EU-Richtlinien zur Luftreinhaltung
Der K(r)ampf mit dem Grenz- und Messwert

Luftschadstoffe zu messen und Verbesserungen zu überwachen, ist gut. Politisch festgelegte Grenzwerte trotz unpräziser Messvorschriften zum Auslöser für Zwangsmaßnahmen zu machen, ist falsch.

Grenzwert, Messwert, Luftreinhaltung
Foto: auto motor und sport

Zahlen sind eine Abstraktion, ohne die eine moderne Zivilisation nicht denkbar ist. Aber in Gesetze gegossen verstellen sie bisweilen den Blick aufs Wesentliche. Der Richtwert der Weltgesundheitsorganisation WHO etwa für den NO2-Anteil von einem Kubikmeter Luft liegt bei 40 Mikrogramm. Diese Empfehlung hat die EU eins zu eins ins Gesetz übernommen. Beim von Experten als erheblich gefährlicher eingestuften Feinstaub (PM2,5) wird aus einem Richtwert von 10 Mikrogramm aber ein Grenzwert von 25 Mikrogramm. Das sind 150 Prozent Abweichung.

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Liegt der NO2-Messwert am Stuttgarter Neckartor hingegen gut 25 Prozent höher als der Grenzwert, schützt nicht mal mehr der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Euro-4-Diesel vor einem Fahrverbot. Zwischen den Abweichungen liegt im einen Fall eine reale Messung, im anderen Realpolitik – der Richtwert war als in der Praxis unerreichbar eingestuft worden. Das mag man wahlweise unambitioniert oder pragmatisch finden. Tatsache ist aber: Wäre man mit dem NO2-Grenzwert ähnlich umgegangen, sprächen wir heute nicht über Fahrverbote. Und vermutlich auch nicht darüber, ob die Methoden zur Ermittlung der Grenzwerte wissenschaftlich korrekt sind, oder darüber, wie man Luftschadstoffe misst. Denn auch das ist ein weites Feld.

Keine Messung ohne Ziel

Im ersten Fall sind die Vorschriften zur Aufstellung zumindest kreativ ausgelegt: Der Einlass der Station muss sich nämlich „1,5 bis 4 Meter über dem Boden“ befinden. Das passt in Griechenland nur, wenn man als Boden das Dach des 35 Meter hohen Universitätsgebäudes definiert. Zugegeben, im selben Absatz der Richtlinie 2008/50/EG steht: „Ein höher gelegener Einlass kann auch angezeigt sein, wenn die Messstation für ein größeres Gebiet repräsentativ ist.“ Die Station am Neckartor bewegt sich exakter im gesetzlichen Rahmen, reizt aber den Spielraum in die andere Richtung schmerzhaft aus: Sie soll „höchstens zehn Meter vom Fahrbahnrand entfernt sein“, kommt aber grade mal auf zwei. Vielleicht wäre sie völlig unbekannt, wenn sie – legalerweise – 9,7 Meter vom Fahrbahnrand entfernt stünde und ihr Einlass auf vier statt auf zwei Metern läge.

Aristotle University of Thessaloniki campus building northern Greece. Image shot 2009. Exact date unknown.
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In Griechenland geht man mit den Vorschriften zur Aufstellung von Messstationen gelassener um.

Stattdessen hat man am Neckartor Filter installiert, und die Landesregierung will jetzt die Zahl der Messstellen von 14 auf 52 erhöhen – damit die Problemstation Neckartor weniger ins Gewicht fällt. Auch eine Möglichkeit, Messwerte und Realität in Einklang zu bringen.

Autos sauberer als Stadtluft

Sinnvoller: NOX-Emissionen an den relevantesten Quellen reduzieren. Da gehören Diesel-Pkw dazu. Der Witz: Das passiert mit der Einführung der Abgasnorm Euro 6d-Temp massiv. Kein einziger von auto motor und sport gemessener Neu-Diesel stieß noch nennenswerte NOX-Mengen aus. Und gemessen wird dabei ohne Abstand, fugendicht am Auspuff. Eindeutiger geht’s nicht.

Luftreinhaltung statt Fahrverbot?

In Deutschland regt sich breiter Widerstand gegen das Aussperren von Dieselfahrzeugen. Die Frage ist, ob die Städte mit neuer Technologi nicht auch ohne Fahrverbote die Grenzwerte einhalten.

Während man in Stuttgart an den verhängten Fahrverboten festhalten möchte, bemüht sich München, genau dies abzuwenden. Das zeigt die Zerrissenheit in Deutschland zu diesem Thema. Was aber Fakt ist: Schon bevor die Fahrverbote in Hamburg und Stuttgart überhaupt in Kraft traten, verbesserte sich bereits die Luftqualität an den Diesel-Hotspots.

Das Umweltbundesamt sammelt und bewertet die Messdaten aus über 500 Messstationen deutschlandweit. Die Stickstoffdioxid-Belastung (NO2) geht demnach in Deutschland zurück. 2018 wurde der Grenzwert für NO2 von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresmittel in etlichen deutschen Städten nicht eingehalten. Überschreitungen traten – hochgerechnet – an rund 39 Prozent der verkehrsnahen Messstationen auf (2017: 45 Prozent). Bedeutet: Im Mittel ist die NO2-Belastung deutschlandweit um etwa zwei Mikrogramm gegenüber dem Vorjahr rückläufig.

Das zeigt zumindest die vorläufige Auswertung der Messdaten der Länder und des Umweltbundesamtes. Die finalen Zahlen sind laut UBA wohl erst im Mai verfügbar. Die Verbesserung der mittleren NO2-Werte lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen: lokale Maßnahmen wie Tempolimits oder Verkehrseinschränkungen, die ersten Auswirkungen der Umtauschprämien, die in die Anschaffung moderner Fahrzeuge münden, oder Software-Updates. Sogar das Wetter kann die Ausbreitung von Luftschadstoffen begünstigen oder verschlechtern. Welche Maßnahmen zu welchen Erfolgen führen, bleibt unklar. Fakt ist aber, dass die hohen Messwerte nicht allein dem Diesel als Übeltäter zugeschrieben werden können.

„Luft-Filter“ am Neckartor

Ein deutschlandweites Pilotprojekt des Filterspezialisten Mann + Hummel schürt selbst in Stuttgart Hoffnungen, auf noch striktere Fahrverbote verzichten zu können: Seit Dezember stehen am Neckartor 17 Filter-Säulen, die neben dem Feinstaub neuerdings auch das schädliche NO2 aus der Luft saugen. „Mit unserer Technologie können wir 40 Prozent der verkehrsbedingten Emissionen kompensieren“, sagte Werner Lieberherr, Chef von Mann + Hummel, kürzlich. In den Säulen saugen Ventilatoren Umgebungsluft an. Über ihre poröse Oberfläche und den Einsatz von Aktivkohlefiltern wird NO2 und Feinstaub aus der Luft genommen. Das könnte sich am Neckartor als echte Alternative zu Fahrverboten erweisen, hoffen Anwohner und Dieselfahrer.

Fahrverbote ade?

Hoffen dürfen auch viele andere Städte in Deutschland, die 50 Mikrogramm Stickoxid nicht überschreiten. Denn Mitte März will der Bundestag Fahrverbote in allen Städten unter dieser Grenze als unverhältnismäßig erklären.

Das würde bedeuten, dass zum Beispiel Hamburg die Fahrverbote in der Max-Brauer-Allee (46 Mikrogramm) und in der Stresemannstraße (45 Mikrogramm) wieder zurücknehmen muss. Viele andere Städte, die noch keine Fahrverbote eingeführt haben, könnten ihre Pläne gleich ganz zu den Akten legen.

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AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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