Mercedes SLS AMG E-Cell im Fahrbericht
Schub wie im freien Fall

Der Mercedes SLS AMG E-Cell steht kurz vor der Serienreife und erklimmt mit seiner aufwendigen Technik eine neue Stufe der Fahrdynamik. Wir machen im Fahrbericht eine exklusive Probe aufs Exempel.

Mercedes SLS AMG E-Cell, Seitenansicht, Driften
Foto: Hans-Dieter Seufert

"Es geht in Richtung Flugzeug", referiert AMG-Entwicklungschef Tobias Moers über die aufwendige Technologie im Mercedes SLS AMG E-Cell und legt dezent die Stirn in Falten. Die Komplexität des Elektrofahrzeugs verlangt nach maximaler Überwachung: Systeme kalkulieren und prüfen an allen Orten, rechnen und regeln, damit im wahrsten Wortsinn nichts aus dem Ruder läuft.

Denn der Mercedes SLS AMG E-Cell ist mit seinen vier Elektro-Herzen in der Lage, althergebrachte Vorstellungen von Fahrdynamik und Fahrphysik in Frage zu stellen. Einerseits schießt sich der ab 2013 lieferbare Supersportwagen wie selbstverständlich in vier Sekunden auf Tempo 100 und weiter bis maximal 250 km/h. Andererseits könnte er auch noch wie ein Borkenkäfer auf der Stelle wenden.

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Perfekter Drift könnte programmiert werden

"Wir könnten dem Mercedes SLS AMG E-Cell eine Panzerwende in die Steuerelektronik einprogrammieren", grinst Moers. "Oder einen in der Sachskurve des Hockenheimrings perfekt zelebrierten Drift", ergänzt einer seiner Entwickler. Alles im Konjunktiv. Dagegen hat die vollvariable Momentenverteilung des SLS ganz real ein herkömmliches Torque-Vectoring mit mechanischen Differenzialen gnadenlos überrundet. Im Gegensatz zum Audi R8 E-Tron, der noch auf Heckantrieb setzt, treiben den Elektro-SLS vier einzeln angesteuerte, mit Untersetzungsgetriebe je 80 Kilogramm schwere E-Motoren an. Dieser Freiheitsgrad der Momentenverteilung ergibt faszinierende Möglichkeiten, denn die je vier rund 100 kW oder 220 Nm können al gusto an jedes einzelne Rad verteilt werden.

Um der Anforderungen Herr zu werden, steckt der Mercedes SLS AMG E-Cell voller Patente und Innovationen. So nimmt ein eigens entwickelter Mitteltunnel aus Kohlefaser das 550 Kilogramm schwere Batteriepaket mit einer Kapazität von über 48 kW/h auf und dient dank seiner hohen Steifigkeit zudem der Crashsicherheit. "Die Batterie selbst ist beherrschbare Technik, das Wohlfühlen der Akkus ist das wichtigste Gut", weiß Moers. Die Kühlung oder im Falle eines Falles auch die Sicherung der rund 1.200 Einzelzellen sind dementsprechend ein Kapitel für sich.

Mercedes SLS AMG E-Cell surrt wie ein Wespennest

Eines, das im Laufe der fast zweijährigen Entwicklung schon länger geschlossen ist. "Seit Anfang des Jahres arbeiten wir nur noch an der Feinarbeit einzelner Parameter", sagt Moers. Und auch hierbei befindet sich die AMG-Mannschaft kurz vor dem Zieleinlauf, wie der Erstkontakt mit einem der drei auf dem Testgelände in Papenburg stationierten Versuchsträger zeigt. Die Tür schwingt hoch, und siehe da, man sieht nichts. Ein Mercedes SLS wie eh und je – abgesehen vom ehemaligen Drehzahlmesser, der nun die Leistungsmodi und die Rekuperation dokumentiert, deren Intensität wiederum mit den einstigen Schaltwippen in mehreren Stufen variiert werden kann.

Start: klick, kurzes Surren. Der Mercedes SLS AMG E-Cell ist scharf. Bereit, um im C-Modus geschmeidig Fahrt aufzunehmen. In den Tiefen von Motoren und Getrieben formiert sich das gedämpfte Surren eines Wespennests. Der rechte Fuß fällt, der Leistungszeiger zuckt: ein Sprung nach vorn wie aus dem Nichts, und doch noch nicht die ganze Wahrheit. "Im Komfort-Programm geben wir nur maximal 80 Prozent der Leistung frei", schmunzelt Tobias Moers.

Genug, um den 2,1-Tonner locker längs-, aber leicht behäbig querdynamisch zu schultern. Eher limousinenhaft wuchtet die vom herkömmlichen SLS übernommene elektrohydraulische Lenkung den Mercedes SLS AMG E-Cell ums Eck. Eine gesetzte Charakteristik, um entspannt Strecke zu machen – 250 Kilometer maximal soll die Reichweite betragen. Aber eben nur, wenn die Finger nicht am Drehrädchen spielen und Stufe S anfordern.

Mercedes SLS AMG E-Cell lenkt ein wie auf Schienen

Ein Schalter-Klick, und Dr. Jekyll wird in Millisekunden zu Mr. Hyde, schaltet auf 100 Prozent Leistung und verteilt vollen Nackenschlag. Ein Schub wie ein freier Fall, was die Frage nährt, ob Kurzschluss im System oder doch Leistungsuntertreibung der Fall ist. Der Entwickler auf dem Beifahrersitz grinst und schweigt nachhaltig. Auch eine aussagekräftige Antwort. Der Fahrer hingegen jubiliert, weil der Mercedes SLS AMG E-Cell plötzlich einlenkt wie auf Schienen und um die Ecken zoomt wie am Zirkel geführt. An der Lenkübersetzung oder -unterstützung hat sich nichts getan, an der Agilität jedoch sehr wohl. Der Fahrer gibt den Wunsch vor, und in den doppelten Rechenzentren geht die Post ab. Die freie Momentenverteilung läuft auf Hochtouren und an allen Vieren. Kraft nach vorne links und hinten rechts oder doch paarweise und dann wieder zurück – Arbeit paradox, Wirkung unglaublich beeindruckend.

In Stufe S Plus spitzt sich die Lage noch weiter zu. Als würde sich der Mercedes SLS AMG E-Cell auf Knopfdruck noch mehr Kilos vom Leib reißen, stürzt er sich in eine fahrdynamisch neue Dimension. Er schlägt die Fliehkraft in die Flucht, verschmilzt Scheitelpunkt mit Gravitationsmittelpunkt, lässt sich bei deaktiviertem ESP sogar zum Drift hinreißen. Und dabei scheint: Der Fahrer denkt, der Wagen lenkt, so stabil bewegt sich der Elektro-SLS im doch so instabilen Fahrzustand. Und alles, weil sich das ESP – ob primär über die freie Momentenverteilung oder weit im Hintergrund via Bremseneingriff – verstärkt in den Dienst der Fahrdynamik stellt.

Fazit: Der Mercedes SLS AMG E-Cell ist ein 350.000 Euro teurer Überflieger, bald real und doch irgendwie abgehoben. Die Flügel dazu hat er schließlich schon.

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