Nissan Ariya 87 kWh im Test
Kann der Ariya an die Erfolge des Leaf anknüpfen?

Der Leaf war einst das meistverkaufte E-Auto. Eher unbekannt dagegen ist der zweite Stromer von Nissan, der Van NV200 Evalia. Der Ariya soll der nächste Elektro-Bestseller der Marke werden – diesmal in der Boom-Klasse der E-SUV.

Nissan Ariya
Foto: Achim Hartmann

Was zählt zum Wesenskern eines Autos, was ist Beiwerk oder gar Blendwerk? Natürlich werfen nicht erst E-Autos wie der Nissan Ariya diese Fragen auf. Gerade bei ihnen trennt sich allerdings das eigentlich Zusammengehörige deutlich in den elektrischen Antrieb samt Stromspeicher sowie den Rest. Unter "Rest" fällt uns spontan das freudvolle Fahren in all seinen Facetten ein. Doch möglicherweise adressiert ein neues Strom-Mobil gar nicht primär uns, vielmehr ein Zielpublikum, das XL-Bildschirme bestaunt, das Einbinden von Social-Media-Accounts beklatscht und Witze erzählende Sprachassistenten bejubelt.

Der große E-Ratgeber

Man könnte derlei als Gimmicks bezeichnen, und diese nehmen einen immer höheren Stellenwert ein. Wobei sie im Nissan Ariya nicht nur aus der digitalen Welt stammen. Das höchst dingliche Cockpit etwa zieht den Blick beim Einsteigen magnetisch an: Seine samtige, Wildleder nachahmende Oberfläche will bewundert und die holzartige Zierleiste im Wortsinn begriffen werden. Wobei man beim näheren Betrachten feststellt, dass sich in der Maserung die Umrisse von Bedienfeldern abzeichnen – die Steuerung der Klimaanlage. Sie leuchten auf, sobald man den Startknopf betätigt. Beeindruckend. Wie es sich wohl anfühlt, die Flächen zu drücken?

Man meint tatsächlich, Holz zu erspüren. Wobei sich erst etwas rührt, sobald man feste drückt. Erstaunlich feste. Fest genug ist es erst, wenn man eine Art vibrierende Rückmeldung im Finger fühlt. Ablenkungsfrei wird das später beim Fahren nicht funktionieren. Weil sich die Flächen nicht ertasten lassen, was ja einen Teil des Design-Reizes ausmacht, aber einen Kontrollblick nach sich zieht. Und weil Luftverteilung und Sitzklimatisierung eben doch via Touchscreen bedient werden müssen.

Google kennt den Ariya kaum

Nissan Ariya
Achim Hartmann
Der Bezug des Armaturenbretts ahmt Wildleder nach und fühlt sich ähnlich samtig an – ist aber vegan, logisch.

Wo wir schon auf dem Display herumfingern: Es wäre an sich groß genug, um die Straßenkarte hochaufgelöst anzuzeigen. Wer jedoch landschaftlich reizvolle Ortsverbindungssträßchen entdecken will, muss sich schon sehr weit ins Geschehen zoomen – und verliert dann den Überblick über die umliegenden Dörfer. Zudem fällt das Infotainment nicht gerade durch fixe Rechnergeschwindigkeit auf.

Wer mit der Verstellerei alternativ die Google-Sprachbedienung beauftragen will, stellt bald fest: Sie findet sich in der Welt des Internets besser zurecht als im Ariya. Also erkunden wir das Armaturenbrett besser selbst weiter. Was wohl dieser Knopf hier bewirkt?

Der Druck darauf lässt eine Art Konsolen-Tischchen herausfahren. Man könnte darauf ein paar Notizen erledigen oder kurz etwas ablegen. Allzu viele Einsatzmöglichkeiten fallen einem spontan nicht ein. Wohl aber für das darunterliegende Staufächlein. Ein weiteres findet sich unter der elektrisch verschiebbaren Mittelkonsole; es ist allem Anschein nach fürs Smartphone vorgesehen. Praktisch, denkt man sich, bis man dieses später, beim Fahren, aus dem Fußraum angeln muss – das flache Mobiltelefon rutschte beim Bremsen über die viel zu niedrige Brüstung.

Nun ja, man hat sich immerhin Gedanken gemacht um das Thema Variabilität; jene sollte einem E-SUV wie dem Ariya nicht fremd sein. Schließlich handelt es sich bei diesen raumgreifenden Modellen um Familienwagen, die mit ihrem nicht gerade dezenten Auftreten eine gewisse Erwartungshaltung an die Transportkapazität schüren.

Was also hat der hintere Bereich zu bieten? Die Sitze sind straff gepolstert, mit rutschigem Kunstleder bezogen und bieten wenig Seitenhalt. Zudem lassen sie sich nicht verschieben, lediglich ihre Lehnen im Verhältnis von 60 zu 40 Prozent umklappen. Das ergibt eine nahezu ebene Kofferraumfläche und ein Volumen von bis zu 1775 Litern. Außerdem gefällt das große Fach unter dem Ladeboden. Letzterer ist zweigeteilt, ein Element lässt sich als Trennwand einbauen. Ganz nett also, dennoch weit entfernt von den Möglichkeiten eines Hyundai Ioniq 5 etwa.

Keine seltenen Erden

Nissan Ariya
Achim Hartmann
Als Antrieb dient ihm eine Drehstrom-Synchronmaschine. Sie leistet 178 KW und entwickelt ein maximales Drehmoment von 300 Nm.

Der wäre ein Konkurrent und gibt nicht nur bei der Variabilität den Ton an – mit seiner 800-Volt-Technik ist er ebenso voll auf der Höhe der Zeit. Der Ariya dagegen setzt auf die standardmäßig verbreitete 400-Volt-Variante. Als Antrieb dient ihm eine Drehstrom-Synchronmaschine. Statt eines Permanentmagneten besitzt sie auf dem Rotor eine stromdurchflossene magnetisierende Spule (Elektromagnet). Was unter Umwelt-Gesichtspunkten bedeutet: Man benötigt hierfür keine seltenen Erden.

Weil das Magnetfeld des Rotors von der eingesetzten Spannung abhängt und nicht permanent anliegt, lässt es sich gut regeln – auch im Sinne der Leistungsentfaltung. Hier hat die von Nissan verwendete E-Maschine den Vorteil, dass das Drehmoment und damit der Schubeindruck bei hohen Drehzahlen weniger als bei anderen bestromten Motoren nachlässt. Dementsprechend ist eine gewisse Vitalität zu erwarten.

Möglicherweise sogar eine eher sportlich ausgerichtete Leistungscharakteristik? Zumindest hält der Ariya wenig vom tumben Herausschleudern aller Leistungsreserven beim Gasgeben, das viele Konkurrenzmodelle praktizieren.

Träger Antritt

Nissan Ariya
Achim Hartmann
Von 0 auf 100 km/h vergehen 8,6 s. Maximal erreicht er 160 km/h.

Vielmehr setzt sich der Nissan bei Schubanforderung alles andere als euphorisch in Bewegung, legt dann aber zumindest spürbar nach – ohne jedoch die Erwartungshaltung zu erfüllen, die 242 PS entfachen. Im über 400 Kilogramm leichteren Konzern- und Technik-Bruder Renault Megane E-Tech wirkt der praktisch gleich aufgebaute, lediglich etwas schwächere Antrieb deutlich munterer.

Dass der Ariya aus dem Stand verhalten lospowert, entlastet zumindest die Traktion. Damit hat der Fronttriebler nämlich seine liebe Mühe, sobald die Vorderräder nicht geradeaus zeigen oder die Straße feucht ist: Die Reifen drehen überfordert durch, bis das ESP harsch einschreitet. Ähnlich übrigens beim Herausbeschleunigen aus Kurven.

Dabei suggeriert der Nissan mit seinem niedrigen Schwerpunkt und dem straffen Fahrwerk dynamische Absichten. Vordergründig. Doch tatsächlich ist die Federung vorwiegend hoppelig und zeigt erst Interesse an Unebenheiten, wenn man das Tempo anzieht. Dagegen wiederum wehrt sich der Ariya, sobald Kehren ins Spiel kommen: Schon beim Anbremsen schiebt das hohe Gewicht, irritiert der sich faserig verhärtende, gleichzeitig indifferente Druckpunkt. An den Verzögerungswerten selbst ist dagegen nichts auszusetzen. Wohl aber am Kurvenverhalten.

Ausfallschritt mit dem Heck

Wer mit zu viel Elan einlenkt, überlastet die Vorderachse und drängt den E-SUV ins raumgreifende Untersteuern. Geht man daraufhin vom Gas, erhält das Heck einen Impuls zum Eindrehen – je nach Lastwechsel bis hin zum Ausfallschritt, den das ESP plump einfängt. Lust auf eine flotte Runde macht das nicht. Zumal einen die Lenkung über die Grip-Verhältnisse an der Vorderachse im Unklaren lässt, stattdessen mit überzogenen Rückstellkräften sowie inhomogener Lenkunterstützung unnötig viel Arbeit macht.

Auf der Fernstraße mit betulichen Radien fühlt sich der Ariya besser aufgehoben. Natürlich stört auch hier die oberflächlich ansprechende Federung. Doch der Geräuschkomfort ist zumindest bis etwa Richtgeschwindigkeit gut. Hier wie auf der Landstraße fällt eher ein Verhalten der Lenkung lästig: Vor allem im Sport-Modus zieht es sie magnetisch in ihre Mittelposition und man muss enervierend stark gegenhalten.

Ohnehin sollte man trotz Leistungseinschränkung besser "Eco" vorwählen. Nur hier gibt es den praktischen Freilauf, mit dem man den Ariya ohne Stromeinsatz rollen lassen kann, sobald es leicht bergab geht – die effizienteste Art, ein E-Modell zu bewegen. Wer nun rekuperieren möchte, muss den Getriebe-Wählhebel auf "B" stellen; Lenkradpaddel hierfür finden sich nicht, geschweige denn verschiedene anwählbare Stufen. Diese sind stattdessen an die Fahrmodi zwangsgebunden.

365 Kilometer reale Reichweite

Nissan Ariya
Achim Hartmann
300 kW wie hier im Bild muss die Ladesäule nicht unbedingt bringen. Es reicht, den Ariya an eine CCS-Version mit 150-kW-Abgabe zu stöpseln.

Immerhin gibt es eine Art One-Pedal-Drive, zu aktivieren über eine Taste in der Mittelkonsole. Damit lassen sich Beschleunigungs- und Bremswünsche sozusagen alleine mit dem rechten Fuß abschicken. Lupft man ihn komplett, kommt der Nissan allerdings nicht zum Stehen. Das können andere überzeugender.

Voll dabei ist der Testwagen immerhin bei der Batteriekapazität mit netto 87 kWh (brutto 91). Großer Stromspeicher = große Reichweite, diese Gleichung stimmt auch hier, zumal der schwere Wagen verhältnismäßig zurückhaltend Strom zieht. Nimmt man unseren Testverbrauch von 25,2 kWh auf 100 Kilometer zum Maßstab, dann surrt der E-SUV theoretisch bis zu 365 Kilometer weit. "Theoretisch" deshalb, weil man schon sehr mutig sein muss, um die Batterie völlig zu entleeren – um genau an einer freien Ladesäule auszurollen. Auf bis zu 466 Kilometer ließe sich der Radius erweitern, sobald man den Gasfuß stark beaufsichtigt.

In einer guten Stunde wäre der leer gefahrene Akku an einer CCS-Säule wieder gefüllt (siehe dazu die Ladekurve, bitte auf Seite 35 zurückblättern). Vier Stunden waren es an unserer redaktionsinternen Wallbox; diese liefert bis zu 22 kW an drei Phasen, wobei der Ariya das gesamte Angebot nutzt – in der hier getesteten Version. Der Basis-Nissan dagegen muss sich mit einem kleineren Akku zufriedengeben, der theoretisch einphasig mit maximal 7,4 kW Strom ziehen kann. Wobei dieser Wert an Ladesäulen mit 11 kW auf 3,7 kW zusammenschrumpft. Das kann man heute nur noch als Heimzapfer akzeptieren, wenn also der E-Wagen über Nacht an der eigenen Wallbox hängt. Jene immerhin hat der Hersteller im Angebot, sie lässt sich beim Konfigurieren hinzubuchen.

Nochmals kalkulieren, bitte

Apropos konfigurieren: Die Basisversion kostet 40.312 Euro, Förderung eingerechnet. Zu dieser Variante können wir Ihnen schon aufgrund des Ladedefizits sowie der eingeschränkten Reichweite kaum raten. Allenfalls zum hier getesteten Ariya samt hoher Reichweite und Wallbox-Kompetenz. Ihn gibt es sehr gut ausgestattet ab 56.312 Euro – ja, der Zuschuss ist bereits abgezogen. Derart teuer eingepreist dürfte der Neue wohl kaum eine breite Masse ansprechen. Seine Aussichten auf einen Bestseller nach Art des Leaf sind eher mau.

Aus elektrotechnischer Sicht lassen sich dem Nissan nur die ungenügende Ladestrategie der Basisvariante sowie die verworrene Rekuperationsstrategie vorwerfen. Betrachtet man den Nissan Ariya allerdings gesamtheitlich als Automobil, dann widmet er sich zu stark dem vordergründigen Beiwerk. Bei der Hauptsache dagegen, etwa bei der Abstimmung der Fahrwerks-Komponenten, bleibt reichlich Luft nach oben. Nissan sollte hier den eigenen Anspruch der selbstbewussten Kalkulation anpassen. Und Letztere gleichzeitig überdenken.

Umfrage
Wäre der neue Nissan Ariya etwas für Sie?
7592 Mal abgestimmt
Ja, echt cool!Nein, nichts besonderes!
Vor- und Nachteile
Karosserie
Gute Verarbeitung
Enorme Beinfreiheit im Fond
Großes maximales Kofferraumvolumen
Schickes Bedienkonzept mit eingelassenen Tasten ...
... die Kontrollblick benötigen
Schlechte Übersichtlichkeit nach hinten
Eingeschränkte Variabilität
Hohes Gewicht
Eher geringe Zuladung
Fahrkomfort
Gute Schalldämmung bis Richtgeschwindigkeit
Mäßiger Federungskomfort
Poltriges Abrollen
Sitze mit geringem Seitenhalt und straffer Polsterung
Antrieb
E-Motor mit spürbarem Drehwillen ...
... aber mit nur sehr zögerlichem Anfahr-Elan
Fahreigenschaften
Stabiler Geradeauslauf
Inhomogen unterstützte und mitteilungsarme Lenkung
Starkes Einlenk- Untersteuern
Lastwechselanfälligkeit
Sicherheit
Zahlreiche Assistenzsysteme
Solide Bremsleistung
Schlechte Traktion
Späte, harte ESP-Eingriffe
Diffuses Bremspedalgefühl
Umwelt
Niedriger Verbrauch
Rekuperation nur eingeschränkt vorwählbar
Kosten
Sehr gute Serienausstattung
Voll förderfähig ...
... dennoch hoher Preis
Kaum Möglichkeiten der Individualisierung

Fazit

Großer Akku, hohe Reichweite, effizienter Antrieb – elektroseitig wäre der Ariya mehr Sterne wert, aber er enttäuscht beim Fahren: mäßiger Komfort trifft auf Lastwechsel-Anfälligkeit. Beispielsweise.

Technische Daten
Nissan Ariya 87 kWh Evolve Pack
Grundpreis56.490 €
Außenmaße4595 x 1850 x 1650 mm
Kofferraumvolumen468 bis 1350 l
Höchstgeschwindigkeit160 km/h
0-100 km/h8,6 s
Verbrauch18,2 kWh/100 km
Testverbrauch25,2 kWh/100 km
Die aktuelle Ausgabe
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024
AUTO MOTOR UND SPORT 11 / 2024

Erscheinungsdatum 08.05.2024

148 Seiten