Rolls-Royce Spectre
Unterwegs im ersten Serien-Rolls mit Stecker

Der erste vollelektrische Rolls-Royce kommt so souverän, als ob es nie ein anderes Superluxus-Coupé gegeben hätte. Der Gründer hat es eh schon immer gewusst. Bühne frei für Spectre!

Anmerkung der Red: Das Video oben zeigt den Rolls-Royce Spectre als Vorserien-Modell während einer Fahrt im Februar 2023. Der nachfolgende Text behandelt die Fahreindrücke mit dem Serienmodell.

Charles Stewart Rolls war nicht nur Unternehmer, Autorennfahrer, Flugpionier sowie der erste Brite, der bei einem Absturz starb, sondern auch Visionär. Er wusste bereits 1900 um die konzeptionellen Vorteile der Elektromobilität, sobald nur genug Ladestationen errichtet werden. Klingt logisch? Dann dürfte es Sie kaum verwundern, dass Rolls-Royce elektrisch wird. Viel verwunderlicher für den Fanclub der Spirit of Ecstasy ist ohnehin, warum erst jetzt? Schließlich definierte sich die Marke stets über diskreten Luxus und Kraftentfaltung ohne Antriebsdominanz. Eine vollkommene Dezenz, die in dem Ausspruch mündete, das Lauteste im Innenraum sei das Ticken der Uhr. Geschichte – das Teil tickt wie seit seinen Vorgängern nicht mehr. Genauso wenig, wie beim Spectre Kolben durch Zylinder sausen und in den Zylinderköpfen explosive Stimmung herrscht.

Der große E-Ratgeber

2,9 Tonnen, mit Alu-Spaceframe

Sagen wir es, wie es ist: Die beiden E-Maschinen an Vorder- und Hinterachse sind das Beste, was einem Rolls-Royce passieren kann. Der aktuelle Kunde sei, heißt es, überraschend jung, modern und habe mindestens sieben Autos in den Garagen. Typen wie Du und ich also – okay, fast -, die wie Rolls-Royce selbst über den Dingen stehen, konsequent auf halblebige Zwischenlösungen verzichten. Wie etwa einen Hybrid. Stattdessen: Ganz oder gar nicht. Es wird kein neues Rolls-Royce-Modell mehr mit Verbrenner geben, ab 2030 sind die Briten komplett elektrisch. Beginnend mit dem Spectre, inklusive des größten je bei Rolls gefertigten Dachteils, den längsten Türen, optional mit Sternenanimation. Im Dachhimmel funkelt es schon länger – samt Sternschnuppen. Und damit der Spectre nicht verglüht wie eine Schnuppe, bauen sie ihn mindestens so solide wie seine Geschwister, nutzen beim Package die Möglichkeiten der Elektroarchitektur.

2,9 Tonnen wiegt der 5,48 Meter lange viersitzige Zweitürer, wovon 700 Kilogramm aufs Konto des 102 kWh-Akkus gehen. Bekannt aus dem BMW i7, was kein Schaden ist. Zumal das im eh schon bocksteifen, voll skalierbaren Aluminium-Spaceframe-Chassis mit den stranggepressten Profilen untergebrachte Akku-Trumm die Steifigkeit um weitere 30 Prozent sowie die Geräuschdämmung gegenüber dem Boden um ein nicht beziffertes Maß erhöht. Nicht zu vergessen: der zentrale, tiefe Schwerpunkt. Der halbhohe Boden ermöglicht eine tiefe Sitzposition, die weit vorn positionierte Schottwand zusammen mit der stärker geneigten Frontscheibe ein besonderes Raumgefühl. Das sehen wir uns an, da lauschen wir rein. Nachdem uns noch vorher kurz die Türen aufhalten. Als Faszinosum. Wie diese anderthalb Meter langen Coach Doors kraftfrei öffnen und schließen, klasse. Kontrolliert per Läng- und Quersensorik sowie G-Meter, damit die ganze Chose bei jedem Winkel im gleichen Tempo funktioniert.

Power? Stets ausreichend

Damit der Rest des Coupés ebenfalls jeden Winkel in angemessenem Tempo erreichen möge, powern zwei elektrisch erregte Synchronmotoren, die ohne seltene Erden auskommen, dafür stets ausreichend Leistung bieten. Vorn 190 kW, hinten 360 kW, was in alter Währung einer Systemleistung von 584 PS sowie 900 Newtonmetern entspricht. Die sich genreüblich nicht erst lange entfaltet, sondern einfach da sind. Sofort, immer, direkt am Fuß. Allerdings in einer Rolls-Roye-exklusiven Abstimmung, wie der technische Direktor Mihiar Ayoubi betont. Pulling, not pushing. Das Superluxus-Coupé soll wie von einer sanften Hand gezogen werden. Gleichmäßig souverän, ohne Bissigkeit. In Kombination mit dem spürbaren Gewicht und der enormen Solidität des Spectre wirkt das besonders herrschaftlich, um, wenn es pressiert in 4,5 Sekunden auf 100 zu zoomen. Wenn es nicht so pressiert, kommt der Spectre nach WLTP 530 Kilometer weit. Eine Distanz, die die von Rolls-Royce bei ihren Kunden abgefragten Wünsche deutlich überträfe, heißt es.

Um dies zu erreichen, musste sogar die Kühlerfigur Spirit of Ecstasy ins Training. In 830 Stunden Arbeit im Windkanal und beim Modelleur erhielt sie ihre aerodynamischere Form. So wie der ganze Spectre, der trotz cW 0,25 Haltung bewahrt. Nicht nur optisch schon wegen seines von 22 LED hinterleuchteten Pantheon-Grills, sondern auch beim Fahren. Dank der erfreulich präzisen Allradlenkung, die Sie als Fahrer niemals belästigt, aber jederzeit da ist, den großen Wagen punktgenau zu platzieren, jedes Tempo gelassen mitzugehen. Unauffällig, sanft und kompetent, weder hibbelig noch bräsig. Fein, entfährt es einem da in einem schwachen Moment der Discontenance, wenn die kindliche Freude an der Fahrdynamik obsiegt und die Power Reserve-Anzeige im Digital-Cockpit kurz mal in niedrigere Regionen als üblich taucht.

Champagnertest? Kein Problem

Und man sich fragt, wie die Ingenieure um den sorgfältigen Herrn Ayoubi das wieder hinbekommen haben. Nun, mithilfe des sogenannten Planar-Fahrwerks, das Luftfederung, Adaptivdämpfer und entkoppelbare Adaptiv-Stabilisatoren quasi vorausschauend operieren lässt. Mithilfe dezentraler Intelligenz, die anders als anderswo gerade nicht auf ein zentrales Steuergerät, sondern schnelle, auf die jeweilige Aufgabe optimierte Signalverarbeitung in der Nähe der Quelle setzt. Zudem setzt der Spectre im Sinne sanfter Regelung und perfekter Absorption auch radindividueller Unebenheiten auf elektrisch beaufschlagte Stabis in 12V-Technik, statt auf stärkere mit 48 Volt. Viel Sorgfalt verwendet man auch auf eine ausgeglichene Steifigkeit von Karosseriezentrum sowie Front und Heckteil. Ziel ist, ein lineares Schwingungsverhalten des ganzen Wagens zu erreichen, gegenläufiges, unharmonisches zu verhindern.

Fakt ist: der Spectre fährt rund und homogen, rollt trotz der 23 Zoll großen Riesenräder recht kommod ab, entkoppelt die Karosserie ansonsten sorgsam von jeglichen Unebenheiten, ohne jemals in Wallung zu geraten. Krängen, Wanken oder Stampfen überlässt er anderen. Um den Eindruck abzurunden, arbeitet die Bremse mit relativ langem Pedalweg und sanftem, gleichmäßigem Pedalgefühl. Schließlich soll der Spectre einerseits den Champagnertest bestehen, also bremsen, ohne dass ein Tropfen aus den Kelchen der Gäste schwappt, andererseits dynamisches Tempo mühelos abbauen.

Der Kunde entscheidet

Perfekt. Kommen wir zur Anmutung und Qualität. Sie erreicht das erwartungs- und wunschgemäße Niveau. Leder, Holz, Lack erscheinen detailverliebt, satt, authentisch. Hinzu kommen die Bespoke Individualisierungen, die über haptisches Material bis zur Anpassung der Displayfarbe (der nicht besonders einfallsreichen Digitalinstrumente) reichen. Ehrlicherweise weniger überraschend als das ebenso komfortable wie dynamische Fahrverhalten des Dreitonners. Anpassen lässt sich auch die Rekuperation, zwischen simulierter leichter Motorbremse und One pedal-Fahren. Geladen wird mit maximal 195 kW, womit zehn bis 80 Prozent Ladezustand in einer guten halben Stunde erledigt ist. Zeit genug also, die 4.796 Sterne in den Türen sowie die 5.500 um das Typschild zu zählen. Oder sich mit dem digitalen Ökosystem "Spirit" sowie der exklusiven "Whispers"-App zu befassen, einem exklusiven Club, der neben Concierge Service redaktionelle Inhalte, eine rege Community oder eine virtuelle Garage bietet. Passend zur den Kunden, den sogenannten "Patrons" die im Schnitt gut 40 Jahre alt ist und zu mehr als einem Drittel von Fremdmarken kommen. Was Charles Rolls, den Elektrovisionär kaum verwundern würde.

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Fazit

Rolls-Royce first, electric second: so das Ziel des Superluxus-Coupé Spectre. Der erste Vollelektriker der Briten bringt alles mit, was die Marke ausmacht. Hochklassige Verarbeitung und Mühelosigkeit in allen Belangen. Tradition, ohne sich der Moderne zu verschließen, das Gefühl eines fliegenden Teppichs bei gesunder fahrdynamischer Erdung. Eigentlich erstaunlich, dass sie ihm jetzt erst die beiden sämig und geräuschlos antretenden E-Maschinen einpflanzen. Well done!

Technische Daten
Rolls-Royce Spectre
Grundpreis389.725 €
Außenmaße5475 x 2017 x 1573 mm
Verbrauch0,0 kWh/100 km
Die aktuelle Ausgabe
AUTO MOTOR UND SPORT 10 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 10 / 2024

Erscheinungsdatum 25.04.2024

148 Seiten