wird ansteigen. 2025 werden in Deutschland 5 Milliarden Pakete verschickt – doppelt so viel wie heute. Auch das wird die Städte verstopfen. Deshalb wird die Belieferung wahrscheinlich in die Nachtstunden ausgedehnt, weil es gar keine andere Möglichkeit gibt. Amazon errichtet dafür in den Städten quasi kleine Lagerzentren. Elektrische Vans sollen von dort aus die Kunden beliefern. Deren Ladeflächen werden auch vernetzt, damit die Ladefläche optimal ausgenutzt werden kann und die Routenplanung wird dynamisch angepasst. Das vernetzte System weiß dann, dass es zum Beispiel vier Pakete hat – und die sind in der Straße in dieser Reihenfolge auszuliefern

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

148 Seiten