Saubere Stadtrundfahrt
Oldtimer-Busse mit E-Antrieb statt Diesel

Die Berliner Tassima AG rüstet bis zu 35 Jahre alte Stadtrundfahrt-Doppeldecker-Busse auf Elektroantrieb um.

IAV Elocity, Busumrüstung, Berlin
Foto: IAV

Die Busse waren früher bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) im Einsatz, nach ihrer Ausmusterung erfolgte die Umrüstung zu Stadtrundfahrt-Bussen – seit den 1990er-Jahren unter anderem durch die Montage eines Cabrio-Daches für das Oberdeck. Die Busse sind bislang mit Dieselmotor unterwegs, Tassima möchte das jetzt ändern und stößt bei den Betreibern der Busse auf offene Ohren – schließlich ist nicht klar, ob ihr Fuhrpark auch mal von einem Diesel-Fahrverbot betroffen sein wird.

Unsere Highlights

Neue Hinterachse mit Radnaben-Motoren

Den elektrischen Antriebsstrang, den Tassima anstelle des Diesel-Antriebs in den Bussen einbaut, haben der Berliner Ingenieur-Dienstleister IAV und der baden-württembergische Zulieferer Ziehl-Abegg gemeinsam entwickelt. Eine der wichtigsten Komponenten ist die neue Hinterachse. Sie trägt zwei Radnaben-Motoren, die jeweils 8.750 Newtonmeter (insgesamt also 17.500 Newtonmeter) auf die Straße bringen – bei den alten Dieselantrieben standen insgesamt gerade mal 3.000 Newtonmeter zur Verfügung. Die fünffache Kraft kommt von zwei per Permanentmagnet erregten Synchronmotoren ohne Untersetzungsgetriebe, die Rotorgeschwindigkeit entspricht der Radgeschwindigkeit. Ihre Energie beziehen die Aggregate von einem auf vier Module aufgeteilten 700-Volt-Lithiumionen-Akku mit einer Speicherkapazität von 145 Kilowattstunden. Da viele Hersteller die geforderten Batterien nicht liefern konnten, entwickelt IAV eigene Akkus. Damit kommt der Bus im Stadtrundfahrtsbetrieb mindestens 120 Kilometer weit, garantiert Tassima. Die Ladezeit an einem 380-Volt-Anschluss beträgt sechs Stunden.

Auch wenn die Umrüstung nach dem Motto „Bewahrenswertes erhalten“ erfolgt, müssen viele weitere Komponenten getauscht oder erneuert werden. So gibt es eine wassergekühlte Leistungselektronik, ein On-Board-Ladesystem, einen Gleichspannungswandler für die Umsetzung von Hochvolt auf Niedervolt, ein neues Anzeigesystem für den Fahrer über den Batterieladestand und weitere Statusmeldungen, eine Standheizung für den Fahrer und die Fenster, eine Lenkhilfepumpe und einen Kompressor für die Druckluftversorgung von Bremsen, Fahrwerk und Türen. Vorher kam die Druckluft von einem an den Dieselmotor gekoppelten Kompressor.

E-Antrieb ideal für Stop-and-Go-Verkehr

Der erste fahrfähige Prototyp ist bereits gebaut, mit einer Zulassung des Antriebsstrangs rechnet Tassima im Juli/August 2019. Die Kosten für den Umbau sollen bei einer Kleinserienproduktion auf 200.000 Euro pro Fahrzeug sinken, bei der aktuellen Prototyp-Produktion ist der Preis noch etwas höher. Damit die Stadtrundfahrt-Anbieter die Busse weiterhin wirtschaftlich betreiben können, kauft sie Tassima auf und verleast oder vermietet sie an die Stadtrundfahrt-Unternehmen zurück. Ein weiterer Vorteil dieses Systems ist, dass sich die Unternehmer weniger um die Busse kümmern müssen und dass Tassima nicht in Gewährleistungsfallen durch nicht selbst verursachte Schäden tappt. Sollte etwas kaputt gehen, verspricht der Umrüster die Bereitstellung eines Ersatzfahrzeugs innerhalb von 48 Stunden. Für den laufenden Betrieb geht der Umrüster von deutlichen Kostenersparnissen aus: Im Vergleich zu den nicht auf geringe Geschwindigkeiten von zehn bis 20 km/h sowie häufiges Anfahren und Abbremsen ausgelegten Dieselmotoren bräuchte der rekuperationsfähige (Energie-Rückgewinnungs-fähige) Elektroantrieb deutlich weniger Wartung. Ebenso würden die Energiekosten kräftig sinken. Außerdem sollen die lokal emissionsfreien und geräuscharmen Busse in der Stadt eine höhere Akzeptanz genießen und den Betreibern somit möglicherweise einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Anbietern klassischer Diesel-Busse bieten.

Ab Juli 2019 baut Tassima eine erste Kleinserie von 25 Bussen um, bis April 2020 sollen 50 Busse geschafft sein, in drei Jahren könnten deutschlandweit 250 Busse den E-Antrieb bekommen haben. Voraussichtlich im August 2019 wird der erste umgerüstete Doppeldecker Touristen rein elektrisch durch Berlin fahren. Laut Tassima-Chef Roland Prejawa ist das Interesse anderer Großstädte an den Umbauten inzwischen riesengroß: Paris, Lissabon, Brüssel, Krakau, St. Petersburg und Städte aus Italien hätten sich bereits gemeldet, erste Gespräche gibt es auch mit Madrid und Barcelona. Der IAV Elocity genannte elektrische Antriebsstrang kann zudem an verschiedene Nutzfahrzeuge individuell angepasst werden. IAV und Ziehl-Abegg bieten ihn nicht nur als Retrofit-Nachrüstsystem an, sondern stellen ihn auch Nutzfahrzeugherstellern für deren Serienproduktion zur Verfügung.

Fazit

Alter Diesel raus, neuer Elektroantrieb rein – was sich einfach anhört, ist eine komplizierte Aufgabe. Diese haben Tassima, IAV und Ziehl-Abegg bei der Umrüstung alter Berliner Doppeldecker-Busse gemeistert. Gut so, schließlich ist ein elektrischer Antrieb mit seinem schon im Stand anliegenden hohen Drehmoment ideal für den Stop-and-Go-Verkehr in der Stadt. Auch die langsamen Geschwindigkeiten verträgt ein Elektromotor besser als ein Diesel-Aggregat. Weitere Vorteile sind die lokal emissionsfreie Fahrt und das niedrige Geräuschniveau. Den Stadtrundfahrtbus-Betreibern dürfte die Zukunftssicherheit des Antriebs genauso gefallen wie die im Vergleich zu Dieselantrieben deutlich geringeren Energie- und Wartungskosten. Hinzu kommt das Geschäftsmodell mit den von Tassimo geleasten oder gemieteten Bussen, das den Stadtrundfahrt-Anbietern einen Teil der mit den Fahrzeugen verbundenen Risiken und Lasten nimmt. Kein Wunder, dass sich inzwischen auch Großstädte aus dem Ausland für die Tassimo-Umrüstungen interessieren.

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Erscheinungsdatum 08.05.2024

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