McLaren 765LT & McLaren 620R im Test
Ungleiche Geschwister auf der Rennstrecke

Zwei Redakteure, zwei Sportwagen, eine Meinung: Wir checken die neuen Querdynamik-Spielzeuge von McLaren. Der 765LT und der 620R treffen sich zum knallharten Tracktest in Hockenheim.

McLaren 620R, McLaren 765LT, Exterieur
Foto: Hans-Dieter Seufert

Die Videoplattform YouTube ist ja schon eine spezielle Welt. Da war das Video der mega-schnellen Hockenheimrunde des Mercedes-AMG GT Black Series (1.43,3 min) kaum eine Minute auf dem sport auto-YouTube-Kanal online, als ein User namens "Tyran Mathurin" kommentierte: "Ich erwarte, dass der McLaren 765LT noch schneller ist." Darauf lief das Schneeballsystem der Kommentare an.

Für einen anderen selbst ernannten YouTube-Experten war sofort klar, dass der 765LT sogar den aktuellen Hockenheim-Rekordhalter McLaren Senna knacken werde. In der digitalen Welt ist die Favoritenrolle schnell verteilt. Doch wie sieht es in der Realität aus? Heute muss der neue McLaren-Tiefflieger zeigen, ob er der Erwartungshaltung gerecht wird.

Unsere Highlights

Es riecht nach Motorsport

McLaren 765LT, Exterieur
Hans-Dieter Seufert
Im Topmodell der Super Series trifft ein Vierliter-V8-Biturbo mit 765 PS auf massenweise Kohlefaser.

Damit der 765LT nicht mutterseelenalleine seine Kreise auf der GP-Strecke im Badischen drehen muss, hat das Testteam aus Woking mit dem McLaren 620R noch ein weiteres Querdynamik-Spielzeug mitgebracht. Wie könnte es bei einer Truppe mit Formel-1-Hintergrund anders sein: Neben Werkzeug und Reifensätzen im Überfluss sowie den beiden Einsatzfahrzeugen stehen auch noch ganz selbstverständlich zwei "T-Cars" als Ersatz im 40-Tonner aus England.

Wenn die britische Sportwagenmarke heute schon so groß auffährt, kann ich ja unmöglich nur allein aufschlagen. Begleiter aus der Redaktion sind angesichts von Leistungsgewicht und Traumwagen-Charakter schnell gefunden. Kollege Jens Dralle, seines Zeichens Ressortleiter "Test & Technik" bei auto motor und sport, wird den Tracktest für unser großes Schwestermagazin mitbegleiten. Willkommen, Jens.

Das passt gut – Jens und ich sind die letzten beiden verbliebenen Mohikaner im Automobilbereich der Motor Presse Stuttgart, die eine Rennlizenz besitzen. Für die beiden McLaren-Topsportler braucht man zwar keine Lizenz, aber es riecht heute schon schwer nach Motorsport unter dem Deckmantel der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung.

Rein in die feuerfesten Strampelanzüge, los geht’s mit dem 765LT. Ein Vierliter-V8-Biturbo mit 765 PS trifft hier auf massenweise Kohlefaser. Carbon und Alcantara dominieren den kanzelartigen Innenraum – Motorsportflair pur. Rennstreckenfokussierte Ergonomie konnte McLaren schon immer richtig gut. Die aus dem McLaren Senna bekannten Carbon-Vollschalensitze (optional im Clubsport Pro Pack) geben mit tiefer Sitzposition und dem packenden Seitenhalt auch Ottonormalos sofort ein bisschen das Gefühl, als würden sie Norris oder Sainz mit Nachnamen heißen.

Leicht, leichter, McLaren

McLaren 765LT, Interieur
Hans-Dieter Seufert
Im Innenraum sparen nicht nur die jeweils 3,35 Kilo leichten Schalensitze Ballast, sondern auch der Verzicht auf Teppiche sowie der Einsatz von leichtem Alcantara.

Boxenampel grün, Start frei. Was auf dem GP-Kurs von Hockenheim neben Motorleistung und gripfreudigen Reifen noch zählt? Traktion und Fahrstabilität aus den engen Kurvenverläufen, um möglichst viel Tempo mit auf die Geraden zu nehmen.

Auch nach zwei Aufwärmrunden sind die Reifen des 765LT immer noch nicht richtig auf Temperatur. An der Vorderachse verbeißt sich der Pirelli P Zero Trofeo R MC1 bereits gut mit dem Hockenheimer Asphalt, während beim zackigen Einlenken oder unter Last der Grip an der Hinterachse noch schlagartig abreißt.

Gönnen wir den Pneus noch eine weitere Aufwärmrunde und verraten derweil, was einen 765LT vom bekannten 720S unterscheidet. Laut McLaren soll das LT-Modell ("LT" steht McLaren-typisch für "Longtail") 80 Kilo weniger als der "normale" 720S wiegen. Das Versprechen haben wir vorab natürlich mit vollem 72-Liter-Tank auf der Waage geprüft. Ergebnis: Mit 1.404 Kilo ist der 765LT "nur" 42 kg leichter als der 720S mit Track Pack und optionalen Leichtbauteilen, der in sport auto 3/2020 zum Test antrat.

Das Abspeckprogramm der LT-Diät ist trotzdem höchst interessant. 22 Kilo sollen die neuen Leichtmetallräder zusammen mit Radschrauben aus Titan sparen. Serienmäßig trägt der 765LT Motorhaube, Kotflügel und Türen aus Aluminium. Optional sind alle erwähnten Bauteile in Carbon erhältlich – und die hat unser Testwagen natürlich an Bord. Kennzeichenhalter, Frontsplitter, Stoßstangen, Seitenschweller, Heckflügel und Diffusor sind ebenfalls aus Kohlefaser gefertigt.

Im Innenraum sparen nicht nur die superleichten Schalensitze Ballast (die Kohlefaser-Sitzschalen wiegen jeweils nur 3,35 Kilo), sondern auch der Verzicht auf Teppiche sowie der Einsatz von leichtem Alcantara. Serienmäßig trägt der 765LT keine Klimaanlage und kein Audio-System (gibt’s aber optional, wie in unserem Testwagen). Zur weiteren Gewichtseinsparung wurde die Dicke der Windschutzscheibe und der Seitenscheiben reduziert, während die verglasten C-Säulen und die Heckscheibe aus Polycarbonat bestehen.

Eine Diätmaßnahme sei noch abschließend erwähnt, die verdammt sexy aussieht und im 765LT auch gerne mal Flammen spuckt: die gegenüber dem 720S-Auspuff um 3,8 Kilo leichtere Volltitan-Abgasanlage mit den mittigen (!), hochgesetzten (!!) vier (!!!) Endrohren. Das giftige Biturbo-Fauchen unter Volllast setzt in Gedanken schon die Unterschrift unter den Kaufvertrag. Ein dreifaches Wow! Und riecht es nach einer neuen Hockenheim-Bestmarke? Der 765LT fliegt mit 136 km/h durch die Nordkurve. Anschließend spät anbremsen auf Turn 2, zackig in die Rechtskurve einlenken und traktionsstark durch den folgenden Linksbogen auf die Parabolika herausbeschleunigen – so müsste sich die nächste Kurvenkombi im Idealfall anfühlen. So fühlt sie sich aber nicht im 765LT an.

Wenn man mit der elektrohydraulischen Lenkung, die übrigens eine famose Rückmeldung bietet, zackig einlenkt, verliert die Hinterachse schlagartig Grip. Überfallartiger Haftungsabriss droht auch beim Herausbeschleunigen. Die Fahrstabilität und der mechanische Grip sind im 765LT nicht perfekt. Bereits in Turn 2 ist klar, dass der 765LT zeitentechnisch nicht an den AMG GT Black Series und schon gar nicht an den Überflieger Senna herankommen wird. Noch mehr: Der bereits getestete 720S mit Track Pack und Trofeo-Bereifung punktete in beschriebener Kurvenkombination mit mehr Fahrstabilität beim Einlenken und anschließend besserer Traktion.

Das Leistungsübersteuern von 765 nicht ganz turbolochfrei einsetzenden PS sorgt nicht nur für schwitzige Handflächen, sondern kostet speziell an besagtem Streckenabschnitt auch wertvolle Zehntelsekunden, da beim Herausbeschleunigen auf die Parabolika nicht so viel Schwung mitgenommen werden kann. So verwundert es nicht, dass der 765LT trotz seiner Mehrleistung von 45 PS mit 282 km/h nur 1 km/h schneller als der 720S bei der Topspeed-Messung auf der Parabolika ist. Jammern auf hohem Niveau: Nur der Senna war mit 286 km/h hier bisher schneller.

Bremsmeister 765LT: 17,8 m/s²

McLaren 765LT, Exterieur
Hans-Dieter Seufert
Die Bremsstabilität ist auch dank der guten ABS-Regelung und der Airbrake-Funktion sehr gut. Der Verzögerungswert qualifiziert sich mit 17,8 m/s² für die Champions League.

Sechster Gang, Volllast – die Spitzkehre fliegt heran. Anbremsen, vier Mal an der linken Schaltwippe zupfen, runter bis in den zweiten Gang. Wahnsinn, wie fix der 765LT unter Auspuffaufbrüllen die Gänge runterhämmert – die Gangwechsel sind 15 Prozent fixer als beim 720S, dessen Siebengang-DKG schon zu den Klassenschnellsten zählte.

An diesem Streckenabschnitt erarbeitet sich der 765LT außerdem mit seinem späten Bremspunkt und der massiven Verzögerung großes Lob. Neben der guten ABS-Regelung hat auch die McLaren-typische Airbrake-Funktion, also der beim Anbremsen steil aufgestellte Heckflügel, einen großen Anteil daran. Die Bremsstabilität ist sehr gut. Der Verzögerungswert qualifiziert für die Champions League: 17,8 m/s²! Hier war bisher nur einer noch besser – der Überflieger Senna mit 19,6 m/s².

Doch die gut dosierbare Bremse und die brachiale Verzögerung helfen nur bedingt, wenn es sonst an der Fahrstabilität hapert. Die spitz anlenkende Vorderachse, der mäßige mechanische Grip an der Hinterachse und die nervösen Lastwechselreaktionen – keine guten Voraussetzungen, damit man die 25 Prozent mehr Gesamtabtrieb als beim 720S im schnellen Rechtsknick vor der Mercedes-Tribüne nutzen kann. Mit 191 km/h ist das Kurventempo des 765LT hier nur 1 km/h schneller als das des 720S. Mit massiven Traktionsproblemen verschenkt der 765LT anschließend in Turn 8, 9 und 10 wieder viel Zeit. Durch seine bessere Balance war der Kurvenspeed in Turn 10 mit dem 720S 5 km/h höher als im 765LT.

Eingang Motodrom, Sachskurve, Senke, Südkurve – auch im letzten Teil der Runde muss die unausgewogene Balance des 765LT mit viel Konzentration am Gaspedal und wiederholten Lenkkorrekturen im Zaum gehalten werden. Einfach fahrbar? Nein, selbst mit traktionskontrollenartiger Unterstützung des ESC-Dynamic-Modus – von "ESC off" mal ganz zu schweigen. Eigentlich erübrigt sich die Frage, ob der 765LT schneller als der 720S mit Track Pack und Trofeo-R-Pneus ist: Mit 1.46,2 Minuten ist das LT-Modell deutliche sieben Zehntelsekunden langsamer.

McLaren 765LT, Interieur
Hans-Dieter Seufert
Christian Gebhardt, Testredakteur: Der 765LT geht wie die Hölle. Die Traktion müsste aber für eine noch schnellere Rundenzeit besser sein.

Boxenstopp, Fahrerwechsel – jetzt klettert Jens ins LT-Cockpit. Runden später in der Box sieht er genauso aus wie ich nach meinem 765LT-Ausflug: durchgeschwitzt, so als ob der Schnellwaschgang durchs McLaren-Cockpit getobt wäre.

In bester Jürgen-Emig-Tour-de-France-Gedächtnis-Manier wird der Fahrer noch im Sattel nach der Zieldurchfahrt interviewt. Jens, wie fühlst du dich? "Ui, jui, jui, sag ich mal. Das Ding hat Druck bis zum Abwinken. Ich bin häufiger quergefahren, als ich wollte. Tatsache ist aber auch, was alle McLaren ja können, die Lenkung ist sensationell. Auch das Pedalgefühl der Bremse ist der Hammer. Dass du keine schnellere Zeit als beim 720S hinbekommen hast, das leuchtet mir jetzt auch ein. Das ist schon Adrenalin auf ganz hohem Niveau", schildert Kollege Dralle seine Eindrücke vom 765LT.

Danke, Jens, für das Interview, ich springe jetzt mal schnell in den 620R. Da uns die Streckenzeit am Testtag wegläuft, heute nur eine Kurzvorstellung des auf 225 Einheiten limitierten GT4-Doppelgängers mit Straßenzulassung. Die Frontschürze mit Flics und Splitter (für den Straßeneinsatz etwas eingekürzt), die Fronthaube mit den markanten Luftöffnungen sowie die Heckpartie mit zerklüftetem Diffusor und dreifach einstellbarem Heckflügel – äußerlich erinnert der 620R stark an den GT4-Rennwagen McLaren 570S GT4.

Bereits in der Nordkurve macht die Rennwagen-Kopie mit Nummernschild dir klar, dass es hier nicht so schweißtreibend wie im größeren Bruder 765LT wird. Der 620R trägt das einstellbare GT4-Rennfahrwerk, dessen Dämpfer in Zug- und Druckstufe justierbar sind. Straffere Federn, steifere Stabis und Uniball-Domlager ergänzen das Paket. Und wie steht’s hier um die Balance des ebenfalls mit Trofeo R bereiften 620R? Im direkten Vergleich zum 765LT ist die Vorderachse im 620R nicht ganz so spitz, sondern mit einer spürbaren Tendenz zum Untersteuern abgestimmt. Und die Hinterachse? Sie verhält sich fahrstabiler.

Die Suche nach Fahrstabilität

McLaren 620R, Exterieur
Hans-Dieter Seufert
Mit einem guten Mix aus mechanischem und aerodynamischem Grip vermittelt der 620R viel Vertrauen am Limit. Das leichte Untersteuern entschärft die Hinterachse.

Turn 2/Anfahrt Parabolika: Ganz so spät wie im 765LT kann man im 620R nicht den Bremspunkt setzen. In die Kurve reinbremsen und auf der Bremse einlenken gelingt hier trotzdem besser, da gierfreudige Reaktionen anschließend unterbleiben. Das leichte Untersteuern entschärft die Hinterachse.

Sein 620 PS starker 3,8-Liter-V8-Biturbo spricht übrigens etwas spontaner an als der doppelt aufgeladene Vierliter-V8. Während der Drehmoment-Punch im 765LT nach einer Gedenksekunde mit der Sanftheit einer Klitschko-Geraden zuschlägt, punktet der 620R mit der homogeneren Leistungsentfaltung. Ergebnis: Hier kannst du früher aufs Gas gehen. Die geringere Leistung trifft dabei noch auf eine bessere Traktion. Unter Last drückt das Heck hier nur leicht. Das Leistungsübersteuern setzt nicht schlagartig, sondern mit vorhersehbarem Übergang ein.

Parabolika: Während der 620R auf der Parabolika maximal 259 km/h erreicht, stürmte seine Basis namens 600LT mit 600 PS Nennleistung hier mit 271 km/h. Auch auf der Start-Ziel-Geraden ist der 620R 5 km/h langsamer als einst der 600LT. Spurensuche: 85 Kilo mehr Gesamtabtrieb bei 250 km/h soll der 620R im Vergleich zum 600LT generieren. Das Abtriebsplus schluckt deutlich Topspeed. Außerdem stand der bereits getestete 600LT mit gemessenen 618 PS (Supertest 9/2019) gut im Futter. Anbremsen Spitzkehre: früherer Bremspunkt und unruhigere ABS-Regelung als beim 765LT. Der Verzögerungswert von 14,2 m/s² ist trotzdem gut. Beim Herunterschalten wünscht man sich die zackigen Gangwechsel des 765LT. Das 620R-DKG schaltet etwas gemütlicher die Gänge runter.

Rechtsknick vor der Mercedes-Tribüne? Geht im vierten Gang mit 193 km/h fast voll. Spürbares Untersteuern auch hier. Mit einem guten Mix aus mechanischem und aerodynamischem Grip vermittelt der 620R in dieser Highspeed-Kurve aber viel mehr Vertrauen am Limit als der 765LT. Auch in den Stadion-Kurven des Motodroms bis zurück auf die Start-Ziel-Gerade begleitet das Untersteuern den 620R-Auftritt. Der 600LT präsentierte sich seinerzeit mit neutralerem Fahrverhalten spürbar agiler. Und die Rundenzeit? 1.49,4 min im 620R zu 1.48,9 min im 600LT. Angesichts des Untersteuerns und der geringeren Topspeed-Werte verwundert die um eine halbe Sekunde langsamere Rundenzeit nicht.

Man muss es so klar sagen: Sowohl die Abstimmung des übersteuernden 765LT als auch des untersteuernden 620R sind heute nicht rekordverdächtig. Die Schlussworte meines Kollegen Jens treffen es perfekt auf den Punkt: "Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen."

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