Unfallforscher Siegfried Brockmann im Interview
„Meist ein Fahrstufen-Irrtum“

Unfallforscher Siegfried Brockmann glaubt in den meisten Fällen nicht an Pedal-Verwechslung.

Sicherheitskampagne Siegfried Brockmann Unfallforschung der Versicherer
Foto: Unfallforschung der Versicherer

In vielen Polizeiberichten heißt es, Gas- und Bremspedal seien verwechselt worden. Glauben Sie das auch?

Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man sich im Irrtum über die eingelegte Fahrstufe befindet. Man glaubt, man habe die Rückwärtsstufe drin, die Automatik steht aber auf "vorwärts". Das ist etwas, was auch jüngeren Fahrern passieren kann. Der große Unterschied ist aber: Jüngere erkennen ihren Irrtum blitzartig und stehen sofort auf der Bremse. Bestehen wie bei einigen Senioren kognitive Defizite, benötigen sie zu lange, um das Problem zu erkennen und richtig zu lösen. In Panik machen viele dann leider das Falsche.

Rücksicht hat Vorfahrt

Wie erklären Sie sich die vielen Schaufenster-Unfälle in der Hamburger Waitzstraße?

Die Straße wird trotz Tempolimit relativ schnell durchfahren. Man kann beim Rückwärtsrausfahren daher schlecht erkennen, ob gerade jemand kommt oder nicht. Deshalb versuchen einige, zügig zurückzusetzen, wenn sich gerade eine Lücke auftut. Das heißt, ein gewisser Druck aufs Gaspedal ist schon mal eingepreist. Wenn man dann die Automatik auf "D" statt auf "R" eingestellt hat, fährt man in Richtung Schaufenster.

Begünstigen moderne Automatikwählhebel das Problem?

Leider gibt es eine ganze Menge Joysticks, die durch ihre Stellung gar nichts mehr über die eingelegte Fahrstufe verraten. Dazu kommt: Wer rückwärtsfahren will, muss den Wählhebel nach vorne schieben, also entgegen der geplanten Fahrtrichtung. Umgekehrt ist es genauso: "D" für "nach vorne fahren" liegt hinten. Das ist intuitiv genau falsch herum. Deshalb wäre ich fast durch die Bootsführerscheinprüfung gefallen, weil "geradeaus" auf dem Schiff richtigerweise bedeutet: Hebel nach vorn!

Wie gefährlich ist Automatik insbesondere für Senioren?

Bei einem Schaltgetriebe lässt sich der Rückwärtsgang nicht einfach so einlegen, man muss meistens einen Widerstand überwinden. Also zum Beispiel den Hebel runterdrücken oder hochziehen. Das ist bei einer Automatik leider nicht der Fall.

Sicherheitskampagne
Achim Hartmann
Mini-Automatikschalter im VW Golf.

Wäre ein Schaltgetriebe für viele Senioren dann nicht besser?

Theoretisch ja, praktisch nein. Statistisch betrachtet lassen die kognitiven Fähigkeiten im Alter stark nach. Und jeder Schaltvorgang kostet kognitive Kapazität. Auch wenn man das selbst gar nicht so wahrnimmt. Da entlastet die Automatik Senioren außerordentlich. Deswegen würde ich nicht dazu raten, keine Automatik zu fahren. Die Hersteller müssten an der Schnittstelle Mensch-Maschine technische Möglichkeiten finden, dem Fahrer die gerade eingelegte Fahrstufe bewusster zu machen.

Was halten Sie von verpflichtenden Fahrtauglichkeitstests?

In Deutschland wären Untersuchungen ohne individuellen Anlass verfassungswidrig, wenn sie nicht ein immer richtiges Ergebnis generieren. Genau das ist aber bei einer vielleicht 45 Minuten kurzen Prüfungsfahrt das Problem. Auch, weil das Ergebnis von sehr vielen Zufällen abhängig ist. Es kann sein, dass keine einzige kritische Situation entsteht oder jemand aus Nervosität Fehler macht. Eine ausführliche Überprüfung, wie wir es bei der MPU machen, wäre aber für ein anlassloses Screening viel zu teuer und sozial auch nicht hinnehmbar.

Was wäre besser?

Eine obligatorische Rückmeldefahrt ab 75, deren Ergebnis unter vier Augen bleibt und keine direkten Auswirkungen auf den Führerschein hat. Damit holt man das Thema aus der Familie raus und bekommt stattdessen eine realistische Einschätzung von einem unabhängigen Profi.

Statistisch gesehen sind ältere Leute – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – gar nicht an so vielen Unfällen beteiligt …

Das ist wie Äpfel und Birnen zu vergleichen. Senioren fahren viel weniger Auto, und es gibt in ihrer Altersgruppe auch nicht mehr so viele Führerscheininhaber. Berücksichtigt man die gefahrenen Kilometer, sieht man, dass bei Senioren die Zahl der selbst verursachten Unfälle ähnlich hoch ist wie bei jungen Leuten.

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