Das schwere Los mit der Bodenfreiheit
Wieder Starts aus der Boxengasse?

GP Brasilien 2023

Auf die zehn Teams wartet in Brasilien das sechste Sprint-Wochenende der Saison. Wieder stehen sie vor der schweren Aufgabe, die richtige Bodenfreiheit zu bestimmen. Nach den Disqualifikationen von Austin sollten sie gewarnt sein, nicht zu tief zu fahren.

Start - GP USA 2023 - Austin - Rennen
Foto: Wilhelm

Sprint-Wochenenden stellen die Teams seit 2021 vor eine besondere Herausforderung. Weil sie nur ein Training haben, um das passende Setup für die zwei Qualifikationen, den Sprint und das Hauptrennen zu bestimmen. Das Programm ist auf 60 Minuten komprimiert. Da kann man nicht alles testen, was man gerne testen würde. Runden mit und ohne DRS, mit vollem und leerem Tank, auf verschiedenen Reifenmischungen und mit variierenden Fahrzeugeinstellungen: Irgendwo muss man Abstriche machen. Vor diesem Hintergrund wird die Vorarbeit in der Fabrik noch wichtiger.

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Ab Freitagabend gehen die Autos ins Parc fermé. Ab diesem Moment sind keine Umbauten mehr erlaubt und die Rennwagen auf ihre Fahrzeughöhe festgenagelt. Die Bodenplatte muss den Belastungen ab der Qualifikation für das restliche Wochenende standhalten. Und über diesen Umstand stolperten zuletzt in Austin sowohl Ferrari als auch Mercedes.

An den Autos von Charles Leclerc und Lewis Hamilton nutzten sich die Titan-Schutzblöcke an der Planke des Unterbodens zu stark ab. Am Ferrari um 0,3 Millimeter zu viel, am Mercedes um zwei Millimeter. Beide wurden deshalb nach dem Hauptrennen aus dem Verkehr gezogen. Beide verloren wegen der Disqualifikation wichtige Punkte.

Jeder Millimeter zählt

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Teams am kommenden Wochenende in Brasilien vorgehen, um die Qualifikationen, das Mini-Rennen am Samstag und das Hauptrennen zu überstehen und stets ein legales Auto zu haben. Alle umtreibt die Festlegung der Bodenfreiheit. Je tiefer, desto schneller. Das ist bei Groundeffect-Autos ein Gesetz. Da können ein paar Millimeter gleich mal zwei, drei Zehntelsekunden ausmachen. Doch wer zu tief fährt, der schlägt mit dem Unterboden auf dem Asphalt auf. Und das kann böse Konsequenzen haben – wie bei Ferrari und Mercedes in Austin gesehen.

Mit nur einem Training als Referenz müssen die Ingenieure richtig kalkulieren und die passgenaue Prognose treffen, wie sehr sich die sogenannten Skid-Blocks, an denen die FIA bestimmt, wie dick die Bodenplatte ist, abnutzen werden. Jeder Fehltritt ist teuer. "Wir haben nach dem Training in Austin die Planke gecheckt und keinen Verschleiß festgestellt. Deshalb dachten wir, dass wir auf der sicheren Seite sind", schildert Mercedes-Pilot George Russell. "Erst im Rennen fährst du mit 100 Kilogramm Benzin und im Verkehr. Das Auto kommt in einen ganz anderen Zustand. Es reichen Kleinigkeiten, um die feine Linie zu überschreiten. Es kann schon reichen, wenn sich der Wind ändert."

Es hätte in dieser Saison auch andere erwischen können. Fernando Alonso erinnert sich: "In Baku war Alpine am Limit. Deshalb sind sie dort im Rennen aus der Boxengasse gestartet, um ihr Auto noch umzubauen. In Spa haben die Red Bull in Eau Rouge gelupft, um dort nicht zu hart aufzuschlagen. Das machst du, wenn du unsicher bist." Deshalb kann sich der Altmeister vorstellen: "Ich denke, die Teams werden in Brasilien konservativer vorgehen."

Interlagos nicht ganz so kritisch wie Austin

Der Grat ist schmal, auf dem die Ingenieure wandern. Denn wer zu konservativ ist, ist zu langsam. Und auch dann gibt es keinen Weg mehr zurück. Man steckt in der Falle. Tieferlegen geht unter Parc fermé ebenfalls nicht. Es ist ein Abwägen zwischen Sicherheit und Performance. Ein McLaren-Ingenieur kann sich vorstellen: "Nach den Vorkommnissen in Austin dürfte die FIA noch genauer hinschauen und mehr kontrollieren. Deshalb dürften die Teams ihre Autos tendenziell höherschrauben."

In Austin stolperten Ferrari und Mercedes über die Bodenwellen und Randsteine. "Wir waren einfach zu tief", gibt Mercedes zu. Auf keiner anderen Rennstrecke ist der Untergrund so wellig wie auf dem texanischen Kurs. Das erhöht naturgemäß die Gefahr, mit dem Unterboden aufzuschlagen. Wegen der vielen schnellen Kurven im ersten Abschnitt versuchten die Teams, ihre Autos möglichst tief einzustellen, damit sie auf dem Boden kleben. Obendrein legen sich in Austin Randsteine in die Ideallinie. Und die können gerade in schnellen Kurven den Unterboden abschaben.

Wenigstens dieses Problem ist in Brasilien kleiner. Es dominieren auf der 4,309 Kilometer langen Strecke die langsamen und mittelschnellen Kurven. Da legt man das Setup auf tendenziell mehr Federweg fest. Interlagos ist auch keine Rumpelpiste wie der Circuit of the Americas. Das entschärft die Situation, wenngleich die Rennstrecke in São Paulo ebenfalls mit einigen Bodenwellen aufwartet. Und denen kann man nicht ausweichen, weil sie sich auf der Rennlinie verteilen. Gerade für Ferrari und Mercedes ist das ein Problem. Beide haben in dieser Saison die größten Schwierigkeiten mit dem sogenannten "Bottoming".

Lance Stroll - Fernando Alonso - Aston Martin - GP USA 2023 - Austin - Formel 1
Wilhelm

Aston Martin startete in Austin freiwillig aus der Boxengasse, um für das Rennen das Setup verändern zu können.

Szenario: Start aus Boxengasse

Alle Teams sind gewarnt, es nicht zu übertreiben. Die Regelhüter schauen genau hin. Die FIA kann über Sensoren feststellen, wie stark die Autos auf dem Asphalt aufsetzen. Und daraus schließen, bei wem es eng mit der Abnutzung der Schutzbleche am Unterboden werden könnte. Die Überprüfung erfolgt zwar prinzipiell nach dem Zufallsprinzip. Doch die FIA kennt ihre Pappenheimer. Sie weiß aus früheren Kontrollen, wer am Limit operiert und wer sich mehr Spielraum verschafft. Austin sollte allen eine Lehre sein. Die Disqualifikationen hoffentlich abschreckend wirken.

Vielleicht wiederholt sich in Brasilien, was wir bereits in Aserbaidschan und in den USA erlebt haben. In Baku startete Alpine freiwillig aus der Boxengasse, um das Auto anzuheben. Ansonsten wäre man Gefahr gelaufen, in einen nicht regelkonformen Zustand nach dem Rennen abzudriften. Aston Martin verstieß in Austin gegen die Parc-fermé-Bestimmungen, weil man mit nur einem Training das falsche Setup wählte. Die Ingenieure schraubten das Auto tiefer, was Fernando Alonso und Lance Stroll im Rennen beflügelte.

Auch Haas führte Änderungen durch. Die US-Autos wurden mit größeren Flügeln bestückt. Die Beispiele könnten Schule machen. Nico Hülkenberg glaubt: "Es ist auf jeden Fall ein Szenario, mit dem sich die Teams beschäftigen." Gerade für Teams, die sich beim Setup verzockt haben und aus den hinteren Reihen starten, könnte es sich lohnen, die Abstimmung zu verändern und aus der Boxenstraße loszufahren. Weil man nichts zu verlieren hat. In Brasilien könnte noch ein anderer Umstand hinzukommen. In der Qualifikation könnte es regnen. Das könnte den ein oder anderen zurückwerfen, und dann zu veranlassen, mit einem neuen Setup im Rennen zu pokern.